Скачать книгу

schauen, ob etwa sie das Opfer waren, aber auch andere, die ganz versessen darauf waren, von Lina gezeichnet zu werden, und ihr anboten, ihr Porträt zu kaufen. Denn es war bekannt, dass Lina Kováts auch Malerin war; eine kleine Galerie in Zürich stellte regelmäßig ihre Bilder aus. Lina fasste Ruth Noser ins Auge und begann, die Form ihres Kopfes zu skizzieren.

      Kurz vor 10 Uhr betrat Streiff das Rathaus. Um 10 Uhr war Sitzungspause und er war mit Angela Legler verabredet, die ihm die Drohbriefe zeigen wollte, die sie in Sachen Flohmarktschließung erhalten hatte. Punkt 10 Uhr gingen die Türflügel des Ratssaals auf und die Politiker strömten heraus – in Richtung Café. Eine Frau mit einem dunklen Pagenkopf ging an ihm vorbei und grüßte ihn. Streiff nickte unverbindlich zurück. Wer war das bloß? Ach ja, vielleicht Lina Kováts, Valeries beste Freundin. Die arbeitete doch hier. Mit ihr kam er gar nicht gut zurecht, ihre oft wechselnden Haarfarben überforderten ihn heillos. Er war froh, dass Valerie und Lina keinerlei Neigung zeigten, ihre Freundschaft auf die zugehörigen Männer, ihn und diesen Hannes Neubauer, auszudehnen. Er schaute ihr nach. Sie ging auf einen Mann zu, der die Treppe hinaufkam. »Carlo«, rief sie, »kann ich rasch etwas mit dir besprechen?« Er hörte, dass der Mann sie mit Lina ansprach und wandte sich ab. Da erschien auch schon Angela Legler. Streiff hoffte, dass sie sich nicht mehr an seinen Sarkasmus vom Samstag erinnerte. Er fragte nach ihrem Befinden, aber Legler hatte keinen Sinn für Konversation.

      »Kommen Sie«, sagte sie, »dort drüben sind wir ungestört.«

      Er folgte ihr und sie reichte ihm zwei Briefe. Der eine war von Hand geschrieben, eine leicht lesbare, flüssige Schrift, der Brief gut formuliert. In deutlichen Worten wurde der Politikerin vorgeworfen, dass sie ein wichtiges Stück Alternativkultur abwürgen wolle, dass sie sich nicht schere um die Bedürfnisse der finanziell Minderbemittelten in dieser Stadt, dass ihr der direkte Draht zur Bevölkerung fehle. Der Brief war unterschrieben und mit einer Absenderadresse versehen.

      »Das ist doch gar kein Drohbrief«, bemerkte Streiff. Hat die mich deswegen antraben lassen, fragte er sich gereizt.

      »Bitte«, Legler hielt ihm einen zweiten Brief hin.

      Dieser war auf dem Computer geschrieben und trug keine Unterschrift. Sie solle ihre Pfoten vom Flohmi lassen, wurde der Politikerin grob beschieden, sonst werde etwas passieren …

      Streiff nahm die Briefe an sich und versprach, der Sache nachzugehen. Besonders beeindruckt war er nicht, es gab erstaunlich viele Leute, die ihrem Unmut über behördliche oder politische Entscheide in anonymen Briefen Luft machten. Aber immerhin, Angela Legler war am Samstag ein Stein nachgeworfen worden.

      »Haben Sie einen konkreten Verdacht, von wem der Drohbrief stammen könnte?«, fragte er.

      Sie schüttelte den Kopf. »Mit Leuten von diesem Niveau verkehre ich nicht«, stellte sie klar. »Meine Wählerschaft benimmt sich anders.«

      Streiff ging darauf nicht ein. »Haben Sie am Samstag auf dem Flohmarkt jemanden bemerkt, der den Stein geworfen haben könnte? Haben Sie jemanden in einem bunten Pullover gesehen?«

      »Jeder aus dieser unerzogenen Bande könnte mich angegriffen haben«, fuhr Legler auf. Wirklich weiterhelfen konnte sie nicht.

      »Haben Sie Angst? Fühlen Sie sich persönlich bedroht?«, fragte er.

      »Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erklärte Legler stolz. »Ich habe einen Wählerauftrag.«

      »Bei der Flohmarktschließung haben Sie aber vor allem Unterstützung von der SVP, nicht von Ihrer Partei«, konnte sich Streiff nicht verkneifen anzumerken.

      »Das geht Sie gar nichts an«, klemmte sie ihn ab. »Sorgen Sie dafür, dass man sich in dieser Stadt frei bewegen kann, ohne zusammengeschlagen zu werden.« Sie wandte sich ab.

      »Zu Befehl«, murmelte Streiff.

      Die Pause ging dem Ende zu. Die Parlamentarier kamen grüppchenweise aus der Kaffeepause zurück. Ein großer massiger Mann mit Bürstenschnitt ging auf Angela Legler zu. »Na, geht es besser, Kiwi?«, fragte er.

      Kiwi? Streiff wunderte sich.

      »Sicher, so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen«, hörte Streiff sie antworten. Offenbar fand sie es völlig in Ordnung, Kiwi genannt zu werden.

      Lina Kováts setzte den Kopfhörer auf und drückte auf die Playtaste. Die Kantonsratssitzung war zu Ende, sie hatte von der Tonaufnahme der Sitzung noch im Rathaus eine CD gebrannt und ging nun in ihrem Büro im Kaspar-Escher-Haus daran, das Protokoll zu schreiben. Nach einleitenden Worten der Präsidentin, der Ansage, welches Geschäft behandelt wurde, war der erste Redner dran, der sich zur Steuersenkung äußerte. Lina hörte Heinrich Leuzinger, einen SVP-Vertreter: »Das Rezept der Linken, mit dem man die finanzielle Situation des Kantons beheben soll, lautet, sie zu erhöhen.« Lina brauchte nicht lange für die Korrektur, sie schrieb: Das Rezept der Linken, mit dem sie die finanzielle Situation des Kantons verbessern wollen, lautet, die Steuern zu erhöhen. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass er den Satz gesagt hatte. Manchmal kam sie sich bei ihrer Arbeit vor wie in einer Art Zeitschleife. Das erste Mal erlebte sie die Situation live, in Echtzeit, mit Bild und Ton, das zweite Mal auf den Ton reduziert, der aus dem Kopfhörer in ihren Kopf strömte, und das dritte Mal in abstrahierter Form, als Text auf dem Bildschirm oder als Papierausdruck. Jedes Mal war sie ein Stück weiter davon entfernt. Aber innerlich konnte sie sich die Stimmen der Ratsmitglieder auch noch vergegenwärtigen, wenn sie den redigierten Text auf Papier Korrektur las. Es war, als könnte sie die Sprechenden in einem bestimmten Moment in ihrer Vergangenheit festhalten, obwohl diese in ihrer Gegenwart schon ganz woanders waren und nicht ahnten, dass sie auf Linas CD gefangen waren in einem ewigen Montagmorgen.

      Sie korrigierte die Unvollkommenheit des gesprochenen Wortes. Druckreif reden – darüber konnte sie nur lächeln. Das hatte sie nur ein einziges Mal erlebt. Das Normale waren, auch bei Rednern, die gut rüberkamen und sich verständlich ausdrückten, angefangene Sätze, die syntaktisch im Nirgendwo endeten, Kaskaden von verschachtelten Nebensätzen, die abrupt geschnitten wurden von einer ganz anderen Konstruktion, Präpositionen, die ihr Verb im Stich ließen, Verben, die sich davongemacht hatten, als Nominative verkleidete Akkusativobjekte, falsche Bezüge, hinkende Vergleiche, Aussagen, die sich verzweifelt durch eine aus dem Ruder laufende Grammatik kämpften. Lina liebte das. Sie ging mit einer Mischung aus kühlem Sachverstand und Fürsorglichkeit ans Werk, verbesserte Verbformen und Fallfehler, glättete behutsam Holprigkeiten, strukturierte endlos lange Sätze, rückte ein schiefes Sprachbild gerade, fügte ein fehlendes ›nicht‹ ein, strich Füllwörter oder fügte eines ein, um eine akustische Betonung, die im Schriftlichen nicht direkt abzubilden war, nachzuvollziehen, stellte Satzteile um, um den Satz flüssiger zu machen. »Es gibt Überflüssiges, das nicht immer seinem Zweck zugeführt wird«, hörte sie aus dem Kopfhörer. Solche seltenen sprachlichen Kostbarkeiten gefielen ihr besonders. Unbeabsichtigte Paradoxa, die in der Debatte untergingen, aber bei ihr zum Vorschein kamen und die nur sie zu würdigen wusste. Was sie daraus machen sollte? Vielleicht würde sie es stehen lassen, einfach, weil sie es schön fand.

      Aber jetzt war es 15.30 Uhr. Kaffeepause, ihr Arbeitskollege Carlo Freuler hatte seinen Kopfhörer bereits abgestreift und stand auf. Nach der Pause musste sie noch zu einer kurzen Sitzung der AG KVK, um das Protokoll zu schreiben. Darauf freute sie sich, denn da würde sie Valerie treffen, die als Expertin in dieser Arbeitsgruppe saß; Valerie und sie waren seit Schulzeiten miteinander befreundet. Es gab im Kaspar-Escher-Haus für die Mitarbeitenden der Parlamentsdienste keinen eigentlichen Pausenraum, nur eine winzige, düstere Teeküche, an deren Tür die Farbe abblätterte, und auf dem Flur zwischen den Büros standen ein paar Tischchen und ein Getränkeautomat. DDR hatten sie dieses Gebiet getauft, bis vor einiger Zeit eine futuristisch aussehende Raucherkabine installiert worden war. Nun passte dieser Name nicht mehr ganz. Sie fanden sich bei der Teeküche zusammen, Carlo Freuler, der zweite Protokollführer, Mario Bianchera, der Kommissionssekretär der Parlamentsdienste, der Sitzungen organisierte und Berichte für die Kommissionen schrieb, und Raffaela Zweifel, die erst seit zwei Monaten da war. Sie ersetzte im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose des RAV die ständige Administrativsekretärin, die einen unbezahlten Urlaub genommen hatte, um in England einen Sprachkurs zu besuchen. Die junge Frau

Скачать книгу