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er erbost darauf, ein anderes Männchen in seinem Revier zu sehen.

      «Grüß Gott», murmelte Mannhardt, weil er wusste, dass sich Schönbier darüber ärgerte. «Was gibt es Neues?»

      «Leichenfund in Schmöckwitz. Wir müssen raus.»

      «Gut, fahren wir. Aber Yaiza soll mit.» Mannhardt grauste es davor, so lange mit Schönbier allein im Wagen zu sitzen.

      Zu dritt machten sie sich auf den Weg in Berlins südöstlichsten Zipfel. Schon auf dem Parkplatz kam es zur ersten kollegialen Auseinandersetzung. Wer sollte am Steuer des geleasten Dienstwagens sitzen? Mannhardt wollte nicht. Als ehemaliger West-Berliner war er noch immer ein wenig traumatisiert, wenn es darum ging, im gewesenen Ost-Berlin am motorisierten Individualverkehr teilzunehmen. Nie vergaß er das barsche «Fahren Sie mal rechts ran!» und die Angst vor stundenlangen Verhören, an deren Ende Bautzen stehen konnte.

      Yaiza Teetzmann als Mädchen aus Marzahn kannte diese Ängste nicht, hatte aber eine instinktive Abneigung gegen alle Westautos. Ihr Vater, SED-Funktionär und ein sogenannter Zweihundertprozentiger, hatte sie in diesem Sinne erzogen. BMW und Mercedes fuhren die Bonner Ultras, die Kapitalisten, die Ausbeuter, die Kriegstreiber.

      Für Schönbier war ein Auto ein Auto und eine Straße in Köpenick (ehemals Ost-Berlin) nicht anders als eine in Neukölln (ehemals West-Berlin), und fahren sollte der, der das am besten konnte, also er. Generell hasste er es, wenn die Wessis wie auch die Ossis «diesen ganzen alten Scheiß« immer wieder aufwärmten. Seine Mutter war eine Russlanddeutsche, und von seinem Vater hieß es, er sei Deutschtürke gewesen, so genau wusste das keiner, denn der Gute hatte sich nach der Zeugung seines Sohnes schnell in die Emirate abgesetzt. «Wo ist da das Problem?», fragte Schönbier, wenn ihn jemand mitleidig ansah, und er hatte wirklich keines damit. Im Gegenteil. Bedingt durch die Gene seines Vaters, sah er immer so braungebrannt aus, dass er sich das Sonnenstudio und den Hautkrebs sparen konnte.

      «Dann mal her mit den Schlüsseln», sagte Schönbier und streckte die Hand aus, um sie sich von Mannhardt geben zu lassen.

      Der hielt sie aber fest umschlossen. «Moment mal! Ist denn schon klar, wer fahren soll?» Am Steuer saß im Regelfall das Alphamännchen, und diese Rolle wollte er Schönbier nicht so ohne weiteres überlassen.

      «Wer fahren soll?», wiederholte Schönbier. «Ich natürlich, ich bin schon viele Rallyes gefahren.»

      «Das hier ist aber keine Rallye, sondern eine Dienstfahrt», sagte Mannhardt. «Und wenn sich einer in Berlin auskennt, dann bin ich es.»

      Schönbier freute sich über dieses Eigentor. «Na prima, der Kartenleser hockt immer auf dem Beifahrersitz.»

      «Ich bin auch noch da», sagte Yaiza Teetzmann. «Vielleicht will ich ja fahren.»

      «Bitte.» Seit Jutta Kleinschmidt bei der Rallye Paris— Dakar Furore gemacht hatte, akzeptierte Schönbier Frauen als Autofahrerinnen.

      «Nein danke, aber …» Damit hatte sie klargemacht, dass sie ihr Veto gegen Schönbier am Steuer einlegen würde.

      Schönbier nickte. «Dann du! Du bist der Älteste.» Mannhardt ärgerte sich nun doppelt und dreifach.

      Zum einen über das Du, das er noch immer nicht verdaut hatte, zum Zweiten über seine Zuweisung zum alten Eisen und zum Dritten darüber, dass er sich über das Du wie auch über den Hinweis auf sein Alter ärgerte.

      «Wenn wir so weitermachen, kommen wir nie nach Schmöckwitz», stellte Yaiza Teetzmann fest.

      «Dann fahren wir eben mit der Bahn», sagte Mannhardt.

      «Das darf doch nicht wahr sein!», rief Schönbier.

      «Doch. Die Leiche kann warten, und wir tun was gegen die Umweltverschmutzung.» Mannhardt freute sich über seine Idee, mit der er die Kuh vom Eis bekommen hatte. «Stimmen wir ab: Wer für die Bahn ist, der hebe die Hand.»

      Er und Yaiza Teetzmann taten es, Schönbier nicht. Damit war die Sache entschieden, und nachdem sie im Internet die optimale Verbindung herausgesucht hatten, liefen sie zum Wittenbergplatz.

      «Mit dem Bus zum Bahnhof Schöneberg, dann mit der S-Bahn nach Grünau und von da mit der Straßenbahn nach Schmöckwitz.»

       2007

      SIEGFRIED SCHWELLNUSS war vor zwanzig Jahren nach Friedenau gezogen, um hier in der Aue des Friedens, wie er seinen Stadtteil immer nannte, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Mit Verena an seiner Seite, einer Grundschullehrerin. Doch die höheren Mächte hatten es anders gewollt, und die letzten Jahre waren die Hölle gewesen. Nach der Scheidung hatte er die Wohnung behalten, froh darüber, nun Platz für all seine Bücher und sogar kleinere Seminare zu haben. Doch dann hatte er Ulrike kennengelernt, und die hasste jede Form von Stadt, auch wenn sie so gehoben daherkam wie Berlin-Friedenau und große Männer wie Erich Kästner, Günter Grass, Uwe Johnson, Günther Weisenborn und Karl Schmidt-Rottluff als Mieter gesehen hatte, nicht zu vergessen die Comedian Harmonists. Ulrike klagte immer nur, sie würde in der Schwalbacher Straße ersticken, und entweder er zöge zu ihr hinaus nach Finkenkrug, was hinter Spandau im Brandenburgischen gelegen war, oder es wäre aus mit ihnen. Vielleicht hätte er nicht nachgegeben, aber da war ihm nach endlosen Streitereien vor mehreren Gerichten doch noch das ererbte Grundstück in Schmöckwitz zugefallen, und sie hatten beschlossen, das Haus am Imkerweg zu sanieren und auszubauen und dort einen Neustart zu wagen.

      Es war nun viel zu planen und zu bedenken, so dass er sich zur Durchsicht zweier Hausarbeiten zum Thema Abnabelung von der Familie in den Zeiten des Nesthockers geradezu zwingen musste. «Und zwar mit der Pistole an der Schläfe», wie er Ulrike gegenüber betont hatte, denn er hasste es, wenn ihm junge Leute in umständlicher Art und Weise, in diesem Falle auch noch ziemlich unbeholfen, das mitzuteilen versuchten, was er schon lange wusste.

      … ob die Abnabelung nach der Geburt wirklich zur Traumatisierung eines Menschen führt, wissen wir nicht so genau, weil man ja ein Baby nicht danach befragen kann, was es fühlt. Vielleicht ist es ja auch froh darüber, nun ein eigenständiger Mensch zu sein. Noch immer an der Nabelschnur hängend, könnte ja ein Mann kaum zum Torschützenkönig der Bundesliga werden.

      Schwellnuss musste nun doch ein wenig schmunzeln, obwohl das Geschriebene mit Wissenschaft nicht viel zu tun hatte. An den Rand schrieb er: Sehr originell, aber ich bin nicht Mephistopheles, siehe Faust (Zeile 2009). Dort stand: Ich bin des trocknen Tons nun satt …

      Die zweite Hausarbeit war ernsthafter angelegt, aber auch hier konnte er mitunter nur laut aufstöhnen und den Kopf schütteln.

      Das Bestreben nach Neubelebung der kindlichen Einheit mit der Mutter in meinem Fallbeispiel kann man auch als Sucht verstehen. Er sucht/die Sucht – mit der Gleichheit der Worte ist schon alles gesagt. Der Volksmund sieht das auch so: Eifersucht ist, wenn man mit Eifer sucht. Einer meiner Freunde, 23 Jahre alt, verhält sich, wenn er betrunken ist, immer wie ein Baby und möchte sogar gewindelt werden, was voll in die Argumentationskette von Kernberg und anderen Autoren passt, dass Menschen nämlich mit pathologischer Mutterbindung dazu neigen, auf die Stufe eines Säuglings zu regredieren, um dadurch wieder mit der Mutter zu verschmelzen.

      Fast hätte Schwellnuss an den Rand geschrieben: Ich hole meine Mutter auch zu mir ins Haus, ohne dass ich mich windeln lasse!

      Was sollte er den beiden für Noten geben? Dieses Ringen um Gerechtigkeit war noch stressiger als die bloße Lektüre. Einerseits war er gern der milde Vater, andererseits mussten auch gewisse Standards der Profession beachtet werden. Am liebsten hätte er gewürfelt, aber Würfel ohne die Zahlen drei bis sechs gab es nun einmal nicht.

      Sein Telefon sonderte die seltsamen Klingeltöne ab, die Ulrike so schön fand. Froh über die Störung, nahm er das schnurlose Gerät aus der Empfangsstation und meldete sich mit einem anonymen «Ja, bitte …?»

      «Hier Grauen.»

      «Hier auch …»

      «Wie?»

      «Nein, Schwellnuss,

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