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seinem Leben.

      »Ich stamme von hier«, sagte der Kommissar auf einmal, als wäre er gerade aufgewacht, »und ich verstehe nicht, wie das gehen soll, jemandem den letzten Nerv rauben, aber das Leben dieses jungen Mannes kann ich mir sehr gut vorstellen. Er schien von ganz woanders herzukommen«, erklärte Croce mit ruhiger Stimme, »aber es gibt kein ganz woanders.« Er blickte seinen Assistenten an, den jungen Inspektor Saldías, der ihm auf Schritt und Tritt folgte und nie widersprach. »Es gibt kein ganz woanders, wir sitzen alle im selben Boot.«

      Weil er sich elegant kleidete, Ehrgeiz besaß und sehr gut plena in den dominikanischen Lokalen von Harlem tanzte, bot man Durán Mitte der Sechzigerjahre mit gerade einmal zwanzig eine Stelle als Eintänzer im Pelusa Dancing an, einem Tanzcafé in der 122. Straße. Und weil er flink war, weil er Humor hatte, weil er immer zu Diensten und loyal war, stieg er rasch auf. Schon nach kurzer Zeit begann er in den Casinos von Long Island und Atlantic City zu arbeiten.

      Alle im Dorf konnten sich noch gut daran erinnern, was für ein Staunen seine Geschichten hervorgerufen hatten, jene Anekdoten aus seinem Leben, die er in der Hotelbar mit leiser Stimme, als handelte es sich um vertrauliche Mitteilungen, zum Besten gab, während er Gin Tonic trank und Erdnüsse knabberte. Keiner wusste, ob die Geschichten wahr waren, aber das störte niemanden. Sie lauschten ihm, dankbar, dass er sich bei ihnen aussprach, bei diesen Provinzlern, die dort lebten, wo sie geboren worden waren, genau wie ihre Eltern und Großeltern, und die den Lebensstil von Leuten wie Durán nur aus der jeden Samstag im Fernsehen laufenden Krimiserie mit Telly Savalas kannten. Er verstand nicht, warum sie seine Lebensgeschichte hören wollten, die, wie er sagte, nicht anders war als jede andere. »Ehrlich gesagt gibt es kaum Unterschiede«, meinte er, »das Einzige, worin sie sich unterscheiden, sind die Feinde.«

      Nach einer Weile im Casino weitete Durán sein Geschäftsfeld aus und fing an, Frauen zu erobern. In gewisser Hinsicht war es eine Fortsetzung seiner Arbeit als Croupier. Er hatte einen sechsten Sinn dafür entwickelt, das Vermögen wohlhabender Damen zu schätzen und sie von den Abenteurerinnen zu unterscheiden, die bloß gekommen waren, um sich irgendeinen reichen Fisch zu angeln. Es waren winzige Details, die seine Aufmerksamkeit erregten, eine gewisse Vorsicht beim Setzen, ein absichtlich zerstreuter Blick, eine leichte Nachlässigkeit bei der Wahl der Kleidung oder eine Art zu reden, die er augenblicklich mit Wohlstand verband. Je reicher, desto wortkarger, war seine Erfahrung. Er war äußerst geschickt darin, Frauen dieses Schlages zu erobern. Er widersprach ihnen, provozierte sie, doch gleichzeitig behandelte er sie mit einer geradezu kolonialen Höflichkeit, die er von seinen aus Spanien stammenden Großeltern beigebracht bekommen hatte. Bis er eines Nachts zu Beginn des Dezembers 1971 in Atlantic City die argentinischen Zwillingsschwestern kennenlernte.

      Die Belladona-Schwestern waren Töchter und Enkelinnen der Dorfgründer, von Einwanderern, die ihr Glück gemacht hatten, als der Feldzug gegen die Indianer seinem Ende zuging, und seitdem große Ländereien in der Gegend von Carhué besaßen. Ihr Großvater, Oberst Bruno Belladona, war mit der Eisenbahn gekommen und hatte Land erworben, das heute von einer nordamerikanischen Firma verwaltet wird. Ihr Vater, der Ingenieur Cayetano Belladona, lebte zurückgezogen im alten Herrenhaus der Familie. Er litt an einer seltsamen Krankheit, die ihn zwar am Gehen hinderte, nicht jedoch daran, weiterhin die Geschicke des Dorfes und des Bezirks zu lenken. Er war ein einsamer, unglücklicher Mann, der seine beiden Töchter (Ada und Sofía) über alles liebte und sich mit seinen zwei Söhnen (Lucio und Luca) zerstritten und sie daraufhin aus seinem Leben verbannt hatte, als hätte es sie nie gegeben. Wenn der alte Belladona betrunken war, dachte er, der Unterschied zwischen den Geschlechtern sei das Geheimnis sämtlicher Tragödien, dass Frauen und Männer nicht derselben Spezies angehörten, wie Katzen und Geierfalken. Und er fragte sich, wer bloß auf die Idee gekommen war, sie miteinander leben zu lassen? Die Männer wollen dich töten und sich gegenseitig umbringen, und die Frauen wollen während der Siesta in dein Bett oder – falls das nicht geht – miteinander in irgendeine andere Kiste steigen, phantasierte der alte Belladona.

      Er hatte zweimal in seinem Leben geheiratet, die Zwillinge stammten von seiner zweiten Frau, Matilde Ibarguren, einem exaltierten Modepüppchen aus Venado Tuerto, während er die Söhne mit einer Irin mit feuerrotem Haar und grünen Augen gezeugt hatte, die das Landleben nicht ertragen konnte und erst nach Rosario und schließlich nach Dublin floh. Das Seltsame war, dass die Jungen den überspannten Charakter ihrer Stiefmutter geerbt zu haben schienen, während die Mädchen der Irin glichen. Sie waren rothaarig und so fröhlich, dass sie jeden zum Strahlen brachten, sobald sie irgendwo auftauchten. Gekreuzte Schicksale nannte Croce das, die Kinder erben die gekreuzten Tragödien ihrer Eltern. Und der Sekretär Saldías, der dabei war, sich die Gebräuche und Gewohnheiten seiner neuen Bestimmung anzueignen, notierte aufmerksam die Beobachtungen des Kommissars. Saldías war erst vor Kurzem auf Wunsch der Staatsanwaltschaft, die den allzu widerspenstigen Kommissar kontrollieren wollte, in das Dorf versetzt worden und bewunderte Croce, als wäre er der größte Ermittler2 in der argentinischen Geschichte. Mit großem Ernst schrieb er alles nieder, was der Kommissar, der ihn gelegentlich seinen Watson nannte, von sich gab.

      Jedenfalls verliefen die Lebenswege der Schwestern Ada und Sofía auf der einen und die der Brüder Lucio und Luca auf der anderen Seite lange Jahre getrennt voneinander, so als gehörten die beiden Geschwisterpaare unterschiedlichen Stämmen an. Erst Tony Duráns Erscheinen führte sie wieder zusammen. Es war um Geld gegangen, um einen Koffer voller Zaster, und es sah so aus, als hätte der alte Belladona etwas mit einer Geldübergabe zu tun. Einmal im Monat fuhr der Alte nach Quequén, um die Verschiffung des Getreides zu überwachen, das für den Export bestimmt war. Für das Getreide erhielt er eine Ausgleichszahlung in Dollar, die ihm der Staat mit der Absicht, die internen Preise stabil zu halten, zukommen ließ. Seinen Töchtern vermittelte er seine eigenen moralischen Grundsätze, ließ sie tun, wozu sie Lust hatten, und zog sie groß, als wären sie seine einzigen Kinder.

      Von klein auf waren die Belladona-Schwestern rebellisch. Sie hatten vor nichts Angst, und es machte ihnen Spaß, pausenlos miteinander zu wetteifern, nicht etwa, um die Unterschiede zwischen ihnen herauszustreichen, sondern um an ihrer Symmetrie zu feilen und herauszufinden, bis zu welchem Grad sie einander glichen. Im Winter ritten sie nachts über die mit Reif überzogenen Felder, um Viscachas zu jagen, wagten sich in die sumpfigen Gebiete am Fluss vor, badeten nackt in der stürmischen Lagune, nach der der Ort benannt war, und jagten Enten mit der zweiläufigen Büchse, die ihr Vater ihnen zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Da sie für ihr Alter, wie man so sagt, recht weit entwickelt waren, wunderte sich niemand, als sie – beinahe von einem Tag auf den anderen – aufhörten zu jagen, zu reiten und mit den Landarbeitern Fußball zu spielen und sich stattdessen in zwei vornehme junge Damen verwandelten, die ihre so gut wie immer identische Kleidung in einem englischen Modegeschäft in der Hauptstadt anfertigen ließen. Zur selben Zeit begannen sie auf Wunsch des Vaters, der wollte, dass sie so schnell wie möglich über die Ländereien verfügten, Agrarwissenschaften in La Plata zu studieren. Man erzählte sich, sie seien stets zusammen unterwegs gewesen, hätten die Prüfungen mit Leichtigkeit bestanden, weil sie das Land besser kannten als die Professoren, und dass sie ihre Liebhaber untereinander getauscht und ihrer Mutter Briefe geschrieben hätten, in denen sie ihr Bücher empfahlen und sie um Geld baten.

      Als ihr Vater einen schweren Unfall erlitt und fortan halb gelähmt war, gaben sie das Studium auf und zogen zurück ins Dorf. Es gab zahlreiche Vermutungen, was dem Alten zugestoßen sein könnte: ein Pferd habe ihn abgeworfen, als es von einem aus Norden kommenden Heuschreckenschwarm überrascht wurde, und er habe die ganze Nacht lang mitten auf dem Feld gelegen, während ihm die Insekten mit ihren sägeartigen Beinen über das Gesicht und die Hände krabbelten; er habe einen Herzinfarkt erlitten, als er eine Paraguayerin im Puff der Bizca vögelte, und das Mädchen habe ihm das Leben gerettet, weil sie, fast unbewusst, mit ihrer Mund-zu-Mund-Beatmung weitergemacht habe; oder er habe eines Tages entdeckt, dass ihn eine nahestehende Person – wobei er den Gedanken verdrängte, dass es sich dabei um einen seiner Söhne handeln könnte – vergiften wollte, indem sie ihm winzige Dosen eines Antizeckenmittels in den Whisky mischte, den er gewöhnlich in den frühen Abendstunden in der blumengeschmückten Galerie zu sich nahm. Als er begriffen habe, was vor sich ging, müsse das Gift bereits einen Teil seines Werks verrichtet haben, denn kurze Zeit später habe er seine Beine schon nicht mehr bewegen können.

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