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und deshalb häufig auf dem Sekretariat anzutreffen war, so unfreundlich mit ihr umging. Lina, die es wusste, sagte nichts. Legler war ohnehin nicht die Herzlichkeit in Person, sondern eher der raubeinige Typ, aber Raffaela wurde von ihr regelrecht schikaniert. Gut, sie war kein Mäuschen, wusste sich schon zu wehren und konnte Legler recht spöttisch anblicken, aber oft sagte sie nichts, wenn diese an ihrer Arbeit herumkrittelte. Sie konnte nicht das Risiko eingehen, rausgeworfen zu werden, denn das hätte ihr bei der weiteren Stellensuche geschadet.

      Carlo hatte ein Protokoll einer Sitzung der Verkehrskommission, die über Mittag stattgefunden hatte, in Arbeit.

      »Die Noser hat ja keine Ahnung«, regte er sich auf. »Hat einen ellenlangen Antrag vorgetragen und nicht gemerkt, dass sie da etwas verwechselt hatte und er überhaupt nicht zum Thema passte. Was soll ich damit jetzt machen?«

      »Einfach streichen«, meinte Lina friedlich und nahm einen Schluck Tee.

      Aber Carlo hörte ihr gar nicht zu. »Und die Legler ist ja komplett unfähig, eine Sitzung zu leiten«, schimpfte er weiter, »keine Ahnung, wie man eine Diskussion strukturiert.«

      Lina sagte nichts, Raffaela kräuselte spöttisch die Lippen.

      »Also komm, die ist doch mit den Nerven runter wegen der Geschichte vom Samstag«, verteidigte sie nun Mario. »Da wäre jeder etwas mitgenommen.«

      Mario Bianchera war ein liebenswürdiger Mensch, der sich nie über andere das Maul zerriss. Er war Mitte 30, dunkelhaarig, etwas rundlich, von Beruf Politologe und Historiker. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren, die ihm arg zugesetzt hatte, lebte er allein. Seine achtjährige Tochter sah er am Wochenende. Er war ein Familienmensch und hatte Mühe gehabt, sich an diese Situation zu gewöhnen. Nachdem er längere Zeit melancholisch und still gewesen war, war er seit einigen Monaten wieder fröhlicher, momentweise fast übermütig. Ab und zu bekam er ein SMS, das, seiner Reaktion nach zu schließen, nicht von seiner Tochter stammte. Er liebte sie zwar zärtlich, aber das verträumte Lächeln deutete auf etwas anderes hin. Lina hatte sich gefragt, ob er wieder verliebt war. Sie hätte es ihm gönnen mögen. Hoffentlich ist es eine Frau, die zu ihm passt, hatte sie gedacht. Denn so umgänglich und friedfertig Mario war, hatte er doch auch seine Ecken und Kanten. Er hatte eine fast strenge Liebe zur Wahrheit. Notlügen oder Lügen aus Höflichkeit, mit deren Hilfe sich ja die meisten Menschen durch ihr Sozialleben hangelten, kamen für ihn nicht infrage. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, stand er dazu, und wenn er Kritik anzubringen hatte, tat er es, zwar sacht, aber klar, auch wenn es sich um den Ratspräsidenten oder ein Regierungsmitglied handelte. Auch seine kleine Tochter erzog er zur Ehrlichkeit. Lina hatte ihr einmal einen Lebkuchen geschenkt. Die Kleine hatte sich bedankt und dann hinzugefügt: »Es ist schade, dass ich Lebkuchen nicht so gern esse.« Das hatte sie in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Charme gesagt, sodass Lina ganz beeindruckt gewesen war. Mario war allgemein beliebt, aber, mutmaßte Lina, in einer Beziehung mochte Marios Hang zu Offenheit und Gerechtigkeit vielleicht manchmal auch anstrengend sein. Jeder war doch darauf angewiesen, dass man einmal fünf gerade sein ließ, dass man etwas ein bisschen zurechtbog, verschwieg oder im Unklaren beließ. Jedenfalls hatte Mario durchaus Verständnis für menschliche Schwächen und war der Einzige, der Angela Legler in Schutz nahm.

      Carlo zuckte die Schultern. »Dann soll sie sich krankschreiben lassen. Wäre eh eine Wohltat für alle«, brummte er.

      Es war nichts Neues, dass Carlo in Rage geriet. Nicht nur wegen Angela Legler, aber wegen ihr besonders. Er hasste seine Arbeit, und mit Legler war er in einen zähen Kleinkrieg verwickelt, in dem beide einander nichts schenkten. Legler war Ratslektorin, was bedeutete, dass sie es war, die das fertige Ratsprotokoll nochmals las und letzte Korrekturen anbrachte, die Lina oder Carlo dann ausführen mussten. In dieser Funktion, das war auch Lina klar, war sie eine Fehlbesetzung. Sie hatte kein Sprachgefühl, keine soliden Grammatikkenntnisse, dafür ein großes Durcheinander mit der neuen Rechtschreibung im Kopf. Das hatten Carlo und Lina zwar nach dem Hin und Her der letzten Jahre mittlerweile ebenfalls, aber im Unterschied zu Madame Legler waren sie nicht zu stolz, in Zweifelsfällen den Duden zu konsultieren. Die Politikerin war rechthaberisch und stur und da man kein fehlerhaftes Ratsprotokoll im Internet wollte, war es immer wieder eine heikle diplomatische Mission, sich einvernehmlich auf die richtige Lösung zu einigen. Eine Mission, die immer öfter Lina übernehmen musste. Denn von Carlo Freuler ließ sich Angela Legler gar nichts sagen. Das, zusammen mit deren Falschkorrekturen, trieb Carlo zur Weißglut. Lina nahm das Ganze nicht so persönlich und sie wurde nicht ganz so von oben herab behandelt, aber angenehm war der Job auch für sie nicht.

      Lina und Carlo hatten einmal Esther Jenny, die Leiterin der Parlamentsdienste, um Vermittlung gebeten. Aber sie, kurz vor der Pensionierung stehend, hatte keine Lust gehabt, sich in fremde Händel einzumischen.

      »Der Geschäftsleitung einen Antrag stellen, Frau Legler als Ratslektorin abzusetzen?«, hatte sie entsetzt gerufen. »Kinder« – Carlo war 55 und Lina immerhin 48 – »nein, das können wir unmöglich machen. Dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Seid einfach höflich zu ihr und zeigt ihr, was im Duden steht.«

      Also schlugen sich Carlo und Lina irgendwie durch.

      Carlo trank seine Ovomaltine aus und wandte sich an Lina: »Du gehst doch nachher noch auf diese Sitzung der AG KVK.«

      Lina wusste, was kommen würde.

      »Könntest du nicht diesen Protokollauszug da mitnehmen und Legler vorlegen? Sie sagt hier oben auf der Seite das Gegenteil von dem, was sie hier unten behauptet. Kannst du das mit ihr klären?«

      »Okay, mach ich.«

      Insgeheim hielt Lina auch Carlo für eine Fehlbesetzung in diesem Job und fragte sich, warum er ihn nicht einfach aufgab. Seine Frau war eine Zahnärztin mit einer gut laufenden Praxis. Sie verdiente sicher genug für die ganze Familie. Carlo, der Philosophie studiert hatte, war eigentlich Schriftsteller. Er schrieb seit Jahren an einem Roman, der immer dicker, aber nie fertig wurde. Er wäre sicher glücklicher, dachte Lina, wenn er den ganzen Tag unbehelligt in seiner Klause sitzen und schreiben könnte. Die Arbeit im Kantonsrat betrachtete er als eine Zumutung, als eine ständige Beleidigung seiner Fähigkeiten. Es machte ihm keine Freude, abgestürzte Sätze zu retten, aus einem unbeholfenen Sprachgebilde etwas Schönes zu machen, aus unzusammenhängenden Sprachfetzen einen Sinn herauszuschälen. Er verachtete die Ratsmitglieder, die er allesamt für strohdumm hielt. Es kränkte ihn tief, hierarchisch unter ihnen zu stehen und für sie eine Dienstleistung erbringen zu müssen, die sie nicht einmal zu würdigen wussten.

      Aber vielleicht brauchte es Carlo für sein Selbstwertgefühl, auch etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Jedenfalls sprach Lina nie mit ihm darüber, es ging sie ja nichts an. Sie packte ihre Sitzungsunterlagen und den Protokollauszug von Carlo in eine Kartonmappe, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sitzungszimmer.

      Es ging gegen 17.30 Uhr. Die Luft im Sitzungszimmer war verbraucht. Angela Legler, die als Präsidentin der AG KVK oben am Tisch saß, sah sich um.

      »Noch Wortmeldungen?«

      Niemand sagte etwas.

      »Dann sind die Meinungen also gemacht. Wir stimmen ab.«

      Die Kommission hatte die Linienführung des Fahrradwegs durch das Seefeldquartier diskutiert. Auf der mehrspurigen, dicht befahrenen Bellerivestraße kam ein Radweg nicht infrage. Es musste also entweder in der Dufourstraße oder der Seefeldstraße eine Lösung gefunden werden. Einfach war es nicht. Die Fläche, die zur Verfügung stand, war gegeben, Fußgänger, Autos, Räder mussten irgendwie aneinander vorbeikommen. Peter Spälti vom Raumplanungsamt hatte anhand von Skizzen erläutert, welche Varianten möglich waren. In der Seefeldstraße war der Platz auch wegen der Tramgleise eng. Besser sah es in der Dufourstraße aus. Aber die zweispurige Straße war nicht besonders breit, das Trottoir auch nicht, links und rechts hatte es, vor allem im oberen Teil, Restaurants, Geschäfte und Firmensitze. Der Zankapfel waren die Parkplätze. Würde man die aufheben, wäre Platz für einen Veloweg. Valerie Gut erklärte, wie wichtig es sei, in diesem langgezogenen Wohnviertel, in dem viele Familie lebten, eine durchgehende, sichere Radwegverbindung zu schaffen. Ruth Noser von der SP und der Grüne Simon Hefti plädierten für die Streichung

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