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so viele Überstunden angesammelt, dass Linthdorf noch bis in die erste Januarwoche des nächsten Jahres frei hatte. Auch ein paar Tage Resturlaub konnte er mit anhängen.

      Sein Posten als Leiter einer temporären Sonderkommission war ausgelaufen. Die SoKo löste sich wieder auf. Steuerfahnder, Computerexperten und Kriminalisten, die allesamt in dieser SoKo tätig waren, hatten genug Material, um damit für Monate die Auswertung voranzutreiben.

      Linthdorf zögerte einen Moment, bevor er die Rückruftaste drückte. Er ahnte, dass sein Urlaub wahrscheinlich vorzeitig beendet sein würde. Aber vielleicht war es ja gut, den Kopf mit etwas Anderem zu füllen als dieses ständige Hoffen und Harren an Louises Krankenbett.

      Aus dem kleinen Gerät ertönte eine leicht gereizte Stimme. Nun war es zu spät. Linthdorf räusperte sich und nannte seinen Namen.

      Es war Nägelein, genauer Kriminaloberrat Dr. Nägelein, Dienststellenleiter und direkter Vorgesetzter Linthdorfs.

      »Sagen Sie mal Lintdorf, wie lange haben Sie denn noch Urlaub? Wir backen hier im Moment ganz kleine Brötchen! Alles meldet sich zum Weihnachtsurlaub ab, trifft irgendwelche lang verschollene Onkel und Tanten und hat schon lange vorab Reisen in die Alpen oder an die Ostsee gebucht. Ich sitze hier fast ganz allein herum!!!«

      »Frohe Weihnachten, Chef. Wo brennt’s denn?«

      »Haha, frohe Weihnachten!!! Ihren Humor möchte ich einmal haben! Überall brennt es! Überall!!!«

      »Herr Doktor Nägelein, Sie haben mich doch nicht wegen dieser lapidaren Nachricht am Heiligabend angeklingelt. Also, was ist denn so dringend …«

      Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Ein Wortschwall folgte, dem Linthdorf nur wenig Konstruktives entnehmen konnte. Das rheinische Temperament seines Chefs war wieder einmal mit ihm durchgegangen.

      Linthdorf waren die Wortkaskaden schon vertraut. Das Wortgewitter war vorüber. Es ging um einen Todesfall in einem Obstgroßlager.

      Man hatte in einer Apfelmiete eine Leiche gefunden. Die Umstände des Auffindens und die Bekleidung der Leiche hatten bei der herbeigerufenen Streifenpolizei Alarm ausgelöst. Die Kollegen riefen umgehend beim LKA an. Nägelein hatte sich bereits auf ein beschauliches Weihnachtsfest eingestimmt, als ihn der Anruf erreichte. Außer ihm und der Sekretärin war die Dienststelle nicht besetzt. Nägelein selbst hatte schon seit Jahren keinen Außeneinsatz mehr geführt und die arme Sekretärin wäre wohl deutlich überfordert mit so einem Leichenfund …

      Linthdorf atmete tief durch. Das war’s! Er würde diese undankbare Aufgabe wohl oder übel übernehmen müssen.

      »Wo ist das Ganze denn passiert?«

      »Mensch, Linthdorf! Das vergesse ich Ihnen nicht, dass Sie mir aus der Patsche helfen.«, Nägeleins Stimme bekam jetzt sogar einen freundlichen Klang.

      »Ja, also draußen in Werder. Werder an der Havel. Kennse doch! Ach, wieso erkläre ich das überhaupt. Fahrnse einfach los. Ich schick Ihnen alles Wichtige per SMS rüber.« Dann legt er auf.

      Linthdorf schüttelte nur den Kopf. Er hatte seine Probleme mit dieser Art der Kommunikation, aber letztendlich blieb ihm nichts Anderes übrig, als sich mit Nägelein halbwegs zu arrangieren. Immerhin war er sein Chef.

      Es war inzwischen halb Zehn geworden. Wenn er Glück hatte, war die gesamte Tatortbesichtigung mitsamt Zeugenbefragung vor Ort bis zum Nachmittag gelaufen und er konnte sich der Bescherung bei seinen beiden Söhnen widmen. Er überlegte noch kurz, ob er sie anrufen sollte.

      Immerhin, es könnte ja später werden. Aber dann entschied er sich, erst einmal loszufahren. Vom Friedrichshain brauchte er eine knappe Stunde bis Werder.

      Heute war bestimmt wenig Verkehr, da alle Berliner sich schon auf den Heiligabend vorbereiteten.

      »Mieze, ich muss los! Benimm dich ordentlich und lass keinen rein. Ist das klar? Auch keine Pakete annehmen und nicht sinnlos durchs Fernsehprogramm zappen!«

      Damit verließ er die verdutzt dreinschauende Katze, die während des ganzen Telefonats vor ihm saß und ab und an ein Miau von sich gab.

       Das preußische Arkadien …

       ist eigentlich keine geographisch exakt festgelegte Region. Mit etwas Fantasie könnte man die Gegend rings um Potsdam, entlang der Havel bis hinein nach Berlin dazu zählen.

       Die arkadischen Gefilde sind wie kleine Inseln in die brandenburgische Landschaft eingebettet. All diese Schlösser, Paläste und Parks wurden von den ehrgeizigen Hohenzollern und ihren genialen Bau- und Gartenmeistern erschaffen.

       Fast dreihundert Jahre hat es gedauert, bis sich die märkischen Sumpfwiesen in elysische Parkauen verwandelten. Wer heute diese Gegend an der Unterhavel besucht, bekommt eine ziemlich genaue Vorstellung, warum diese einmalige Kulturlandschaft das preußische Arkadien genannt wird.

      III

      Phöben bei Werder/Havel

      Sonntag, 24. Dezember 2006

      Nägelein hatte Linthdorf nach Phöben geschickt, einem kleinen Dorf am Schwielowsee, das offiziell zur Stadt Werder gehörte. Die Verwaltungsstrukturen in Brandenburg hatten die Behörden optimiert. Alle kleinen Ortschaften wurden zu großen Gemeindeverbänden zusammengeschlossen oder den nächstliegenden Städten als Ortsteil angegliedert.

      Manche Städte hatten so eine Verdoppelung ihrer Einwohnerzahl und eine Vervielfachung ihrer Fläche bewerkstelligen können. Dem Städtchen Werder hatte man kurzerhand fast alle kleinen Schwielowsee-Dörfchen eingegliedert. Neben Phöben gehörten nun die vormals unabhängigen Orte Glindow, Töplitz, Kemnitz, Plötzin, Plessow, Bliesendorf, Petzow und Derwitz zu Werder.

      Das Städtchen Werder hatte zu DDR-Zeiten knapp zehntausend Einwohner, dank der Eingemeindungen hatte sich Werder zu einer beachtlichen Größe von über 23 000 Einwohner aufplustern können. Verwirrend war nun natürlich, dass man sich auf einer Fläche, die fast zehn Mal so groß war wie zuvor, auf Stadtgebiet befand, auch wenn nirgends ein Haus zu sehen war oder nur ein verlorener Außenposten die Illusion der Stadt erzeugte.

      Linthdorf wusste von dieser eigenartigen Verwaltungsstruktur, allerdings schien sein Chef sehr wenig damit vertraut zu sein.

      Phöben lag ein paar Kilometer abseits vom eigentlichen Werder. Die angegebene Adresse war noch einmal außerhalb von Phöben, mitten in den Obstplantagen, die jetzt im Dezember verlassen und trist aussahen. Linthdorf mochte diese eigenartige Kulturlandschaft mit den tausenden Apfel-, Kirsch- und anderen Obstgehölzen, die in langen Reihen die sanften Hügel um den Schwielowsee bedeckten.

      Sogar Weinreben waren hier wieder heimisch geworden. Direkt bei Phöben befand sich der Wachtelberg, der inzwischen wieder als Weingut offiziell von sich reden machte. Der Kommissar war kein Kostverächter, kannte die leichten und spritzigen Weißweine aus Werderaner Anbau und schätzte sie auch.

      Sommers war er öfter hier und kehrte auch gern in eine der vielen, neu entstandenen Gastwirtschaften ein, die den einheimischen Wein protegierten.

      Doch jetzt im tiefsten Dezember war von der Leichtigkeit und Geselligkeit des Sommers nichts mehr zu spüren. Ein kalter Nieselregen piesackte die Haut und der Wind hatte zugenommen und pfiff ihm mit einem unangenehmen Geräusch um die Ohren.

      Endlich sah er die große Lagerhalle, die inmitten einer großen Obstplantage stand. Ein paar Trecker standen in Reih und Glied vor dem Bau. Berge leerer Mieten stapelten sich direkt gegenüber. Linthdorf lief in ihrem Windschatten so schnell wie möglich zur Lagerhalle. Direkt am Eingang parkte ein Streifenwagen der örtlichen Polizeidienststelle.

      Linthdorf passierte eine Art Luftschleuse bevor er ins Innere der Lagerhalle kam. Im Innern war es ungewöhnlich kühl. Ihm fröstelte. Da waren ja die Außentemperaturen noch angenehm wohlig warm dagegen. Nur der Wind fehlte. Dafür vernahm Linthdorf das ruhige Summen von Kühlaggregaten, die für Kälte

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