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Der Bus fuhr durch die Ost-Eisenpferd-Straße. Als wir sahen, wie über unseren Dachziegeln Staubwolken Welle für Welle hoch stiegen, erstarrte ihr erklärender weit geöffneter Mund wie bei einem eingefrorenen Fisch. Die Bustür öffnete sich und sie sprang als erste aus dem Bus. Ich lief hinter ihr her zum Lagerhaus und kletterte ein Fenster hoch. Im Haus wirbelte undurchsichtiger Staub auf. Die jungen Rotgardisten schwangen gerade ihre Eisenhämmer, um unsere Ziegelwände zu zerstampfen. Die letzte Mauer stürzte mit lautem Krach zusammen und begrub unseren Hausrat. Es wirbelte nun immer mehr Staub in die Höhe und drehte sich wie eine Pilzhaube über dem Dach zum Himmel. Meine Mutter stürmte in das Haus, stürzte sich auf die Ziegelsteine und wühlte in ihnen. Durch das Graben bluteten ihre Finger, sie konnte nichts Wertvolles meiner Familie mehr finden. Nur ein Foto entdeckte sie, das genau in der Zeit gemacht wurde, als sie in das Haus einzog. Auf dem Foto stand geschrieben: „Fotografiert im Jahr 1950“. Sie kam mit dem Foto Schritt für Schritt aus dem Haus. Ihre Augen waren voll Tränen, ihre Finger mit Blut verschmiert und ihr Gesicht war voller Staub. Ihre normalerweise sauber gehaltene Kleidung war nun nicht mehr sauber. Sogar jetzt noch vergaß sie jene Geschehnisse mit dem Direktor nicht und bekräftigte: „Guang-xian, du musst deiner Mutter glauben. Mama wollte lieber sterben als so etwas Unverschämtes anzustellen!“

      Ich hatte den festen Glauben, daß meine Mutter wirklich lieber vor Scham sterben würde. Diese Ansicht vertrete ich bis heute noch. Sie war in meinen Augen rein und unbefleckt, so perfekt wie ein sauberes weißes Stück Papier. Sie selbst hasste nicht nur Schurken allein, sie wollte, daß auch wir gleich ihr zusammen Schurken hassten. Nachdem sie uns dazu angeregt hatte, durfte sie uns in Folge nicht enttäuschen, indem sie sich halbwegs anders besann. Deshalb wollte sie keinesfalls, daß man sah, wie sie befummelt wurde. Was für ein Vorbild vor uns hatte sie zehn Jahre lang dargestellt? Es war eine Frau, die nie durch fremde Hände betatscht worden war. Aber jetzt ist es passiert. Es wäre absurd gewesen, wenn sie sich nicht geschämt hätte. Auch ich schämte mich für sie!

      Nachdem meine Mutter am folgenden Mittag meine Schwester Blümchen verabschiedet hatte, nahm sie ein Stück Fleisch vom Zoo, um den Tiger mit dem Namen Orchidee zu füttern. Es befand sich am Rücken des Käfigs eine Tür, hinter der Tür war der Bereich von Orchidee. Es gab dort Bäume, künstliche Grottenanlagen, umgeben von hohen Zementmauern. Meine Mutter ließ Orchidee durch die Hintertür herein, schmiss ihm das Fleisch aber nicht hin, stattdessen opferte sie sich selbst für den Tiger. Auf diese Weise wurde ein Teil des Körpers meiner Mutter vom Tiger gefressen. Der unter Gefahr geborgene schwer verletzte Körper wurde dann sofort mit einem vom Betrieb gekauften weißen Tuch eingewickelt. Um das Tuch herum standen geschockt ihre Arbeitskollegen und Direktor He. Das Bild meiner Mutter mit ihrem geröteten Gesicht ging mir durch den Kopf, ein Bild, wie ich es in Erinnerung hatte, wie sie, völlig verstaubt das Foto aus den Steinen ausgrub. Und letztendlich nahm sie ihrem Leben ein Ende, das war meine feste Überzeugung, aus unüberwindbarer Scham. Daß sie gestorben war, wusste mein Vater nicht, er wusste auch nicht, daß Blümchen nirgendwo zu finden war. Jetzt befiel mich Angst, und ich fand jetzt erst heraus, in so einer großen Stadt keinen Verwandten zu haben, auf den ich mich verlassen konnte. Nicht nur in dieser großen Stadt, sondern auch auf dieser großen Erde, auf der ich keinen Vertrauten besaß.

      Abends saß ich verlassen vor der Tür des ruinierten Lagers. Kalter Wind wehte um meine Nase und Ohren. Die Gerüche der Ziegel und des Zementes zogen vom Eingang zu mir herüber, sehr stark und sehr schwer. Allmählich verzogen sich diese neuen Gerüche. Stattdessen drängten sich die alten auf. Das war der Uringeruch Onkel Yus, sein Tabakgeruch, der Schweißgeruch meines Vaters und dazu das Parfüm meiner Mutter. Sie glichen Wasser, das in meine Nase eindrang. Ich bekam einen Hustenanfall. Nach Mitternacht ruhte die Straße, und in dieser Stille erinnerte ich mich an meinen Vater. Das gefiel mir nicht. Ich erinnerte mich an sein Fehlverhalten, in der Hoffnung, daß alles nur eingebildet gewesen wäre. Das lag mir auf dem Herzen, wie ein Eisenstück, dessen Gewicht mich schwer belastete. Auf eine schlimmere Weise sogar sagte mir ein verschwommenes Gefühl, irgendwie einen schrecklichen Schicksalsschlag erlitten zu haben und daß das Leben voller Lügen ist.

      Am Tag darauf suchte ich Tausendjahr Zhao auf, um mich nach meinem Vater zu erkundigen. Tausendjahr antwortete: „Dein Vater ist im Augenblick sehr gefragt. Sogar ich selber weiß nicht, wo er ist. Diejenigen, die Ausbeuter verurteilen, suchen ihn; diejenigen, die Schurken verurteilen, suchen ihn, und diejenigen wollen die verurteilen, die keine Spur von Reue zeigen. Es sieht so aus, daß jedes Beispiel seines Verhaltens als ein lebendiger Lehrstoff genutzt werden kann. Gehe ihn suchen bei jenen großen Verurteilungsversammlungen, nicht allein bei unserer Fraktion, sondern auch bei den anderen Fraktionen, denen manchmal Verurteilungsobjekte fehlen. Sie könnten deinen Vater von uns ausgeliehen haben.“

      Überall auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die Einkäufe zum Jahresfest erledigten. Das Neujahr stand unmittelbar bevor. Aber ich verschränkte nur meine Arme und wanderte von einer Straße zur anderen, von einer Schule zur anderen, von einer Versammlung zur anderen. In der Drei-Bindungen-Straße sah ich, wie junge Rotgardisten einem Alten mit schneeweißen Haaren die Arme verrenkten. Es hatte den Anschein, als ob die Hände vom Rücken auswuchsen. Auf dem Schulsportplatz in der Pro-GewaltStraße erblickte ich einen an Händen und Hals gefesselten Mann im mittleren Alter, dessen Brille zerschlagen wurde. Die Glassplitter stachen ihm in die Augen. Blut quoll aus den Wunden. In der Gasse der Eisen-Pferd-Straße konnte ich feststellen, daß durch die jungen Kämpfer einer Schar schlechter Elemente die Kleidung abgerissen wurde, die mit allen vier Gliedern gegen den Himmel gerichtet, auf eiskalten Steinplatten lagen. Ich bekam so viele Szenen zu sehen, die ich mir so nicht vorstellen konnte. Meinen Vater konnte ich allerdings nirgendwo finden. Es fing bald zu schneien an und ich konnte meinen Vater noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Habe ich ihn vielleicht an irgendeinem Ort verpasst? Oder war er wahrscheinlich schon gestorben? Der Gedanke war mir sehr unangenehm. In der Nacht schlief ich in der Dachstube des Lagers, tags saß ich vor dem Eingang des Hauses. Onkel Zhao lud mich in sein neues Zuhause ein, was ich ablehnte. Auch Onkel Yu wollte mich einladen, dort war ich ebenfalls nicht hingegangen. Ich erklärte ihnen: „Ich warte hier, bis mein Vater zurückkommt.“ Ich hoffte, daß er am Neujahrstag zurückkommen würde. Sollte er dann nicht wieder da sein, konnte er nirgendwo hingegangen sein. Er wäre wohl gestorben.

      Tag für Tag, es wurde immer kälter, wartete ich auf Silvester. Es roch überall nach geschmorten Schweineknochen. Es begann zu schneien. Nicht einmal ein halber Tag war vergangen, bis Hausdächer und Straßen mit dickem Schnee bedeckt waren. Selten waren Passanten zu sehen. Fahrzeuge rutschten. Der Schnee drückte die Baumzweige langsam in die Tiefe. Ein halber Mensch kroch wie ein Hund auf der Straße und hinterließ zwei tiefe Spuren. Ich schrie laut: „Pa!“ und lief auf ihn zu. Er tat so, als hätte er nichts gehört und kroch mit gesenktem Kopf weiter. Ich fiel auf die Knie, um ihm aufzuhelfen. Er schob mich weg: „Lass mich! Du Bastard!“ Ich erschrak. Die Hälfte seiner Haare war weg; eine sogenannte „YinYang-Frisur“. Sein Gesicht war mit Blutkrusten bedeckt, an seinem Bart hingen einzelne Schneekristalle. An seinen Händen und beiden Knien formten sich Schneehaufen, wie vier aus Baumwolle angefertigte Stützen. Er kroch in Richtung Lagerhaus. Sein rechtes Bein wurde die ganze Zeit schlaff und bewegungslos hinterher gezogen. Gerade wegen des gebrochenen Beines war er zum Kriechen gezwungen. Ich schaute zurück, die beiden Spuren, lang und tief, schlängelten sich von seinem Unterleib bis zur Straßenbiegung. Sie waren auffälliger als Wagenspuren. Es schien, sein Körper wäre schwerer als ein Lkw.

      Ich hockte mich wiederholt hin, um ihm zu helfen. Er schob mich mit noch mehr Kraft weg und brüllte mich an: „Fass mich nicht an, fass mich mein ganzes Leben nicht mehr an! Ich habe immer gedacht, jemand anderer hätte mich gemeldet und ich kann nicht glauben, daß du das getan hast! Du hast Tausendjahr sogar verraten, ich hätte dir Masturbation beigebracht. Bist du eigentlich sein Sohn oder mein Sohn? Hau ab, je weiter, desto besser! Komm nie mehr in meine Sichtweite.“ Mein Vater schimpfte und setzte sein Kriechen fort. Er konnte nicht wissen, noch zwanzig Meter, und er würde sehen, daß sein Zuhause für immer verschwunden war. Es waren drin nur heruntergerissene Ziegelsteine. Schlimmer noch, er wusste nicht, daß Blümchen verschollen und meine Mutter gestorben war. Er stellte sich vor, daß sein Bett, seine Kanne für gekochtes Wasser und sein Zuhause alles noch dort existierten. Ich wollte ihm das alles

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