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sich aber zum Gehen.

      »Hallo«, rief Lina, »haben Sie den Dieb gesehen? Warten Sie doch. Ich bin beraubt worden.«

      Der Mann drehte sich um und sagte in gebrochenem Deutsch: »Wir nichts gesehen. Wir Touristen. In der Schweiz viele Drogen. Mit das wir haben nicht zu tun. Komm, Flavia.« Sie entfernten sich rasch.

      Lina blieb stehen, unfähig, vernünftig zu denken. Plötzlich bekam sie Angst. Bloß weg aus dieser dunklen, unbelebten Gasse, schnell zum Paradeplatz, wo es Menschen gab und Licht. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie rannte. Am Paradeplatz setzte sie sich erst mal auf eine Bank. Hier schien alles ganz normal. Ein Elfer fuhr ab, in Richtung Bellevue. Ein Dreizehner bog ein. Leute stiegen aus, andere warteten auf den Achter oder den Zweier. Das Touristenpaar war nirgends zu sehen. Vermutlich erholen sie sich in der Savoy Bar bei einem Cüpli von der schockierenden Konfrontation mit der Zürcher Gewaltkriminalität, dachte Lina wütend. Sie versuchte sich zu sammeln. Alles war weg. Geld, Ausweise, Handy, Skizzenblock. Nur die Schlüssel hatte sie noch, die trug sie in der Jeanstasche. Ich muss die Karten sperren lassen, dachte sie, aber ich habe die Telefonnummern nicht dabei und das Telefon ist auch weg. Ich muss Anzeige erstatten. Langsam, mit weichen Knien, ging sie in Richtung Urania, der Hauptwache der Stadtpolizei. Plötzlich blieb sie stehen. Die Mappe mit den 7000 Franken. Das hatte sie in den letzten zehn Minuten völlig vergessen. Konnte das mit dem Überfall zu tun haben? Sollte sie davon bei der Polizei etwas sagen? Sie entschied sich dagegen. Es wäre zu kompliziert, auch noch diese Geschichte aufzutischen.

      Sie betrat das Polizeigebäude, wandte sich an den Schalter, der besetzt war, setzte zu einer Erklärung an und merkte beschämt, wie sehr sie zitterte.

      »Meine Tasche ist«, begann sie und musste abbrechen, weil ihr plötzlich die Tränen kamen.

      »Sind Sie überfallen worden?«, fragte der Beamte und musterte sie.

      Lina fasste sich an den Kopf und spürte die Schwellung an ihrer Stirn. Sie nickte und schluckte. Sie kämpfte die Tränen nieder, beschimpfte sich innerlich: Lina, du legst hier keine Heulszene hin, reiß dich gefälligst zusammen, und dann gelang es ihr einigermaßen, geleitet von Fragen des Polizisten, den Tathergang zu schildern und ihre Tasche zu beschreiben.

      Große Hoffnungen machte ihr der Beamte nicht. »Gut möglich, dass wir die Tasche finden, aber wahrscheinlich leer«, bedauerte er.

      Er nahm das Protokoll auf, das Lina unterschrieb.

      »Möchten Sie jemanden anrufen?«, bot er an.

      Sie schüttelte den Kopf und ging. Dann stand sie wieder draußen, es war gegen 22.30 Uhr, ohne Geld, ohne Tramabo. Wie sollte sie nach Hause kommen? Hätte sie doch Valerie anrufen sollen? Nein, sie wollte jetzt gar nicht erzählen. Am liebsten hätte sie sich in ein Taxi gesetzt, aber dann würde sie vermutlich in Kürze wieder hier landen, abgegeben von einem empörten Taxifahrer wegen Nichtbezahlen der Fahrt. Laufen wollte sie auf keinen Fall, also kam nur Schwarzfahren infrage. Sie war plötzlich todmüde.

      Carlo Freuler schaute in den Garten hinaus. Das Licht in seinem Arbeitszimmer hatte er gelöscht. Das schon fast blattlose Geäst des Apfelbaums hob sich schwarz ab vom durch das Mondlicht etwas helleren Himmel. Kälte strömte ins Zimmer. Angenehme Frische. Von der nahe gelegenen Kirche schlug es 23 Uhr. Zeit hinunterzugehen. Ingrid saß sicher noch im Wohnzimmer und wartete auf ihn. Er schloss das Fenster und machte das Licht an. Das Mansardenzimmer war klein, kaum zehn Quadratmeter. Abgeschrägte Wände. Auf dem Fußboden ein verblichener Teppich. Niedrige hölzerne Bücherregale standen an den Wänden, vor dem Fenster sein Schreibtisch, übersät mit Notizzetteln. In der Mitte ein Computer, kein flacher Laptop, sondern ein massiges, sperriges Ding der vorletzten Generation. Diese wenigen Quadratmeter waren sein Reich. Hier war er wirklich zu Hause. Unten in der Wohnung fühlte er sich eher wie ein Besucher. Sicher, Ingrid, seine Frau, war dort. Aber auch seine Söhne, Fabian und Patrick, die ihm eigentlich fremd waren, gingen ein und aus, hörten Musik, die ihm nicht gefiel, brachten Freunde und Freundinnen mit, von denen er sich gestört fühlte. Als sie klein waren, hatte er sie als unverständliche Wesen empfunden. Kinderspiele langweilten ihn und später war er weiß Gott nicht der Vater gewesen, der ihnen beibringen konnte, Fußball zu spielen. Später, wenn sie größer sind, werde ich mit ihnen Gespräche führen können, hatte er gedacht. Aber bis jetzt war es nicht so gekommen. Der Ältere interessierte sich für Naturwissenschaften, der Jüngere vor allem für Sport. Carlo bezweifelte, dass sie in ihrer Freizeit Bücher lasen.

      In die Mansarde hinauf kam niemand außer ihm. Er berührte das dünne Bündel Papier, das er frisch ausgedruckt hatte. Zwei Seiten hatte er in den letzten drei Stunden überarbeitet, eine halbe neu geschrieben. Er arbeitete langsam. Er hatte keine Eile. Irgendwann würde sein Roman fertig sein. Irgendwann würde er sein Buch in den Händen halten. Es würde in den Buchhandlungen ausliegen, von den Feuilletons der bedeutenden Zeitungen rezensiert werden.

      Carlo ging hinunter. Ingrid lag im Wohnzimmer auf dem hellen Ledersofa. Das Licht war gedimmt. Die Einrichtung war modern, etwas kühl, viel Glas, wenig Holz. Sie war so, wie es Ingrid gefiel. Carlo überließ derlei Dinge am liebsten ihr, wollte gar nicht damit behelligt werden. Aber manchmal ging ihm doch durch den Kopf, ob seine Passivität nicht ein Fehler war, ob es nicht auch damit zusammenhing, dass er sich am Rand der Familie aufhielt. Hätte er es sich anders gewünscht? Carlo hätte es nicht sagen können. Es war einfach passiert, im Laufe der Jahre, und eine Wende in seinem Leben würde erst möglich sein, wenn sein Roman erschienen war, davon war er überzeugt. Als Ingrid ihn eintreten sah, legte sie ihr Buch weg, streifte die Kopfhörer ab und schaltete den CD-Player aus.

      »Na«, fragte sie, »fühlst du dich besser?«

      Er lächelte ihr zu. Nickte. Beim Abendessen war er missmutig gewesen, von einer gereizten Schweigsamkeit wie oft an den Tagen, an denen er für den Kantonsrat arbeitete. Er hatte wegen einer Nichtigkeit Fabian angefahren, der daraufhin unter Protest den Familientisch vorzeitig verlassen hatte. Ja, Carlo fühlte sich jetzt besser. Das Schreiben, die Stunden allein in seiner Mansarde machten ihn ruhig.

      »Magst du auch ein Glas Wein?« Ingrid deutete auf die Flasche, Carlo holte sich ein Glas. Wenn man Ingrid gefragt hätte, ob sie ihren Mann liebte, hätte sie zweifellos mit Ja geantwortet. Carlo gehörte zu ihrem Leben, zu ihrer Familie, sie war froh, wenn es ihm gut ging. Aber sie wäre mit ihrem Leben ebenso klargekommen, wenn Carlo nicht da gewesen wäre. Das war ihr bewusst. Manchmal fragte sie sich, ob Carlo das ahnte. Vielleicht kränkte es ihn, aber sie konnte es nicht ändern. Sie wusste auch, dass er ohne sie schlecht zurechtkommen würde. Das war ein großes Ungleichgewicht, aber es war eben so. Besser, man sprach nicht darüber. Natürlich merkten das auch Fabian und Patrick, und Takt und Feingefühl in Bezug auf die Eltern waren nicht gerade die Stärken von Heranwachsenden.

      »Sind die beiden da?«, fragte er, auf die Türen zu den Zimmern von Fabian und Patrick deutend.

      »Fabian ist schon zu Bett gegangen«, sagte Ingrid. Sie verschwieg, dass seine Freundin bei ihm war. »Patrick ist noch mit Freunden unterwegs.« Fabian war 17 und ging ins Gymnasium, Patrick 19 und studierte Chemie an der ETH. »Du warst schon ziemlich schlecht gelaunt«, fügte sie hinzu. So aufbrausend Carlo war, von seiner Frau ließ er sich das sagen.

      »Ich bewundere dich, wie ruhig du immer bleiben kannst«, meinte er seufzend.

      Sie lachte. »Ich tobe mich eben tagsüber aus. Quäle meine Patienten.«

      Ingrid war Zahnärztin und führte eine Praxis an der Löwenstraße. Eigentlich konnte Carlo nicht verstehen, was sie an diesem Beruf fand. Fremden Leuten, die Angst hatten, im Mund herumzufingern, konnte doch keinen Spaß machen. Aber sie war halt ein praktischer Mensch. Und Carlo hatte Verstand genug, um zu sehen, dass die ganze Familie, vielleicht vor allem er selbst, von ihrem Sinn fürs Praktische lebte. Nicht nur finanziell. Sie managte die Familie, organisierte den Haushalt, die Ferien, das diffizile Beziehungsleben zwischen den heranwachsenden Söhnen und einem Vater, der sich die meiste Zeit hinter eine Mansardentür zurückzog.

      Die Wohnungstür ging auf. Patrick kam herein. Er schwankte leicht, offenbar war er mit seinen Freunden Bier trinken gegangen.

      Er machte eine ironische kleine Verbeugung vor seinem

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