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gerufen, wenn es hieß «Person im Gleis», denn es fielen nicht nur Selbstmorde und Unfälle an, sondern ab und an wurde auch jemand auf die Gleise gestoßen.

      Die Busfahrt bis zum Kurt-Schumacher-Platz nervte, und an der provisorischen Endhaltestelle war der Zug in Richtung Alt-Mariendorf schon voll bis oben hin, aber er konnte sich gerade noch hineinquetschen.

      Der Mensch, so hatte es bei Heike ein Psychologe ausgedrückt, sei ein Distanztier, und innerhalb von sechzig Zentimetern befinde man sich in der Intimzone des anderen. Schnell hatte Mannhardt herausgefunden, dass er sich bereits in der Intimzone von drei Frauen gleichzeitig aufhielt, ohne dabei jedoch auch nur ein Mindestmaß an Lust zu empfinden. Die eine litt unter Akne und roch nach faulendem Heu, die zweite war vom Kaliber «Alles hört auf mein Kommando!» und jagte ihm nur Angst und Schrecken ein, und die dritte war zwar jung und morgenschön, aber so dämlich, dass es schon weh tat. Wie sie mit ihren Klassenkameradinnen kommunizierte, rechtfertigte jede Befürchtung, nach der die Deutschen im intellektuellen Wettbewerb mit anderen Völkern hoffnungslos unterlegen sein würden. Da aber auch die drei Frauen ihn abscheulich fanden, war das Unbehagen geradezu mit Händen zu greifen. Man mied jeden Blickkontakt, schaute auf den Bildschirm an der Decke des Waggons, auf dem die neuesten Nachrichten flimmerten, oder in eine unbestimmte Ferne. Mannhardt erinnerte sich an eine Szene aus Heikes Feature, in der vom englischen Premierminister Tony Blair berichtet wurde, wie der einmal – ganz volksverbunden – in der U-Bahn eine Sitznachbarin angesprochen hatte und mit einem bösen Blick und eisigem Schweigen abgestraft worden war.

      Um nicht der Frottage bezichtigt zu werden, dem Reiben der Genitalien am Körper eines anderen, und damit als Sittenstrolch dazustehen, versuchte Mannhardt, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den Frauen den Rücken zuzuwenden. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass sich in Tokio, wo das Grapschen zur Manie geworden war, die Männer demonstrativ mit beiden Händen oben an den Griffen festhielten, um nicht in Verdacht zu geraten.

      Am Leopoldplatz hatte er von der U6 in die U9 umzusteigen. Eine Zeitung hatte am letzten Ersten gemeldet, die großen Clubs des American Football würden ihre Spieler zum Training auf die großen Berliner Umsteigebahnhöfe schicken, und dazu einen Star der Berlin Thunder abgebildet. Natürlich war das ein Aprilscherz gewesen, doch er hatte es für logisch gehalten und geglaubt. Auch heute wieder verspürte er eine gewisse Regung, seine Dienstwaffe zu ziehen und wenigstens in die Luft zu schießen, um den Zug auf dem unteren Bahnsteig zu erreichen. Ohne dieses Mittel hatte er keine Chance gegen die Lahmärsche, die ihm den Weg versperrten. Als er endlich unten angekommen war, hörte er nur noch das harsche «Zurückbleiben bitte!», und weg war sein Zug.

      Sein Vater hatte bei solchen Anlässen immer gemurmelt: «Wieder habe ich einen fahren lassen.» Dass damit das Flatieren gemeint war, verstand heute kein Mensch mehr, ebenso wie sie ihn ahnungslos ansahen, wenn er den Kollegen erzählte, dass ihr neuer Vorgesetzter im Flur «einen Koffer« habe stehen lassen. Sein Großvater hatte immer eine diebische Freude daran gehabt, in der überfüllten U- oder S-Bahn «einen durch die Reihen schleichen« zu lassen.

      Das war das Schöne an der U-Bahn, dass der nächste Zug schon nach fünf Minuten kam. Und er bekam sogar einen Sitzplatz. In seinem Alter hatte er auch einen Anspruch darauf.

      Zoologischer Garten stieg Mannhardt aus und überlegte einen Augenblick, ob er in die U2 umsteigen und bis zum Wittenbergplatz fahren oder zu Fuß zu seiner Dienststelle in der Keithstraße laufen sollte. Schließlich entschied er sich für den Fußweg, denn es war immer ganz spannend, an der Rückseite des Zoologischen Gartens entlangzulaufen. Links hatte man die Kolonnaden mit ihren vielen Läden, das Aquarium und den Nebeneingang des Zoos, rechts den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche und den Prachtbau der Grundkreditbank.

      Ein Tourist aus St. Irgendwo sprach ihn an. Wo denn hier der Olof-Palme-Platz sei.

      Mannhardt zuckte mit den Schultern. «Tut mir leid, nie gehört.»

      Sekunden später sah er anhand der Schilder, dass er mitten auf dem Olof-Palme-Platz stand, einer Ausbuchtung der Budapester Straße an ihrer Kreuzung mit der Nürnberger und der Kurfürstenstraße. Peinlich. Besonders für einen Kriminalbeamten. Schnell machte er, dass er weiterkam.

      Die Tage, die Mannhardt noch ins Büro ging, waren gezählt, und sein Nachfolger saß schon bei ihm im Zimmer, um eingearbeitet zu werden. Der Kollege hörte auf den Namen Rico Schönbier und war noch so jung, dass es eine einzige Provokation war. Mannhardt hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Schönbier sah aus wie ein hoffnungsvoller Fußballer aus der Oberliga, die Haare teilweise blond gefärbt und mit viel Gel zu Stacheln aufgerichtet und geistig nur so weit entwickelt, dass es seine Instinkte beim Passen und Toreschießen nicht sonderlich störte. Das Fitnessstudio war sein zweites Zuhause. Dort holte er sich die Kondition, um durch die Clubs der Stadt zu ziehen und ständig neue Frauen zu beglücken. Hörte er das Wort Kultur, schrie er nur «Scheiße!» und machte sich aus dem Staub. Auch von Politik hielt er nichts und vermied es, sich die Namen der Akteure zu merken. «Wenn ich die bei mir im Gehirn speichere, tue ich diesen Hanseln doch zu viel Ehre an.» Aber auch um die Heroen des Showgeschäfts, der Medien und des Sports kümmerte er sich wenig. «Was interessieren mich diese Arschlöcher?!» Er, Rico Schönbier, war das Maß aller Dinge, und an ihm gemessen waren das alles nur Blender. «Von irgendwelchen Idioten hochgepusht, um Geld mit ihnen zu machen.»

      Mannhardt hasste «geistige Tiefflieger« wie Schönbier und sagte des Öfteren zu Heike, dass Oswald Spengler bei dessen Anblick den Untergang des Abendlandes neu geschrieben hätte, doch gegen Schönbier war nicht anzukommen, denn alle seine Prüfungen hatte er mit Einsen und Zweien bestanden, und auch seine dienstlichen Beurteilungen ließen nichts zu wünschen übrig.

      Mühsamer als sonst stieg Mannhardt die Treppen zu seinem Büro hinauf, sich dabei selber verspottend: Der alte Mann und das Gehtnichtmehr. Wie viele Morde mochte er in seinen mehr als vierzig Dienstjahren aufgeklärt haben? Schätzungsweise 250. Nicht er allein, die Mordkommissionen, in denen er gearbeitet hatte. Und der nächste würde vielleicht der letzte sein.

      Yaiza Teetzmann lief vor ihm her, seine langjährige Kollegin und engste Vertraute. Stellte er sich die Frage, was er in seinem Leben am meisten bedauerte, dann war es die Tatsache, nie mit ihr geschlafen zu haben. Blieb ihm nur sein Fontane als Trost: Eigentlich ist es ein Glück, ein Leben lang an einer Sehnsucht zu lutschen.

      Sie musste ihn hinter sich gespürt haben, denn sie blieb stehen und drehte sich um. «Danke für die Einladung zu deiner Abschiedsparty.»

      «Bitte.» Mannhardt schnaufte ein wenig, als er sie eingeholt hatte. «Es wird ein Top-Event werden. Wie damals im alten Rom, als Petronius Abschied von allen und allem genommen hat.»

      «Wer war Petronius?»

      «Ein römischer Schriftsteller und Satiriker, ein Weltmann am Hofe Neros, der ‹Schiedsrichter des feinen Geschmacks›. Als Nero ihn bezichtigte, an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen zu haben, und ihm die Hinrichtung drohte, beging er vorher Selbstmord. Dazu lud er alle seine Freunde ein, schnitt sich in deren Gesellschaft die Pulsadern auf, tauchte die Arme in eine Schüssel mit warmem Wasser und dämmerte langsam dahin.»

      Yaiza Teetzmann verstand die Zusammenhänge nicht ganz. «Hat dir denn der Polizeipräsident angedroht, dich verhaften und einsperren zu lassen?»

      «Es geht darum, dass ich stilvoll von allem Abschied nehmen möchte.»

      «Eine Pensionierung ist doch kein Todesurteil.»

      «Für mich schon.»

      Yaiza Teetzmann lachte. «Du kannst doch versuchen, wieder Lehrveranstaltungen an der Fachhochschule zu bekommen.»

      «Ja, keine schlechte Idee: Opa erzählt euch mal, wie wir damals den Berliner S-Bahn-Mörder und die Bestie vom Schlesischen Bahnhof zur Strecke gebracht haben.»

      «So alt bist du doch nun auch wieder nicht.» Mannhardt stöhnte auf. «Man ist immer so alt, wie man sich fühlt – und mein gefühltes Lebensalter liegt heute bei 110.»

      «Genau das richtige für einen Polizeibeamten.» Mannhardt schwieg. Yaiza Teetzmann würde ihm fehlen. Nicht nur ihres Anblicks wegen.

      Schönbier

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