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Dinge, über die ich auch Bescheid weiß. Gut, manchmal rede ich über die vielleicht etwas zu ausführlich, aber ich werde ja auch immer gefragt.“

      Einer, den man eigentlich eher für extrovertiert halten würde, beschreibt sich selbst als „einen umgeschulten Introvertierten“: Barack Obama. Der US-Präsident ist nicht nur ein leiser Mensch, sondern gleichzeitig auch cool, witzig und charismatisch. Machtbewusstsein, eine öffentliche Rolle und Introvertiertheit schließen sich also nicht aus.

      Im IT-Bereich findet man Introvertierte häufig an der Spitze: Bill Gates zum Beispiel ist so ein stiller Mensch. Mit Reden tut er sich schwer, trotzdem hat er eine einzigartige Karriere hingelegt, ebenso wie Google-Chef Larry Page und Facebook-Gründer Zuckerberg. Julian Assange, der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, enthüllt über sich selbst so wenig wie möglich und gilt als scheu und zurückhaltend.

      Interessanterweise gibt es unter Künstlern wahrscheinlich überdurchschnittlich viele Introvertierte. In den bildenden Künsten sind sie vielleicht sogar in der Überzahl, denn die Möglichkeit, sich durch ein Kunstwerk auszudrücken, ohne sich dabei der Wirkung einer Gruppe aussetzen zu müssen, liegt Introvertierten sehr. Aber auch im Bereich Schauspiel und Regie sind mehr Introvertierte aktiv, als man denken könnte. Woody Allen ist ein berühmtes Beispiel, der durch seine Art, zu fühlen und zu denken, faszinierende Filme gemacht hat. Steven Spielberg ist ebenfalls introvertiert. Die verstorbenen Künstler Alfred Hitchcock, Robin Williams und Michael Jackson gehörten dazu, Clint Eastwood, Richard Gere, Loriot, Günther Jauch, Bruno Ganz, Corinna Harfouch, Götz George, Matthias Brandt und viele mehr.

      Dabei entwickeln die Introvertierten auf der Bühne eine ganz besondere Präsenz. In einem Spiegel-Artikel (34/​2012) wurde Matthias Brandt von der Autorin Kerstin Kullmann so beschrieben:

      Wenn der Schauspieler Matthias Brandt vor die Kamera tritt, kann er alles: lachen, lieben, toben und hassen. Er kann charmieren, flirten und um den Finger wickeln. Verlässt er jedoch die Aufnahmesituation, fällt ihm das schwer. Und das liegt daran, dass er gar nicht so extrovertiert ist, wie alle meinen. (…)

      Der Schauspieler Matthias Brandt kann in einer Rolle aus sich herausgehen. Er überwindet sein Temperament, um zu spielen. Außerhalb des geschützten Raums der Kunst ist er wieder ein zurückhaltender, leiser Mensch. Er sagt: „Aus mir bricht es nicht heraus. Bei anderen tut es das. Bei mir eben nicht.“ (…)

      „Ich glaube“, sagt Brandt, „dass es künstlerisch ein sehr interessanter Vorgang ist, wenn man Widerstände überwindet.“ Jedes Mal, wenn er auf die Bühne trete, gebe es einen Moment der Konzentration, bevor er den Mut fasse, aufzutreten.

      „Ich gehe dann von innen nach außen“, erzählt der Schauspieler. „Das ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Energie, die dann in meiner Arbeit steckt.“ Ein zurückhaltender Mensch, der sich selbst zum Schauspielern überredet – und so herausragende Leistungen vollbringt.

      Ob ich introvertiert oder extrovertiert bin, ist nicht grundsätzlich entscheidend dafür, ob ich ein erfolgreiches Leben führe oder nicht. Allerdings ist es für Introvertierte mit anderen Herausforderungen verbunden, wahrgenommen zu werden – und vor allem sich selbst wahr- und ernst zu nehmen. 6

      Jede Persönlichkeit hat viele verschiedene Facetten und Anteile. Ich selbst zum Beispiel bin ein zurückhaltender und introvertierter Mensch. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, mich mitzuteilen, es macht mir nichts aus, vor vielen Menschen zu reden. Im Gegenteil: je mehr, umso leichter. Ich rede lieber vor 500 als vor 10 Menschen, denn 500 sind eine Masse, 10 haben ein Gesicht. In Vorträgen bin ich lebendig, kreativ und offen – im Einzelkontakt bin ich eher zurückhaltend. Selbst in der Gegenwart vertrauter Menschen höre ich mehr zu, als selbst zu reden (und daraus habe ich sogar einen Beruf gemacht). Die Aufforderung „Jetzt erzähl doch mal was von dir!“ setzt mich unter Stress, ebenso wie die Frage: „Was war denn so los in der letzten Zeit?“ Meine Antworten darauf sind meist kurz, und ich sorge durch eine Gegenfrage dafür, dass mein Gegenüber redet. Das ist auch meine Smalltalk-Methode: Ich erzähle nicht, ich lächle und frage.

      Als Kind spielte ich am liebsten allein in meinem Zimmer, las, hörte Musik, sang. Ich war ein unauffälliges Kind. Nach und nach fand ich einen Weg aus meinem Schneckenhaus, und zwar dadurch, dass mich die Leiterin der christlichen Jungschargruppe wahrnahm, mich behutsam förderte und mir nach und nach immer mehr Aufgaben in der Gruppe übergab: Zuerst bat sie mich, den Gesang mit ihr zusammen mit der Gitarre zu begleiten, später gab sie mir Geschichten zum Vorlesen, brachte mir bei, wie man eine Andacht gestaltet, und ermutigte mich ausdauernd, das auch mal vor den anderen Jungscharkindern auszuprobieren … und nach einigen Jahren konnte ich das alles ohne sie.

      Irgendwann stellte ich erstaunt fest, dass sich meine Rolle auch außerhalb der Jungschar verändert hatte: Nachdem ich mit 16 Jahren auf eine weiterführende Schule wechselte, war ich, für mich vollkommen unerwartet, Klassensprecherin. Auf die anderen Schüler im Einzelkontakt zuzugehen fiel mir immer noch schwer, und ich war auch niemals einer der „Klassenstars“, aber mein Redetraining hatte sich ausgewirkt – ich konnte mich äußern und wurde als Ratgeberin in vielen Bereichen geschätzt. Heute leite ich als Supervisorin Gruppen, bilde Coaches aus, leite Seminare im Bereich der Sozialpsychiatrie oder in Seniorenheimen. Ich bekomme sehr oft die Rückmeldung, meine Seminare seien unterhaltsam und meine entspannte Art der Gruppenleitung wohltuend und ermutigend. Aus dem Wissen und der Erfahrung heraus, die ich in mehr als 30 Jahren sozialer Arbeit gesammelt habe, kann ich in der Gruppe schnell und angemessen reagieren: Ich weiß ja, das sind meine Aufgabe und meine Rolle, ich bin also darauf vorbereitet. Aber in einer Gruppe fremder Menschen, unter denen ich keine Aufgabe habe, fühle ich mich immer noch nicht wohl. Hier bin ich meist zurückgenommen, reagiere auch viel langsamer und muss länger nach Worten suchen, wenn ich sie brauche.

      Ich bin viel unter Menschen, und ich brauche es bis heute jeden Tag, mich zurückzuziehen, denn Erholung finde ich überwiegend im Alleinsein. Ich gehe zum Beispiel während Tagesseminaren nicht zum Essen, sondern mache lieber einen Spaziergang. Ich verbringe während mehrtägiger Seminare die freien Abende nicht mit der Gruppe, sondern allein. Das ist akzeptiert und kein Problem – Kontakt zur Gruppe habe ich trotzdem, denn wenn ich mit ihr arbeite, bin ich ganz präsent und für die Teilnehmer da.

      Ich bin verheiratet, und auch hier brauche ich Zeit für mich allein. Spaziergänge tun mir gut, auch das Lesen ist eine Möglichkeit des Rückzugs und der Erholung. Darüber hinaus sind Gebet und Meditation für mich die wichtigsten Orte des Auftankens, in denen ich allein und trotzdem im Kontakt bin und meine Seele zur Ruhe kommt.

       Karin Ackermann-Stoletzky

Kapitel 2

      Psychologen sind in den vergangenen Jahrzehnten übereingekommen, die Persönlichkeit anhand fünf übergeordneter Eigenschaftsskalen zu beschreiben: den „Big Five“. Auf diesen beruhen die meisten anerkannten Persönlichkeitstests. Demnach unterscheiden sich Menschen vor allem darin, wie extrovertiert oder introvertiert (nach außen oder innen gerichtet), wie neurotisch oder emotional ausgeglichen (unausgeglichen oder ausgeglichen), wie verträglich, wie gewissenhaft und wie offen für Neues sie sind.

      In letzter Zeit hat man angefangen, noch zwei wichtige Züge hinzuzufügen: Stabilität und Plastizität. Was ist damit gemeint?

      Bei „Stabilität“ geht es um das Ausmaß, in dem wir dazu neigen, uns im Vertrauten zu arrangieren und potenziellen Gefahren aus dem Weg zu gehen. Stabilität vereint die Big-Five-Züge emotionale Ausgeglichenheit, Verträglichkeit, Introversion und Gewissenhaftigkeit

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