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altertümliche Wort »Fräulein«, das von vielen emanzipierten Frauen als Beleidigung empfunden wurde. Fräulein Seidelbast jedoch wusste um die eigentümliche Bedeutung dieser Anrede Bescheid. Aus dem Munde Scholetzkis klang die Anrede nicht abwertend, nein, eher respektvoll und wohlklingend.

      Die Literaturwissenschaftlerin wusste um die Schönheit alter, aussterbender Wörter. Sie war im Stillen dankbar für die außergewöhnliche Anrede. Wahrscheinlich nirgendwo sonst würde sie diese akzeptieren.

      Im Kerzenschein beobachteten die beiden Bücherfreunde den Tanz der Teeblättchen, die in dem Glaszylinder auf und ab schwebten. Scholetzki holte aus den Tiefen seiner schwarzen Aktentasche ein aufwändig verpacktes Geschenk hervor.

      »Fröhliche Weihnachten, Fräulein Seidelbast, fröhliche Weihnachten wünsche ich Ihnen.«

      Er übergab der freudig strahlenden Assistentin das Paket. »Für mich?«, mit einem quiekenden Geräusch der Überraschung ergriff sie das kompakte Paket. Laut raschelnd entfernte sie das bunte Geschenkpapier. Ein Buch, ja, klar, was denn sonst. Die Frau hatte auch nichts Anderes erwartet. Es war ein Buch über die deutsche Romantik, speziell die romantische Berliner Literatur im Umfeld der Brüder Grimm.

      »Oh, danke! Woher wussten Sie …?«

      »Naja, das war ja nicht so schwer. Immerhin haben Sie sich mit den Brüdern Grimm lange genug beschäftigt.«

      »Stimmt!«

      Fräulein Seidelbast goss in die beiden Glastassen auf dem Tisch den Tee ein. Er hatte inzwischen eine satt bernsteinbraune Färbung angenommen. Scholetzki schlürfte geräuschvoll kleine Schlucke des köstlichen Gebräus. »Mein Gott, Fräulein Seidelbast! Was für ein Erlebnis ist dieser Tee. Woher holen Sie immer diese tollen Sorten?«

      »Sie wissen doch, als Studentin habe ich in einem Teeladen als Verkäuferin gearbeitet. Da hat man so seine Connections …«, dabei lächelte sie etwas hintergründig.

      »Übrigens, ich hab‘ da auch noch was für Sie. Ist vielleicht nicht wirklich wertvoll, aber es ist auf alle Fälle wirklich alt. Letzten Sonntag war ich mal wieder auf dem Trödelmarkt an der Museumsinsel. Einer der Buchhändler, den ich noch gut aus Studententagen kenne, hat mir einen interessanten Stapel alter Briefe, Prozessakten und Tagebücher aus dem Nachlass eines Sammlers überlassen. Für ihn unverkäufliches Material, Antiquare lehnen einen Ankauf ab, er hat keinen wirklichen Herkunftsnachweis für den Stapel. Naja, da habe ich an Sie gedacht.«

      Aufgeregt schwebte sie davon, kam in wenigen Sekunden wieder zurück und türmte vor dem verdutzt dreinschauenden Scholetzki drei große Stapel alter Folianten auf.

      Scholetzki nahm den zuoberst liegenden Folianten, blätterte darin, schob seine Brille nach vorn und sog gierig den Geruch des alten Papiers ein. Er war sofort begeistert.

      »Fräulein Seidelbast, Sie beschämen mich. Das ist mit Abstand das schönste Geschenk … Das ist ja hochinteressant. Kaiserzeit, möglicherweise 1880, 1890. Da habe ich über die Feiertage ja wirklich ein echtes …, also, wirklich, möglicherweise, ein eigener Beitrag für unsere Sammlung. Korrespondenz mit dem Kaiserhaus, Tagebücher eines Diplomaten …, also wirklich, ich bin sprachlos.«

      Fräulein Seidelbasts Gesichtszüge wandelten sich. Die etwas herben Züge mit den großen ausdrucksstarken, blauen Augen erstrahlten im vorweihnachtlichen Glanz. Plötzlich war sie wieder die junge Studentin, die klug und warmherzig inmitten ihrer Kommilitonen über Literatur diskutierte. Sie vermisste diese literarischen Debatten.

      Aber immerhin hatte sie einen Job, der mit Büchern zu tun hatte. Wenn es auch nicht die Art von Literatur war, für die sie sich eigentlich begeisterte. Aber in diesen schwierigen Zeiten war es nicht einfach, einen passenden Job zu finden.

      Scholetzki wandte sich dem nächsten Folianten zu. Auf dem zweiten Folianten war ein Etikett aufgeklebt. Es war schon stark vergilbt und eine Ecke war abgerissen. Mit Sütterlin-Schrift war ein Name auf dem Etikett verewigt.

      Scholetzki wischte den Staub auf dem Etikett mit dem Handrücken vorsichtig weg. Gestochen scharfe Buchstaben in alter Sütterlin-Schrift, mit Feder geschrieben. Er konnte einen Namen entziffern: Geheimrat Johann Heinrich Kieselblatt, Preußisches Oberlandesgericht zu Tegel.

      Linthdorfs Weihnachten

      Arkadier in der Mark

       Preußens Erbe,

       geronnen in Stein,

       Landschaften wie elysische Gärten,

       noch atmend den Geist von damals,

       als Prinzessinnen

       lustwandelten im Schatten

       alter Eichen, laut lachten,

       über Bürgerliche, die grad‘ auszogen,

       heroisch verklärten Blickes

       die Schlösser und Paläste zu erstürmen,

       die letztendlich als eine Nummer

       zu groß sich erwiesen.

      I

      Berlin, Mitte

      Sonnabend, 23. Dezember 2006

      Wieder war Linthdorf überrascht, wie wenig Weihnachten noch mit dem aufregenden Fest seiner Kindheit zu tun hatte. Jedes Jahr erwartete er die Zeit mit einer gewissen Hoffnung, dass sich das Hochgefühl aus der Vergangenheit wiedereinstellen würde. Doch der Dezember blieb ein dunkler Monat.

      Er hatte schon lange seinen Lichterglanz eingebüßt. Die Stadt allerdings wurde immer greller und lauter. Weihnachten war inzwischen ein Mega-Ereignis mit buntem Rummel, LED-Installationen, Eventshopping und lauten Popsongs, die alle mehr oder wenig etwas mit dem Fest zu tun hatten.

      Er mochte die neue perfekte Besinnlichkeit nicht. Es war von allem zu viel des Guten.

      Genervt verkroch sich Linthdorf in seinen vier Wänden und versuchte Weihnachten so weit wie möglich zu vergessen. Heiligabend wollten seine beiden Söhne für zwei Stunden vorbeikommen. Das war inzwischen auch schon eine Tradition. Seit seiner Trennung von Corinna vor sechs Jahren waren die Weihnachtsfeiertage eine komplizierte Gratwanderung zwischen Sentimentalität und Ignoranz.

      Die beiden Jungs holten ihn immer wieder aus seiner Weihnachtsdepression heraus. Sobald sie jedoch verschwunden waren, tauchte er umso tiefer in den Zustand ein.

      Einen Tag vor Heiligabend feierte Linthdorf mit seinem alten Freund Berni Voßwinkel. Normalerweise nahm auch Freddi Krespel an dem kleinen Umtrunk in einer Berliner Restauration teil.

      Freddi fehlte dieses Mal.

      Vor zwei Wochen hatte er einen Hörsturz. Linthdorf war bestürzt. Noch nie hatte Freddi Probleme mit seiner Gesundheit. Er war immer ein Fitnessapostel, rannte regelmäßig durch Berliner Parks, war Stammgast in diversen Wellness- und Fitness-Studios und saunierte mindestens einmal wöchentlich. Dazu ernährte er sich vollkommen gesund, knabberte zum Frühstück schon Radieschen und kippte überteuerte dünnflüssige Joghurtdrinks in sich hinein. Und nun das!

      Hörsturz!

      Eine Art Schlaganfall im Ohr. Typisch für Leute mit hektischem Alltagsleben und stressigen Berufen. Aber doch nicht Freddi!

      Linthdorf musste sich eingestehen, so richtig schien er seinen alten Freund Krespel wohl doch nicht zu kennen. Vielleicht war Freddis Alltag viel anstrengender als er dachte? Sein Job als Projektleiter bei einer größeren Immobilienfirma war kräfteraubend und permanent stressig.

      Linthdorf wusste das, da Krespel ihm öfter über seine Probleme auf Arbeit berichtete. Das Wort Mobbing war öfters zu vernehmen. Überstunden und Treten im Laufrad, nun ja, das war bei vielen Leuten ein Problem. Jeder zweite hatte ein Burn Out-Problem und jeder dritte war psychisch krank. Aber er musste

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