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und körperliches Elend, Himmel und Erde haben sich verbunden, meiner Mutter das Leben zu verbittern! Und mir war es nicht vergönnt, ihr schützend und helfend zur Seite zu stehen! Während der Schmerz um den verlorenen Sohn ihr selbst die lichten Augenblicke trübte und sie mit Herzeleid erfüllte, genoss ich die Freuden eines sorgenfreien Lebens, ich, das Kind, das sie beweinte! Meine arme, arme Mutter!«

      Erschüttert warf er sich in Richards Arme.

      »Richard«, sprach Frau Bertram, ohne emporzublicken, und der Ton ihrer Stimme schien ein anderer geworden zu sein, »Richard, du liebst diese Anna, ich weiß es. O sie ist schön wie der junge Mai, der die Rosen blühen lässt, und gut wie der Engel der Wohltätigkeit! Liebe sie, mein Sohn, doch bleibe ihr treu und verrate sie nicht. Ach, der Verrat ist fürchterlich für eine liebende Braut, er zerstört das Herz und raubt den Seelenfrieden.«

      »Mutter, Mutter«, unterbrach Richard die Redende mit Heftigkeit, »was lässt Sie glauben …?«

      »Erröte nicht, mein Sohn, du liebst einen würdigen Gegenstand«, fuhr die Kranke fort. »Ich habe die Verse gelesen, die du ihr geweiht hast; sie sind schön und kommen aus dem Herzen. Geh, mein Sohn, und sage deiner Anna, dass ich sie segne! Siehst du, dort steht sie an dem Bett des blinden Greises – sie neigt sich zu ihm und flüstert ihm Hoffnung zu. Das goldene Kreuz auf ihrer Brust senkt sich zu dem Kranken herab, seine zitternden Hände erfassen es – er küsst das heilige Zeichen, dann entschlummert er. Anna weint und verlässt das Zimmer.«

      Der Dichter hat sich abgewandt; er kann die forschenden Blicke des erstaunten Bruders, die bald auf ihm, bald auf der Mutter haften, nicht ertragen; Röte und Blässe wechseln auf seinem Gesicht, denn er sieht das unglückseligste Geheimnis seines Lebens verraten.

      »Bruder«, flüsterte er bebend, »sie redet im Wahnsinn, glaube ihr nicht; der kranke Geist sieht Dinge verwirklicht, die Eitelkeit und Mutterliebe vielleicht geträumt haben. Siehst du, wie sie starr vor sich hinblickt? Sie weiß nicht, dass wir bei ihr sind; die arme Sinnverwirrte schafft sich eine eigene Welt.«

      Franz erbleichte, denn er erinnerte sich, dass Anna ihm diesen Morgen gesagt hatte, sie habe die Witwe Bertram und ihren Sohn an dem Krankenbett eines Greises kennengelernt. Und war sie es nicht selbst, die ihm die Wohnung des Dichters bezeichnet hatte? Sprach die Mutter nicht von dem kranken Nachbarn, bei dem sie Anna in der Ausübung ihrer bekannten Wohltätigkeit gesehen hatte, und trug das junge Mädchen nicht stets ein goldenes Kreuz auf der Brust, das einst die verstorbene Mutter getragen hatte? Einige Augenblicke hatten ausgereicht, durch diese Reflexionen die Gewissheit zu erlangen, dass es seine Anna war, von der die kranke Mutter sagte, Richard liebe sie. Wäre ihm noch ein Zweifel geblieben, so hätte ihn Richards peinliche Verlegenheit verscheucht, denn sein Gesicht glühte wie Feuer; er wagte die Blicke nicht von der Mutter abzuwenden, mit der er sich beschäftigte, da sie leise ihr Haupt hatte sinken lassen und wie ein erschöpftes Kind eingeschlafen war.

      »Sie schläft!«, sprach der Dichter nach einer Pause, indem er seinen Arm unter ihren Kopf legte, damit er die harte Lehne des Holzstuhles nicht berührte.

      Franz stand regungslos in der Mitte des Zimmers; ein Sturm von Gedanken durchwogte seinen Kopf, der wie in Fieberhitze brannte.

      »Bruder«, unterbrach Richard nach einigen Augenblicken das Schweigen, »öffne die Tür des Schlafgemachs, damit ich unsere Mutter auf ihr Lager bringe, denn ihr Schlaf ist anhaltend und fest.«

      Mechanisch sah sich der Angeredete in dem Stübchen um. Dann ging er leise zu einer kleinen Tür, die sich ihm in der schwarzen, ihrer Bekleidung durch das Alter beraubten Wand zeigte, und öffnete. Entsetzt wich er zurück, als er den Ort erblickte, den Richard mit dem Wort Schlafgemach bezeichnet hatte, denn es war nur ein kleiner halbdunkler Raum, der durch ein enges Dachfenster so viel Licht erhielt, dass Franz einen alten Strohsack und einige zerlumpte Kissen wahrnehmen konnte, die in einem Winkel am Boden lagen. Diese Armut hatte sich der junge Mann nicht gedacht, er hatte sie nicht einmal für möglich gehalten.

      Noch ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, hob Richard mit beiden Armen die schlafende Mutter empor, trug sie in die Dachkammer und legte sie auf das elende Lager nieder. Nachdem er eine alte Decke über sie gebreitet hatte, trat er in das Zimmer zurück und schloss die Tür wieder. Franz, von Schmerz überwältigt, war zu Boden gesunken und rang weinend die Hände.

      »Richard«, rief Franz, indem er sich erhob, »noch heute musst du mit unserer Mutter diese Wohnung verlassen! Furchtbar, furchtbar! Ist dies ein Aufenthalt für Menschen? Ein Gefängnis, ein Grab ist es!«

      »Und dennoch gönnen uns die Menschen dieses Grab nicht«, antwortete der Dichter bitter. »In vierzehn Tagen lässt uns der Besitzer dieses Grabes auf die Straße werfen, wenn wir den schuldigen Mietzins nicht zahlen; die Ankündigung dieser gesetzlichen Expedition ist bereits erfolgt. Begreifst du nun, warum ich mir ein Grab in den Wellen suchte? Es ist das Einzige, das man nicht mit Geld zu erkaufen braucht.«

      »O meine arme, unglückliche Mutter!«

      »Und dennoch glaube ich kaum, dass sie zu bewegen sein wird, diese Wohnung zu verlassen.«

      »Warum?«, fragte der Kaufmann erstaunt.

      »Weil sie sich von ihrem kranken Nachbarn nicht trennen will. Sie ist dem armen blinden Greis mit einer solchen Freundschaft zugetan, dass sie ihr eigenes Elend vergisst und nur auf seine Pflege bedacht ist.«

      »O mein Gott! So muss ein Mittel gefunden werden, sie dazu zu bewegen. Doch was ist mit dir, Richard?«, fragte Franz, indem er die Hand des Bruders ergriff und ihm bittend ins Auge sah.

      »Sorge für die Mutter«, sprach der Dichter rasch; »weiß ich sie in sicherer Obhut, finde ich meinen Weg durch das Leben. Mich lass ziehen; es drängt mich fort aus einem Land, wo selbst den Gedanken eine Grenze gezogen wird, wie dem Boden, auf dem wir stehen. Geh, sorge für die Mutter!«

      »Richard, du willst deine Mutter und deinen Bruder verlassen? Den Grund, den du mir angegeben hast, kann ich nicht gelten lassen; dich treibt ein anderer. Habe Zutrauen, teile dich mir mit, rede offen wie ein Bruder zu dem Bruder. Oder glaubst du, dass der Kaufmann, der unter seinen Registern aufgewachsen ist, dem Dichter an Großmut und Entsagung nachsteht? O nein, der trockene Geschäftsgang verdirbt weder Herz noch Gemüt, wenn er auch die Bildung des Geistes nicht fördert. Wohlan, willst du nicht offen sein, so will ich es; ich kann nicht von dir scheiden, bevor jedes Geheimnis verbannt ist. Du liebst Anna Hubertus, die Tochter meines Wohltäters!«

      »Bruder!«, rief Richard und sank Franz an die Brust, um sein Gesicht zu verbergen, denn mehr als je tobte die Leidenschaft in seiner Brust, seit die Jungfrau für ihn verloren schien – er konnte sie nicht mehr verbergen.

      »Nicht wahr«, fuhr Franz fort, die heiße Stirn seines Bruders küssend, »ich habe recht? – Jetzt schütte dein Herz aus, damit Klarheit herrscht zwischen uns; richtige Rechnung erhält die Freundschaft!«

      Die letzten Worte hatte der junge Mann in einem Ton gesprochen, der alle Fesseln zersprengte, mit der die Macht der ersten Liebe die Zunge des Dichters band. Er wusste selbst nicht, ob er der Pflicht, dem Bruder Vertrauen zu schenken, oder seinem eigenen Drang, sich mitzuteilen, folgte – kurz, er entwand sich den ihn umschlingenden Armen und rief mit glühenden Augen:

      »Ja, Franz, unsere Mutter hat die Wahrheit gesagt! Ja, ich liebe jenes junge Mädchen, das wie ein Cherub in der Hütte der Armut erschien und die Leiden des Kranken wie das wohltätige Licht der Sonne liebreich milderte. Ein Blick genügte, um das Bild der herrlichen Jungfrau tief meinem Herzen einzuprägen; wo ich ging und stand, sah ich nur sie; meine Gedanken, im Traum und im Wachen, bewegten sich um diesen lichten Punkt wie das Heer der Sterne um die gewaltige Sonne: Anna gab mir Trost in meinen Leiden und begeisterte mich zu meinen Arbeiten. Und diese Liebe war so rein, so hoffnungslos, dass ich nicht einmal nach ihrem Namen fragte; ich liebte sie wie meine poetischen Gebilde, ich liebte sie als den Inbegriff von Tugend und Schönheit. Das Schicksal führte mich in das Haus ihres Vaters; dort erblickte ich sie diesen Morgen im Garten und erfuhr ihren Namen und ihr Verhältnis zu dir. Ich entfloh, denn ich konnte die Wohltaten eines Mannes nicht annehmen, dessen verlobte Braut eine glühende Leidenschaft in mir entzündet hat; ich konnte es nicht, wenn

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