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die Stadt und heftete sich an die Fersen schöner Frauen und Mädchen, oder er saß zu Hause in seinem Zimmer, spielte Klavier oder entwarf kühne technische Bauwerke, so etwa riesige Türme aus Stahlträgern oder eine hängende elektrische Bahn, deren Rollen auf dicken Stahlseilen liefen, die hoch über der Spree aufgehängt waren. Von Charlottenburg bis Oberschöneweide sollte sie gehen.

      Am 16. Mai 1881 fuhr in Lichterfelde, das damals noch nicht zu Berlin gehörte, die erste öffentlich betriebene elektrische Straßenbahn im Linienverkehr. Die Strecke zwischen dem Bahnhof an der Anhalter Bahn und der Hauptkadettenanstalt an der Finckensteinallee hatte eine Länge von etwa 2,5 Kilometern. Die Spurweite betrug einen Meter, und der Strom wurde den Motoren über die beiden Fahrschienen zugeführt. 180 Volt Spannung waren es. Der behördlichen Anordnung gemäß sollte die durchschnittliche Geschwindigkeit fünfzehn Stundenkilometer betragen und durfte an keiner Stelle zwanzig Kilometer pro Stunde übersteigen. Zwanzig Personen fasste der Wagen.

      »Vata, wo is ’n det Pferd?«, fragte ein Junge, der staunend stehen geblieben war.

      »Das befindet sich sozusagen unter dem Wagenkasten.«

      »Isset überfahrn worn?«

      »Nein, das nennt man jetzt Motor. So ein Elektromotor ist viel stärker als ein richtiges Pferd.«

      Der Wagenführer, der zugleich auch Schaffner war, achtete darauf, dass die Säbel und Degen der Offiziere ausgehakt waren, weil man ansonsten damit rechnen musste, dass die Garderoben der Damen Schaden nahmen. Sollte es losgehen, rüttelte er am Seil einer Glocke, die am Führerstand auf der offenen Plattform über ihm hing. Nachdem er gebimmelt hatte, drehte er an der Kurbel des Fahrschalters, und die Bahn setzte sich langsam in Bewegung.

      Noch einmal wurde kräftig gebimmelt, denn wieder einmal spielten Kinder mitten auf den Schienen. Auch manch Erwachsener unterschätzte die Geschwindigkeit des Gefährts.

      Ein gerade vorüberzuckelnder Droschkenkutscher schüttelte den Kopf. »Bevor das gefährliche Ding sich breitmacht, muss der alte Zentralfriedhof wieder in Betrieb genommen werden – wegen der Verkehrsopfer.«

      Ein wenig abseits unter einer alten Eiche stand Werner Siemens und verfolgte das Treiben um seine Straßenbahn mit gemischten Gefühlen.

      Erich Abendroth, der ihn auch an diesem Tage nach Lichterfelde begleitet hatte, sah ihn prüfend an. »Es scheint mir, als könnten Sie sich über den Erfolg Ihrer Straßenbahn gar nicht so recht freuen.«

      »Wie denn auch?«, fragte Werner Siemens. »Zwar wird man nun nicht mehr anzweifeln können, dass sich der elektrische Bahnbetrieb bestens für die Praxis eignet, aber dies hier ist nicht mein Traum, das ist doch nur eine von ihren Säulen und Längsträgern auf den Erdboden verlegte Hochbahn – und die ist das Eigentliche, um das es mir geht.« Und mit der Schuhspitze zeichnete er in den Sand, wie er sich die Sache vorstellte.

      Diese Zeichnung versetze Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello anfangs in helles Entzücken, als sie, kaum dass Siemens und sein Ingenieur weitergegangen waren, den Platz unter der Eiche besetzten.

      »Das ist ja alles nur eingleisig«, sagte Ludolf Tschello, von der simplen Konstruktion doch ein wenig enttäuscht.

      »Zwei Längsträger mit ihren Säulen nebeneinander wären zu teuer«, meinte Hermann Mahlgast. »Man kann ja auch Ausweichen bauen.«

      Ludolf Tschello blieb weiter sehr kritisch. »Und nur ein einziger Wagen oben auf den Schienen, da passen doch viel zu wenige Menschen rein. Wenn ich da an die Stadtbahnzüge denke, wie lang die sind.«

      »So ein kleiner Elektromotor hat nun mal nicht so viel Kraft wie eine große Dampfmaschine auf Rädern«, belehrte ihn der Freund.

      »Dann muss man stärkere Elektromotoren bauen«, forderte Ludolf Tschello.

      Hermann Mahlgast lachte. »Dann sag das doch mal dem Herrn Siemens, da steht er ja noch.«

      Das traute sich Ludolf Tschello dann doch nicht, aber vielleicht hätte er es getan, wenn sich in diesem Augenblick nicht ein Stückchen weiter ein Riesengeschrei erhoben hätte. Was war geschehen? Ein Droschkengaul hatte mit einem seiner vorderen und einem seiner hinteren Beine die verschieden gepolten Straßenbahnschienen so unglücklich berührt, dass der Strom durch seinen Körper floss. Da war er dann durchgegangen, und der Droschkenkutscher hatte das Tier erst hundert Meter weiter wieder bändigen können. Aber nicht er tobte, sondern sein Fahrgast.

      »Das ist ja eine Unverschämtheit, die Straßen hier unter Strom zu setzen!«, rief er und wäre Werner Siemens gegenüber fast handgreiflich geworden. »Ich hätte mir durch Ihre Schuld fast das Genick gebrochen.«

      Erich Abendroth legte dem Mann die Hand auf die Schulter. Man kannte sich von vielen Scharmützeln her. »Nun beruhigen Sie sich doch mal, Herr Grasmuck. Es war doch eine sehr schöne Vorführung.« Er war sich sicher, dass Georg Grasmuck den Vorfall inszeniert hatte, um einen weiteren Trumpf im Kampf gegen die elektrischen Bahnen in der Hand zu haben.

      Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello fanden das Ganze viel spannender als einen Abenteuerroman. Sie hörten auch, wie Werner Siemens sagte, bei seiner Pfeilerbahn wäre das nicht passiert.

      »Doch – bei Pegasus!«, rief Ludolf Tschello.

      Erich Abendroth lachte und fragte die beiden Obertertianer, ob sie sich denn für elektrische Bahnen interessieren würden.

      Aber ja, diese seien ihr großer Traum. »Deswegen sind wir ja auch nach Lichterfelde rausgekommen, und wir …«

      Grasmuck unterbrach sie. »Ich werde heute noch Anzeige bei der Polizei erstatten, Herr Siemens. Stellen Sie sich mal vor, Kinder erleiden einen Stromschlag und werden getötet.«

      »Ein Kind macht doch nicht so lange Schritte.«

      »Aber zwei Kinder können sich an der Hand halten.«

      »Und beide sind zufällig barfuß …« Abendroth verzog das Gesicht.

      »Weg mit der Elektrizität von unseren Straßen!«, rief Grasmuck.

      Werner Siemens nickte. »An sich haben Sie ja recht, aber solange man mich keine Pfeilerbahn bauen lässt …« Er sah zu den Bäumen hinauf. »Es sei denn, man hängt zwei Fahrdrähte oben auf und lässt das mit den Schienen.«

      »Sie meinen, wir bauen einen Elektromotor in eine Kutsche ein?«, fragte Abendroth.

      Siemens nickte. Die Idee zu dem, was man später Oberleitungs- oder kurz Obus nennen sollte, hatte er schon lange.

      »Und wenn sich nun zwei Elektrowagen begegnen?«, fragte Hermann Mahlgast.

      »Gut, der Junge!«, rief Abendroth. »Ja, was machen wir dann, wenn sich zwei Wagen begegnen?«

      Hermann Mahlgast dachte nach. »Es muss vier Fahrdrähte geben, zwei für jede Richtung.«

      »Nein.« Ludolf Tschello hatte eine bessere Lösung. »Bei nur zwei Drähten fährt ein Wagen zur Seite und kappt seine Kontakte vorübergehend, damit der andere vorbei kann.«

      »Ihr seid ja großartige Fachleute«, lobte Werner Siemens sie. »Herr Abendroth, geben Sie bitte Order, dass die beiden jungen Herren so lange umsonst mit der Straßenbahn fahren können, wie sie wollen.«

      In jedem Vierteljahr luden die Tschellos alle Freunde und Verwandte zu einem kleinen Konzert in ihre Wohnung ein. Auch Menschen, die klassische Musik eher als Folter denn als Genuss empfanden, beeilten sich, dieser Einladung Folge zu leisten, denn nur der eigene Tod wurde von Ernst Moritz und Auguste als Hinderungsgrund anerkannt, alles andere galt als Affront und führte zum Abbruch der Beziehungen.

      Hermann Mahlgast litt zwar immer gewaltig, wenn Vater Tschello unerbittlich lange »das Wimmerholz bearbeitete«, so sein Ausdruck für das Geigenspiel, doch er folgte seinen Eltern ein jedes Mal ohne Murren, denn vor und nach dem Konzert war immer noch genügend Zeit, mit dem Freund zu spielen.

      Noch immer waren Hermann Mahlgast und Ludolf Tschello unzertrennlich. Was sie wohl derart aneinanderbinden würde, fragten sich viele. Der Hauptgrund war vermutlich, dass sie sich zu

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