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blicken und verschlangen die Eintretenden wie ein schwarzes Grab. In den unteren Regionen dieser winkligen Straße milderte kein Lüftchen die zur Hitze gesteigerte Wärme des heiteren Maitages; als ob auch die Schönheiten des jungen Jahres keinen Zutritt zu dem Aufenthalt der Armut haben sollten, wehte hier eine schwüle, drückende Luft, die durch den Qualm, der hier und da aus einer Tür oder einem Fenster quoll, fast unerträglich wurde. Nur bleichen Gesichtern begegnete man, denen Not und Elend ihren Stempel aufgedrückt hatten.

      Wir treten ein in einen dieser schwarzen Schlünde. Eine kalte, dumpfe Kellerluft wird nach einigen Schritten fühlbar; rechts und links berührt die tappende Hand feuchte, schmutzige Wände, der Fuß strauchelt auf dem schlecht gepflasterten Boden und nur mit größter Vorsicht gelangt man nach einigen Minuten an eine steile Treppe, die sich durch ein altes, gebrechliches Geländer in der Finsternis bemerkbar macht. Wirft man nun einen Blick zurück, so zeigt sich der Eingang wie ein kleines, rundes Kerkerfenster, das matt von der scheidenden Abendsonne beschienen wird. Es gehört mehr als Überwindung dazu, den Weg fortzusetzen. Nachdem man zwölf bis fünfzehn Stufen in stockfinsterer Nacht erstiegen hat, gelangt man in eine Art Vorsaal, der durch eine kleine Öffnung in der Mauer nur so schwach erhellt ist, dass man die Fortsetzung der Treppe kaum erkennen kann. Wir ersteigen auch diese, eine dritte und vierte und treten dann auf einen kleinen Boden, der durch ein Dachfenster völlig erhellt wird. Der Treppe gegenüber befindet sich eine kleine Tür, etwas weiter rechts eine zweite. Neben dieser öffnet sich der rußige Eingang einer kleinen Küche, aus deren schwarzem Innern man einige auf dem Herd glimmende Kohlen gewahrt. Alles ist still, kein Geräusch, das die Bewohner dieses Raumes ankündigt, lässt sich vernehmen.

      Öffnen wir die erste Tür; ein Schlüssel befindet sich in dem Schloss derselben.

      Ein kleines, armseliges Stübchen nimmt den Eintretenden auf. Das niedrige Dachfenster ist geöffnet und gestattet der in dieser Höhe reinen Morgenluft freien Eingang. Eine Monatsrose, auf dem schmalen Fensterbrett aufgestellt, wird leicht von dem Luftzug bewegt und ein Strauß Veilchen, der in einem mit Wasser gefüllten Becher daneben steht, verbreitet einen lieblichen Geruch. Ein reinliches Bett, drei Stühle und ein Tisch, der so neben dem Fenster aufgestellt ist, dass er das volle Licht empfängt, bilden das ganze Mobiliar. Das Dachstübchen ist sauber ausgefegt, der Staub von dem kleinen Blechofen und den harten Holzstühlen sorgfältig entfernt, kurz, alles deutet an, dass hier am frühen Morgen eine sorgliche Hand gewaltet hatte.

      Wer ist der Bewohner?, wird der Leser fragen.

      Der Bewohner sitzt am Tisch und schreibt. Er ist ein Greis, dessen kahler, glänzender Scheitel nur noch von einem Kranz schneeweißer Locken umgeben ist, der mit zitternder Hand die Feder auf dem Papier führt und in großen Buchstaben seine Gedanken verkörpert. Das Alter scheint weniger den Geist als den Körper desselben geschwächt zu haben, denn man sieht ihm deutlich an, wie nur die bebende Hand und nicht der zögernde Erguss seiner Gedanken die Langsamkeit der Arbeit herbeiführt. Auch nicht einen Augenblick rastet die Feder, emsig fährt sie knirschend über das dicke, gelbe Papier, das in ganzen Bogen vor ihm auf dem Tisch liegt.

      Die Glocke der nahen Pfarrkirche verkündete die zehnte Morgenstunde; hell erklangen die Töne zu dem kleinen Fenster herein. Der Greis legte die Feder nieder, schob das beschriebene Papier sorgfältig zusammen und verschloss es in dem Kasten seines Arbeitstisches. Den Schlüssel verbarg er in einer Seitentasche seines langen grauen Rockes; dann erhob er sich und durchmaß in kurzen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, sein Zimmer. Öfter blieb er am Fenster stehen und gab sein bleiches, von einem langen, weißen Bart umflossenes Gesicht der frischen Morgenluft preis.

      Es mochten wohl zehn Minuten vergangen sein, als die Promenade durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Der Greis blieb in der Mitte des Zimmers stehen und rief mit zitternder Stimme: »Herein!« Die Tür öffnete sich und eine Frau trat ein.

      »Wohin, Frau Bertram?«, sprach der alte Mann erstaunt. »Sie haben sich ja herausgeputzt, als ob Sie einen Ball besuchen wollten?«

      Und mit Recht konnte der Anblick dieser Frau Erstaunen erregen. Sie mochte schon einige Jahre über die Vierzig hinaus sein, aber noch war ihr bleiches Gesicht schön zu nennen. Ein großes blaues Augenpaar, von feinen schwarzen Wimpern umgeben und starken geschweiften Brauen beschattet, bildete einen schönen Kontrast zu den langen schwarzen Haaren, die, fantastisch geordnet und mit großen, künstlichen Blumen geschmückt, das Haupt umwallten. Ein weißes, etwas schmutziges und altmodisches Kleid, hier und da mit bunten Schleifen geschmückt, umfloss die schlanken, aber abgemagerten Glieder, und ein bunter, ebenfalls veralteter Fächer vollendete das Bizarre ihrer Erscheinung. Der seltsame und unheimliche Glanz, der aus den Augen strömte, gab indes Aufschluss über die arme Frau; er zeigte deutlich an, dass sie eine von jenen unglücklichen Geschöpfen war, denen der Schöpfer den Gebrauch ihres Verstandes versagt hatte. Es gab jedoch auch lichte Augenblicke in dem Leben dieser Armen, und jeder, der sie dann kennenlernte, wurde doppelt mit Schmerz und Jammer erfüllt, wenn er sie wieder in diesem trostlosen Zustand erblickte.

      »O ja, Herr Wilibald, ich gehe auf einen Ball«, entgegnete die Frau, indem sie vor den kleinen Spiegel trat, der die Wand des Zimmers schmückte, und sich selbstgefällig betrachtete. Ein Lächeln umspielte dabei den Mund der armen Frau, das den Greis mit Entsetzen erfüllte.

      »Liebe Frau«, fuhr der Greis fort, als ob er zu einem Kind spräche, das man durch freundliches Zureden von einem gefassten Vorsatz abzulenken gedenkt, »liebe Frau, es ist noch nicht Mittag, und Sie wollen schon auf einen Ball gehen? Bleiben Sie zu Hause, bis es Zeit dazu ist.«

      »Ich muss früh dort sein«, sprach Frau Bertram, »denn auch er wird früh kommen! Wissen Sie, dass ich mich recht freue, den schönen Mann in seiner glänzenden Uniform zu sehen? Er war lange, lange fort – doch heute kommt er auf den Ball. O ich habe schon oft mit ihm getanzt!«

      »Soll ich denn allein bleiben, liebe Nachbarin? Wer wird mir zu Hilfe kommen, wenn ich wieder krank werde? Warten Sie doch nur, bis Ihr Sohn Richard zurückkehrt.«

      Der Ausdruck des Gesichts der armen Wahnsinnigen änderte sich bei diesen Worten; der ungewisse Blick des Auges richtete sich starr auf den Greis, der ängstlich einen Schritt zurückwich und sich zitternd an seinen Arbeitstisch lehnte. Obgleich er den Zustand seiner Nachbarin kannte, so war es doch heute das erste Mal, dass er sie so erblickte. Regungslos verharrte die Frau einige Minuten in ihrer Stellung; ihr schwacher Geist schien sich mit Mühe von dem einmal erfassten Gegenstand abzuwenden, um zu einem anderen, Schmerz und Wut erregenden überzugehen. Endlich begann sie in abgebrochenen Worten, während Tränen den Blick umflorten:

      »Meinen Sohn Richard … sagen Sie? Ganz recht, ich habe einen Sohn … aber sein Vater ist tot … der arme junge Mann hat keinen Vater mehr … jener vornehme Herr hat ihn ermordet … sehen Sie, wie sein Degen blitzt? … Dort liegt mein Gatte in seinem Blut … sieh Richard … sieh … dein Vater ist tot … und ich trage die Schuld an seinem Tod … ja, ich … nur ich allein! O mein Gott, mein Gott!«

      Die Erinnerung an ihren Sohn hatte die Fesseln gesprengt, die den Geist der Armen umschlungen hielten; die Mutterliebe lichtete die Nacht des Wahnsinns und machte ihre allmächtige Kraft geltend. Laut schluchzend sank sie zu Boden, stützte ihren Kopf auf den neben ihr stehenden Stuhl und weinte still vor sich hin. Der Greis schüttelte schmerzlich bewegt sein kahles Haupt, indem er eine Träne im Auge zerdrückte; dann ging er, als ob er die Aufwallung seines Blutes verhindern wollte, einige Male im Zimmer auf und ab, während der Schmerz der Frau sich in Tränen ergoss.

      »O mein Gott«, unterbrach Frau Bertram nach einigen Minuten das Schweigen, »o mein Gott, gibt es denn keine Wiedervergeltung hier auf der Erde? Sind die Gesetze und ihre Strafen nur für die Armut gemacht? Jaja«, fügte sie schmerzlich hinzu, »auch die Vorsehung scheint die Großen dieser Erde zu bevorzugen, während sich bei den Kleinen das Vergehen furchtbar rächt, selbst wenn der Arm der weltlichen Gerechtigkeit sie nicht ereilt!«

      »Frau Bertram! Frau Bertram!«, rief der Greis warnend. »Was lässt Sie glauben …?«

      »Ja, ja«, rief die Frau, indem sie sich rasch erhob, »ich habe ihn wiedergesehen!«

      »Wen?«, fragte Herr Wilibald.

      »Den

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