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Laufe eines Lebens gibt es aber nicht nur Prägungseinflüsse und Genetik, auf die ich ja eigentlich nur reagieren kann. Ich selbst nehme ebenfalls Einfluss auf mich: durch meine Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen, durch die Sicht auf mich selbst, durch die Wünsche und Ziele, die ich anstrebe. Ich präge mich selbst.

      „Der freie Wille gibt uns den Spielraum, die genetisch geprägte und kulturell gefärbte Persönlichkeit zu variieren, wenn ein Thema uns besonders am Herzen liegt“, schreibt Dr. Sylvia Löhken. Das bedeutet: Es ist möglich, als eher extrovertiert geschaffener Mensch durch die Reaktion auf die eigene Geschichte (das wäre dann Prägung), aber auch durch Entscheidungen und Training die introvertierten Anteile der Persönlichkeit zu stärken (das wäre Selbststeuerung). Genauso kann ein Introvertierter lernen, sich wie ein Extrovertierter zu verhalten. Trotzdem bleibt in beiden Fällen mein „Geschaffensein“ stabil. Und in der Regel werde ich für diese erlernten Verhaltensweisen mehr Energie aufwenden müssen als sonst.

      Heute ist sehr gut nachgewiesen, dass Intro- bzw. Extrovertiertheit als Charakterzug einen sehr hohen biologischen Anteil hat. Man könnte sogar sagen: Introvertiertheit ist eine uns angeborene und über die Lebensspanne recht stabile Eigenschaft, die nicht nur mit Charakter, sondern unter anderem mit einer typischen Reizverarbeitung im Gehirn einhergeht.

       „Das Maß an Stimulation, das Extrovertierte als anregend empfinden, kann für Introvertierte überwältigend oder störend sein.“

       Colin De Young, Psychologin

      In verschiedenen Studien wurde bei introvertierten Personen eine höhere Hirnaktivität festgestellt – unabhängig davon, ob sie arbeiteten oder sich ausruhten. Möglicherweise dient diesen Menschen die Wendung nach innen als eine Art Schutzwall gegen zu viele Reize.

      Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, aber meine ehemalige Jungscharleiterin erzählt folgende Geschichte:

      Da wurde ein junges Mädchen mit in die Gruppe gebracht. Eine andere Gruppenteilnehmerin hatte sie eingeladen, und so saß die etwas übergewichtige, dunkelhaarige Teilnehmerin jetzt in der Gruppe und tat keinen Mucks. Bei der Begrüßung sah sie nicht auf und nuschelte nur sehr leise ihren Namen (Monika?) in Richtung des Fußbodens. Sie sang nicht mit, aber die Andacht schien sie aufmerksam zu verfolgen, ihr Blick hing regelrecht am Mund der Jungscharleiterin. Ansonsten schien sie gut darin, sich fast unsichtbar zu machen. Selbst ihre Bewegungen wirkten zurückgenommen. Sie zog die Schultern hoch, als erwarte sie einen Schlag. Aber das störte keinen, und im Schlepptau ihrer energischen Freundin kam sie ab da regelmäßig zur Gruppe.

      In der 5. Stunde wirkte sie schon etwas lockerer, sang leise mit, und man konnte erahnen, dass sie eine schöne Stimme hatte. Sie lächelte sogar zurück, als die Jungscharleiterin sie anlächelte, und nickte, als sie gefragt wurde, ob sie sich wohlfühle.

      Aber vielleicht hätte man sie in dieser Gruppe trotzdem noch jahrelang Monika genannt, wenn ihre Freundin sie nicht in der 5. oder 6. Stunde energisch in die Seite geknufft und gesagt hätte: „Verflixt, Karin, nun sag endlich, dass du gar nicht Monika heißt! Wenn du auch immer so flüsterst, da versteht dich ja kein Mensch. Jetzt bist du hier doch schon zu Hause!“ Und ich, denn ich war dieses Kind, soll (wieder mal sehr leise) geantwortet haben: „Ist doch egal, wie man mich nennt. Ich weiß ja, dass ich gemeint bin“.

      Das war vor 40 Jahren. Inzwischen sehe ich die Menschen an, wenn ich mit ihnen spreche. Ich rede zwar immer noch relativ leise, aber meine Sprache ist lebendig und farbig. Ich rede im Gegensatz zu früher bewegt und manchmal sogar zu schnell. Das habe ich beim Erzählen unzähliger Geschichten in Kinderstunden und Jungscharen gelernt, in denen ich irgendwann mitzuarbeiten begann. Dabei kam mir meine Liebe zu Büchern sehr zugute, und die Bestätigung durch meine ZuhörerInnen ermutigte mich, dass ich es wert bin, gehört zu werden.

      Ich habe Kommunikation später sogar zu meinem Beruf gemacht. Aber in mir gibt es auch immer noch das Mädchen von damals, das kommt mit in jede neue Situation. Heute wird es von einer Erwachsenen begleitet, die es liebevoll und mit Verständnis an die Hand nimmt (und das bin auch wieder ich selbst). Schizophren? Nein, normal.

       Karin Ackermann-Stoletzky

      Wir alle haben viele unterschiedliche Stimmen in uns, Gefühle, Erfahrungen, Charakterzüge. Ist das nun Produkt unserer Erziehung, oder ist uns unsere Art in die Wiege gelegt? Die Antwortet lautet: Ja, beides.

      Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen zeigen sich nicht nur in unterschiedlichen Verhaltensweisen und Vorlieben, sie sind bis in Hirnfunktionen hinein nachweisbar, wie ich schon im vorhergehenden Kapitel beschrieben habe.

      In einer Testreihe wurden Menschen zuerst einem Persönlichkeitstest unterzogen, danach wurden ihre Hirnströme untersucht. Im Gehirn vieler im Test als introvertiert eingestufter Teilnehmer wurde dabei entdeckt, dass ihre Gehirne, egal, ob sie arbeiteten oder ruhten, eine höhere elektrische Aktivität aufwiesen als die der anderen Probanden.

      Das Gehirn eines introvertierten Menschen ist also anscheinend auch dann stärker stimuliert, wenn es keine Reize von außen bekommt. Wegen dieser von Natur aus höheren Gehirnaktivität haben die Stillen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Deshalb gelten introvertierte Menschen auch als besonders sensibel. Zu viele Reize sind für Introvertierte also schlechter zu verkraften als für Extrovertierte, und das gilt nicht nur psychisch, sondern auch physisch. Tatsächlich lässt sich belegen, dass auch das Immunsystem von Introvertierten sensibler auf Stressbelastung und Reizüberflutung reagiert als das von Extrovertierten. Das macht sie, wie AIDS-Forscher 2003 herausfanden, anfälliger für Infektionskrankheiten aller Art und lässt chronische Erkrankungen bei ihnen heftiger verlaufen.

      Die Erforschung dieser Zusammenhänge der Reizverarbeitung im Gehirn geht vor allem auf Erkenntnisse des Psychologen Jerome Kagan zurück, der an der Harvard-Universität Experimente zu diesem Thema an rund 500 Säuglingen im Alter von vier Monaten durchführte. Er konfrontierte die Babys mit ganz unterschiedlichen Reizen: mit sich schwingenden, bunten Mobiles (Bewegungsreiz), zerplatzenden Luftballons (Geräuschereiz) oder mit starken Geruchseindrücken, zum Beispiel mit Alkohol betupften Wattestäbchen.

      20 Prozent der Säuglinge reagierten besonders stark auf die für sie neuen, ungewohnten Situationen. Sie bewegten sich und strampelten stark, weinten, drückten angespannt den Rücken durch, ballten die Händchen zu Fäusten. 40 Prozent reagierten gelassen, der Rest der Babys bewegte sich zwischen diesen beiden Extremen.

      Nach vielen Jahren wurden alle inzwischen herangewachsenen Kinder wieder ins Labor gebeten. Bei den durchgeführten Tests machte Kagan eine auffällige Entdeckung: Wer als Kind heftig auf Reize reagiert hatte, war als Erwachsener ein eher introvertierter Charakter (diese Langzeitstudie wird übrigens bis heute fortgesetzt, um zu erforschen, wie sich Reizverarbeitung und Charakterbildung im Laufe eines Lebens entwickeln und verändern). Es ist also gerade nicht so, dass ein introvertierter Mensch phlegmatisch und stoisch in sich ruht, im Gegenteil: Er zieht sich zurück, um sich nicht zu sehr mit Außenreizen zu überfordern.

       Um sich wohlzufühlen, um optimal zu funktionieren, braucht das introvertierte Gehirn Ruhe.

      Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Damit das Gehirn in seinen „Wohlfühlzustand“ kommt und optimal funktioniert, braucht es Anregungen von außen: Musik, Gespräche, Bewegung.

      Der Psychologieprofessor Colin De Young von der Universität von Minnesota führte ausführliche Experimente an Studenten durch. Sein Ergebnis: „Das Ausmaß an Reizen, die Extrovertierte als angenehm empfinden, kann Introvertierte überwältigen.“ Seinen Forschungen zufolge lernen Introvertierte deshalb am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel); Extrovertierte konnten sich besser konzentrieren, wenn es lauter war (um die 85 Dezibel).

      Eine Studie der Universität North Carolina belegt, dass

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