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grinste. »Ich nenne ihn so, weil er beinahe überall auf der Welt gewesen ist. Ein echter Weltenbummler eben. Erst vor Kurzem ist er zurück nach Sylt gekommen. Kai ist ein alter Schulfreund von Jan und hat mehrere Jahre im Ausland gearbeitet, unter anderem in den USA, Südamerika und Indien. Er ist Softwareentwickler oder etwas in der Art. Ganz genau habe ich es nicht verstanden. Jedenfalls war er neulich bei uns und hat eine Menge Geschichten erzählt. Er führt mit Sicherheit ein aufregendes Leben, aber für mich wäre das nichts. Außerdem bin ich mit meinem Leben äußerst zufrieden, auch ohne um den gesamten Erdball getingelt zu sein. Wir leben auf Sylt, was will man mehr! Oder was meinst du? Anna?«

      »Was?«

      »Hörst du mir eigentlich zu?«

      »Entschuldige, Britta, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Was sagtest du?«

      »Vergiss es!«

      »Nun sei nicht eingeschnappt.«

      »Bin ich nicht. War nicht so wichtig«, wiegelte sie ab. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie eine Strähne aus ihrem Sichtfeld streichen, dabei legte sie leicht den Kopf in den Nacken. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie beleidigt war.

      »Eben ist ein Rettungswagen zum Feuerplatz gefahren«, begründete ich meine vorübergehende Ablenkung. »Vielleicht ist etwas passiert?«

      »Das will ich nicht hoffen!«

      Mittlerweile war es nach 18 Uhr, und alle Anwesenden warteten voller Ungeduld darauf, dass sich der Fackelzug endlich in Bewegung setzte. Obendrein wurde mir trotz warmer Kleidung zusehends kälter und Christopher langweilig. Er machte seinen Unmut deutlich, indem er zu nörgeln begann und ständig an meiner Jacke zupfte. Von Nick hatte ich seit seinem Weggang nichts gehört. Nahezu unbemerkt hatte sich die Dunkelheit über die Insel gelegt.

      »Ich hoffe, es geht bald los, bevor ich vollkommen steif gefroren bin«, sagte ich an Britta gewandt, deren Gesicht beinahe vollständig von ihrer dicken Fellkapuze verschluckt wurde. Lediglich ihre blauen Augen blitzten munter hervor.

      »Dein Flehen wurde erhört. Da drüben werden die ersten Fackeln entzündet. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es losgeht«, bemerkte sie und zauberte ein Feuerzeug aus ihrer Jackentasche hervor. »So, dann wollen wir mal. Gib mir deine Fackel!«

      Die Flamme griff gierig nach der mit einer brennbaren Flüssigkeit getränkten Fackel, die umgehend mit hellem Lichtschein zu brennen begann. In kürzester Zeit befanden wir uns inmitten eines Lichtermeeres aus orange-gelben, unruhig zappelnden Feuerpunkten. Seit Tagen wurden auf der Insel in den meisten Geschäften Fackeln verkauft, oder man erhielt sie als kostenlose Zugabe beim Einkaufen. Im Vergleich zum vergangenen Jahr, in dem bis zum letzten Moment nicht feststand, ob die Biiken aufgrund des stürmischen Windes überhaupt stattfinden konnten, herrschte heute fast Windstille. Nun gab der Anführer des Musikzuges das Signal zum Aufbruch. Ein Trommelwirbel erklang, und gleich darauf setzte sich der lange Fackelzug, bestehend aus Einheimischen und Gästen, in Richtung des Feuerplatzes am Morsumkliff mit Trommeln und Trompeten in Bewegung. Der Marsch, begleitet von der Musik und den vielen Lichtern, bescherte mir regelmäßig eine Gänsehaut. Seitdem ich meinen Lebensmittelpunkt nach Sylt verlegt hatte, verstand ich erst die Leidenschaft für das Ereignis, mit dem die Menschen in Nordfriesland diesem Brauchtum begegneten, und wollte es selbst nicht mehr missen. Diese tief verwurzelte Tradition, um die sich zahlreiche Geschichten ranken, symbolisiert nicht nur das Ende des eisigen Winters, der mithilfe der Feuer vertrieben werden soll, sondern steht für die nordfriesische Heimatliebe und das ehrliche Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Einheimischen. Im Jahre 2014 erhielt dieser Brauch sogar einen Platz im nationalen Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Unter die Einheimischen mischte sich von Jahr zu Jahr eine stetig steigende Anzahl an Gästen, die eigens zum 21. Februar anreisten, um den Feuern beizuwohnen.

      Nach wenigen Minuten Fußmarsch erreichten wir den Feuerplatz und positionierten uns vor dem gigantischen Berg aus aufgeschichteten Tannenbäumen, Gestrüpp und Stroh. Etwas weiter abseits standen mehrere Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr, davor war für den Glühweinverkauf ein langer Tresen aufgebaut worden, an dem mehrere Mitglieder der ortsansässigen Feuerwehr die Getränke verkauften. Wie im vergangenen Jahr wurde der Glühwein aus Mehrwegbechern mit Pfand ausgeschenkt, um einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten. Der eine oder andere Becher mit dem Logo der Feuerwehr landete mit Sicherheit als Erinnerungsstück im Gepäck einiger Touristen, vermutete ich.

      »Ich möchte behaupten, der Berg ist im Vergleich zum letzten Jahr um einiges größer geworden«, bemerkte Jan beim Anblick des aufgeschichteten Stapels.

      »Da! Mann oben!« Christopher zeigte aufgeregt mit dem Finger auf die menschengroße Stoffpuppe, die an einem langen Holzpfahl befestigt war. Sie war von den Kindern der Jugendfeuerwehr Morsum angefertigt worden.

      »Ja, da baumelt der Pidder, mit Latzhose und Gummistiefeln«, erklärte Britta lachend und strich ihrem Patenkind über die Wange.

      »Idda«, wiederholte Christopher und sah Britta mit großen Augen an.

      »Genau, der Pidder. Gleich wird er lichterloh brennen und läutet das nahende Ende des Winters ein.«

      »Genau genommen ist das ganz schön grausam, wenn du mich fragst«, überlegte ich beim Anblick der Strohpuppe. »Das erinnert an die Hexenverbrennungen im Mittelalter.«

      »Das gehört zur Biike dazu. Obwohl …« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. »Solange es sich tatsächlich nur um eine Stoffpuppe handelt, ist alles gut. Man weiß ja nie!«

      »Was willst du damit andeuten?«

      Augenblicklich prustete Britta los. »Ach, Anna! Dich kann man wirklich leicht aus der Fassung bringen.«

      »Haha, sehr lustig!«, gab ich beleidigt zurück.

      »War nur Spaß! Da kommt übrigens Nick!«

      Ich drehte mich um und erkannte meinen Mann in Begleitung von Uwe und Tina, wie sie sich den Weg durch das dichte Gedränge in unsere Richtung bahnten. Kaum hatten sie sich zu uns gesellt, ergriff der Bürgermeister das Wort, begrüßte die Anwesenden und hielt eine flammende Rede, in der er sich unter anderem den Themen Tourismus, Wohnsituation der Einheimischen und dem Bahnverkehr zwischen der Insel und dem Festland annahm. Allesamt echte Dauerbrenner. Zunächst wurde die Ansprache traditionell auf Söl’ring, dem Sylter Friesisch, und anschließend auf Hochdeutsch gehalten. Zu guter Letzt erklang der Ruf »Tjen di biiki ön«, und Dutzende von Fackeln flogen ins Geäst. Die zehrenden Flammen ließen die Biike in Windeseile in einem hellen Feuerschein erstrahlen, begleitet von Zischen und Knacken des trockenen Materials. Anschließend wurde die inoffizielle Sylter Hymne von Christian Peter Christiansen angestimmt, die ich – wie ich zu meiner Schande gestehen musste – noch immer nicht auswendig konnte und von einem kleinen Spickzettel ablesen musste.

      Üüs Söl’ring Lön’

      Üüs Söl’ring Lön’, d übest üüs helig;

      Dü blefst üüs ain, dü best üüs Lek!

      Din Wiis tö hual’en, sen wü welig;

      Di Söl’ring Spraak auriit wü ek.

      Wü bliiv me di ark Tir forbün’en,

      Sa lung üs wü üp Warel’sen.

      Uk diar jaar Uuning bütlön’fün’en,

      Ja leng dach altert tö di hen.

      Kumt Senenskiin,

      Kum junk of lekelk Tiren,

      Tö Söl’wü hual’Aural;

      Wü bliiv truu Söl’ring Liren!

      Unser Sylter Land

      Unser Sylter Land, du bist uns heilig,

      Du bist unser Eigen, du bist unser Glück!

      Deine Art zu halten, sind wir willig.

      Die Sylter Sprache vergessen wir nicht.

      Wir bleiben

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