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erblickt, als es erbleichend ausrief:

      »Mein Gott, ich kenne diese Handschrift!«

      »Was sagen Sie, Anna?«

      »Ja, sie ist es«, stammelte Anna, die noch einmal zitternd das Billett gelesen hatte, »es ist die Handschrift eines jungen Mannes, den ich einige Male an dem Krankenbett eines armen Greises gesehen habe.«

      »Und wissen Sie, wo er wohnt?«

      »Er bewohnt mit seiner Mutter dasselbe Haus, in dem der kranke Greis wohnt, den wir unterstützen.«

      »In welcher Straße?«

      »R.gasse Nr. 10.«

      »Wissen Sie seinen Namen nicht?«

      »Er heißt Richard Bertram.«

      Franz wollte reden, aber der Schreck hatte ihm die Zunge gelähmt. Starr sah er einen Augenblick die zitternde Anna an, dann fragte er noch einmal:

      »Bertram – sagen Sie?«

      »Richard Bertram«, wiederholte Anna, indem sie die Zeilen betrachtete und in Tränen ausbrach.

      Franz bemerkte den Schmerz der Jungfrau nicht, denn sein Schreck hatte sich plötzlich in eine Freude verwandelt, dass auch ihm die Tränen in die Augen traten.

      »Richard Bertram«, rief er, »und seine Mutter wohnt bei ihm! Ach, Anna, teure Anna, wissen Sie auch, dass der Name, den ich führe … Doch nein«, brach er ab, indem er mit Ungestüm die Hände der Jungfrau ergriff, »ich kann Ihnen noch nichts sagen, ehe ich beide nicht gesehen und gesprochen habe. Sind Sie auch gewiss, dass er Bertram heißt?«

      Anna schien die Worte nicht gehört zu haben; wie aus einer Betäubung erwachend fragte sie:

      »Woher wissen Sie, dass dieser arme Mensch sich das Leben nehmen will? Ach, Herr Franz, ich beschwöre Sie, eilen Sie ihm nach und versuchen Sie, diesen fürchterlichen Plan zu verhindern. Eilen Sie, eilen Sie!«

      »Ja, ich eile, Anna, denn es drängt mich, eine unerlässliche Pflicht zu erfüllen! Bald sehe ich Sie wieder!«

      Mit den letzten Worten flog der junge Mann auf das Haus zu.

      Anna ging bestürzt in ihr Zimmer zurück.

      Zehn Minuten später fuhr ein Wagen über den Platz vor Herrn Hubertus’ Haus auf die Vorstadt zu. Er brachte den ungeduldigen Franz zu der Witwe Bertram und ihrem Sohn.

      * * *

      Es war noch früh, als Richard Bertram das Dachstübchen betrat, das er am Abend zuvor mit dem Vorsatz, der armen Mutter durch seinen Tod eine Zufluchtsstätte vor Mangel und Elend in dem Hospital zu sichern, verlassen hatte. Wie ein Mensch, der nicht weiß, was mit ihm geschehen ist, ließ er den Blick für einige Sekunden durch das Zimmer schweifen, um seine Sinne zu sammeln, und nur zu bald überzeugte ihn die armselige Umgebung von der Trostlosigkeit seiner Lage. Ein Fieberfrost durchbebte seine Glieder; erschöpft sank er auf einen der harten Holzstühle nieder.

      Der junge Mann konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben, da Frau Bertram sich bereits bei ihrem kranken Nachbarn befand und die Rückkehr ihres Sohnes nicht bemerkt hatte. Den brennenden Kopf in beide Hände gestützt, saß der arme Dichter an seinem Schreibtisch und gedachte der Ereignisse, die sich vor Kurzem zugetragen hatten. Wie Bilder einer kranken Fantasie zogen sie an ihm vorüber, ohne ihn aufzuregen; sie entrückten ihn sogar der Gegenwart und gewährten eine Unterhaltung wie die Träume dem Fieberkranken im halb wachen Zustand. Richard durchlebte im Geist noch einmal die jüngste Vergangenheit; er empfand deren Leiden und Freuden wie ein Träumender, der weiß, dass er träumt, aber sich den Armen des mächtigen Schlummergottes nicht entreißen kann – ruhig und willenlos ließ er sich leiten; als seine Gedanken aber dort ankamen, wo die Vergangenheit sich von der Gegenwart schied, zerriss plötzlich der Schleier, der seinen Geist umzog, die Wirklichkeit erinnerte ihn an die Schrecken der Zukunft und eine dumpfe Verzweiflung bemächtigte sich des Armen, dass er seinem Lebensretter, statt ihm zu danken, fluchte.

      In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und Franz erschien auf der Schwelle.

      »Dem Himmel sei Dank«, rief er freudig bewegt, »da ist er!«

      »Was wollen Sie?«, fuhr ihn Richard an, indem er mit zornigen Gebärden aufsprang, als ob er ihm den Eintritt verwehren wollte. »Was wollen Sie? Überlassen Sie mich meinem Schicksal!«

      »Richard Bertram«, sprach Franz in einem ruhigen, wehmütigen Ton, »so empfangen Sie Ihren besten Freund?«

      »Meinen Freund? Ich habe keinen Freund auf dieser Welt«, antwortete Richard düster; »wollen Sie aber den Mangel dafür gelten lassen, so muss ich bekennen, dass er mir schon seit Langem ein treuer Gefährte ist. Wer hat Ihnen meinen Namen und meine Wohnung genannt?«

      »Die Vorsehung«, rief der junge Kaufmann, indem er eintrat und die Tür schloss; »ja, die Vorsehung durch einen seiner Engel!«

      »Die Vorsehung!«, wiederholte der Dichter bitter lächelnd. »Ich beneide Sie um diesen Glauben.«

      »Lästern Sie nicht, mein Freund, sie lässt sich nicht verleugnen, und ich hoffe, Ihnen Beweise liefern zu können.«

      »Sie, mein Herr, Sie?«

      »Ja, ich, mein armer, armer Freund! Doch zuvor lassen Sie mich ein wenig erholen, denn ich bin noch ganz bewegt. – O mein Gott«, fuhr er nach einer Pause fort, in der er das armselige Zimmer betrachtet hatte, »dieser Mangel, dieses Elend! Und hier, hier …!«

      Ein heller Tränenstrom rann über die Wangen des jungen Mannes; er musste sich abwenden, um einige Augenblicke zu weinen. Verwundert blickte ihn Richard an, denn es war der erste Mensch, der seinem Schicksal eine Träne weinte.

      »Sie sehen, mein Herr«, sprach der Bewohner des Dachstübchens ruhig, aber in einem bitteren Ton, »dass es einträglicher ist, mit einem Gänsekiel Zahlen zu schreiben als mit einer Adlerfeder Gedanken. Die Poeten werden Bettler, die Kaufleute füllen ihre Kassen; die Handelsherren bauen Paläste, die Dichter werden auf die Straße geworfen. Wenn dies die Werke der Vorsehung sind, haben Sie Grund genug, an eine solche zu glauben.«

      »Richard«, rief Franz, »ich verzeihe Ihnen den Ausbruch Ihrer Verzweiflung und begreife ihn vollkommen, nachdem ich Ihre Lage kennengelernt habe. Wo ist Ihre Mutter?«

      »Sie sitzt, wenn ich nicht irre, an dem Krankenbett meines blinden Nachbarn, der ebenfalls den Vorzug hat, ein Dichter zu sein und zu hungern.«

      »Bevor ich Sie bitte, mich ihr vorzustellen, habe ich mit Ihnen zu reden. Wollen Sie mich ruhig anhören?«

      »Nein, nein!«, rief Richard mit Heftigkeit, »lassen Sie mich. Was können wir uns gegenseitig sagen? Sie haben mir das Leben gerettet – das ist ein Dienst, für den ich Ihnen nicht danken kann; Sie haben mir eine Stelle angeboten – das wäre etwas: Ich will aber von Ihren Wohltaten keinen Vorteil ziehen, und ich denke, ich habe das Recht dazu. Ich will so lange frei und unabhängig in meiner Dachstube bleiben, bis man mich hinauswirft, und da dieser Termin nicht mehr fern ist, gönnen Sie mir die kurze Frist der Ruhe. Ich lasse Ihren edlen Absichten volle Gerechtigkeit widerfahren, aber ich gebe Ihnen zu bedenken, dass man die Leute nicht gegen ihren Willen zum Dank verpflichten soll und dass mit Aufdringlichkeit fortgesetzte Wohltaten lästig werden!«

      »Richard«, rief Franz und sah dem Heftigen mit dem Ausdruck der höchsten Freundschaft in das rollende Auge, »Sie wissen in diesem Augenblick nicht, dass es Ihnen unmöglich ist, mich zu beleidigen!«

      »Und warum unmöglich?«, fragte der Dichter, dem die Äußerung des freundlichen Franz eine willkommene Gelegenheit bot, eine Beleidigung herbeizuführen, um das Gespräch, in dem er zu unterliegen fürchtete, abzubrechen. »Warum unmöglich? Vielleicht weil Sie reich sind und ich ein armer Teufel bin? Das ist eine von den gewöhnlichen Unverschämtheiten der übermütigen Emporkömmlinge!«

      Betroffen über diese Worte sah Franz den jungen Dichter einen Augenblick an;

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