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sie nicht, dass in ihrer Dyade ein Konflikt angelegt war, den man nur teuflisch nennen konnte.

      An diesem Abend spielten sie Erfinder. Beide waren dabei, eine elektrische Bahn zu entwickeln, die der von Siemens & Halske um einiges überlegen war.

      »Vor allem brauchen wir nur eine Schiene«, betonte Ludolf Tschello immer wieder. »Und nur zwei Räder für einen Waggon und nicht vier.«

      »Und nur einen Oberleitungsdraht«, ergänzte Hermann Mahlgast.

      Auf die Idee zu ihrer Einradbahn waren sie gekommen, als Ludolf einen großen Kreisel geschenkt bekommen hatte. Zog man den mit einer Schnur auf, lief er einige Minuten lang, ohne ins Trudeln zu geraten. Baute man einen mannshohen Kreisel aus Eisen und sorgte mit Hilfe eines Elektromotors dafür, dass er sich in der Minute Hunderte von Malen drehte, und stellte diesen Kreisel auf einen Wagen, der vorn und hinten genau in der Mitte des Kastens ein Rad hatte, dann, so dachten sie, war es völlig unmöglich, dass dieser Wagen umkippte. Die Schwungmasse hielt ihn in jedem Fall im Gleichgewicht. Die beiden Räder waren konkav, also nach innen gewölbt, und die Schiene konvex, also eine unten auf Stützen ruhende Röhre.

      Ludolf Tschello war für die Zeichnungen und Berechnungen zuständig, Hermann Mahlgast hatte das Handwerkliche zu erledigen. Mit Hilfe zweier etwas verkürzter Garnrollen und Brettchen, die von den Zigarrenkisten seines Vaters stammten, hatte er einen Straßenbahnwagen gebaut. Mangels seitlicher Stützen – die waren erst noch zu konstruieren – kippte das Gefährt im Ruhezustand natürlich immer um, aber Hermann Mahlgast konnte das wenig verdrießen.

      »Pass mal auf, wie der sich in der Horizontalen hält, wenn wir deinen Kreisel erst obendrauf montiert haben.«

      »Hauptsache, du hast die Achse so gebohrt, dass er nicht eiert.« Ludolf Tschello wusste, was Siemens an seinem Halske hatte. Ohne erstklassigen Mechaniker funktionierte nichts.

      Dann hatten sie Grund zum Jubeln, denn ihre Bahn legte, nachdem Hermann Mahlgast sie angeschoben hatte, tatsächlich gute 2,50 Meter auf dem Flur zurück, ehe sie umkippte.

      »Lag das nun am Schwung, dass sie so weit gefahren ist, oder an der Wirkung des Kreisels?«, fragten sie sich, konnten aber nicht weiter experimentieren, da Ludolfs Mutter nun in die Hände klatschte und rief, das Konzert würde beginnen.

      Man nahm Platz und setzte sich in die Pose »Kunstgenuss und Verzückung«. Ernst Moritz Tschello trat ein, verbeugte sich, nahm den Beifall geschmeichelt entgegen und begann, ebenso hingebungsvoll wie professionell die Serenata a un coro di violini von Johann Jakob Walther zu spielen.

      Als genügend geklatscht worden war, setzte er zu einer kleinen Rede an: »Für die zweite Darbietung dieses Abends, liebe Freunde des Hauses, liebe Anverwandte, haben meine Frau Gemahlin und ich keine Kosten und Mühen gescheut, um bei den Göttern ein Wesen loszueisen, das ihr absoluter Liebling ist und das sie mit einer Stimme ausgestattet haben, wie sie seit Jenny Lind, der schwedischen Nachtigall, keiner Frau mehr geschenkt ward. Nun …«

      Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment stürmte eine überaus korpulente ältere Dame in den kleinen Konzertsaal, ein Dragoner, wie die Berliner sagten. Und sofort legte sie los.

      »Warum werde ich denn nicht eingeladen, wenn hier ein Konzert stattfindet? Das ist ja eine Gemeinheit ersten Grades! Wenn ich nicht durch Zufall gerade vorbeigekommen wäre, dann … Ernst Moritz, hol mir gefälligst einen Sessel!«

      Derjenige, der neu war bei den Tschellos, schwieg betreten, zumal der Hausherr nun devot herumwieselte wie ein Oberkellner in einem Grand Hotel, während die Kundigen nur bedeutungsvoll schmunzelten. Sie kannten die Dame, die da wieder einmal ihren großen Auftritt hatte: Es war Emilie Ludewig, geborene Tschello, die Erbtante aus Wassersuppe am Hohennauener See. Sie hatte einen Fabrikanten aus Rathenow geheiratet und war, als der vom Herrn heimgeholt wurde in die Ewigkeit, eine reiche Frau geworden. Da sie in ihrem Testament ihren Neffen Ernst Moritz und dessen Sohn Ludolf zu ihren Erben eingesetzt hatte, konnte sie sich bei ihren Besuchen in Berlin buchstäblich alles erlauben. Sie plumpste in den Sessel, den ihr der Neffe herangeschoben hatte.

      Sie sah ihn an. »Und …?«

      »Ja, Tante Emilie?«, fragte Ernst Moritz Tschello schmelzend wie ein Bariton.

      »Guck nicht so wie ein Schoßhündchen.« Sie lachte schrill auf. »Hol mir was zu trinken! Aber was Vernünftiges. Dass ich in Wassersuppe geboren bin, heißt ja nicht, dass ich nur Wasser trinke.«

      Schon war Ludolf Tschello mit einem Glas Sekt zur Stelle.

      »Zum Wohl, liebe Tante Emilie.«

      »Danke.« Sie leerte das Glas mit einem Zug und rülpste ungeniert.

      Auguste Tschello zuckte zusammen, denn sie wusste, dass Tante Emilie unter dem litt, was die Ärzte schamhaft als Flatulenz bezeichneten. Hoffentlich hatte sie nicht wieder Erbsen gegessen wie bei ihrem letzten Besuch.

      »Dürfen wir fortfahren?«, fragte Ernst Moritz Tschello.

      »Wohin denn?« Sie lachte schallend über ihren nicht eben originellen Scherz.

      Ihr Neffe musste ernst bleiben. »Ins Land der Träume, liebe Tante.«

      »Gut, sehr gut. Aber spielst du heute bitte mal das Instrument, das nach dir benannt worden ist?« Jetzt lachte sie so dröhnend, dass der empfindsamen Dichterin neben ihr das Trommelfell zu platzen drohte.

      »Wir haben leider kein Cello zur Hand«, bekannte ihr Neffe und senkte den Blick. »Aber wenn ich dir zu Ehren ein kleines Stück von Mozart auf der Geige …«

      »Ja, ich bitte darum.«

      Während sich Ernst Moritz Tschello mühte, sein Bestes zu geben, schloss Tante Emilie die Augen und ließ in regelmäßigen Abständen leise einen entfleuchen. Als ihr Neffe die Extradarbietung ihr zu Ehren beendet hatte, erwachte sie und klatschte begeistert.

      Ernst Moritz Tschello begann nun von vorn: »Für die zweite Darbietung dieses Abends, liebe Freunde des Hauses, liebe Anverwandte, liebste Tante Emilie, haben meine Frau Gemahlin und ich keine Kosten und Mühen gescheut, um bei den Göttern ein Wesen loszueisen, das ihr absoluter Liebling ist und das sie mit einer Stimme ausgestattet haben, wie sie seit Jenny Lind, der schwedischen Nachtigall, keiner Frau mehr geschenkt ward. Nun, eine Frau ist unsere Cécile noch nicht, aber sie singt und tanzt bereits jetzt so hinreißend, dass sie zu sehen uns jetzt schon viele Silbergroschen wert sein dürfte. Da wir aber heute Abend keinen Eintritt nehmen, möchte ich Sie bitten, das Geld, das Sie durch unsere Einladung sparen, in diesen Zylinderhut hier zu werfen. Alles kommt dem Waisenhaus zugute, das meine Frau unter ihre Fittiche genommen hat … Nun aber zu einem Stern am Theater- und Konzerthimmel, der gerade am Aufsteigen ist und in wenigen Jahren alles überstrahlen wird: unsere Cécile.«

      Die Kleine war wirklich hinreißend, nur vertat sie sich bei einem von Ernst Moritz Tschello vertonten Goethe-Gedicht – Die Freude – und sang in der zweiten Strophe, wo es heißen musste: Sie schwirrt und schwebet, rastet nie, wohl irritiert vom Anblick eines vom Rost zerfressenen Säbels an der Wand, mit dem einer von Tschellos Vorfahren 1758 bei Zorndorf gekämpft hatte, ganz deutlich »rostet nie«. Die Zuhörerinnen und Zuhörer, die den vorher ausgeteilten Text vor sich liegen hatten, lachten zwar nur verhalten und keineswegs höhnisch, doch das reichte, die junge Künstlerin die Contenance verlieren zu lassen. Sie stürzte aus dem Raum, um sich irgendwo zu verkriechen. Die Türen, die vom Flur abgingen, waren verschlossen – bis auf eine, und die gehörte zu Ludolf Tschellos Kinder- beziehungsweise Arbeitszimmer. Da man vor Beginn des Konzerts die Lampe gelöscht hatte, übersah sie die Einradbahn, die auf dem Teppich verblieben war. Ein Krachen – und Cécile hatte mit ihrem rechten Füßchen die große Erfindung der beiden Knaben zermalmt.

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