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dachte, Accuracy International wäre pleite«, fachsimpelte Rünz.

      »Korrekt, Karl. Aber seit Mai 2005 auferstanden wie Phönix aus der Asche – mit neuem Management und neuen Modellen. Demnächst wollen die Jungs eine handliche kleine Artillerie im Kaliber 50 BMG auf den Markt bringen. Kanns kaum erwarten.«

      Rünz beneidete Brecker um seine Beziehungen zur Waffenindustrie. Er verließ die Gruppe, stellte seinen Koffer an einer freien Übungsbahn ab und widmete sich seiner Leidenschaft, der Arbeit mit großkalibrigen, kurzläufigen Revolvern, der perfekten Kombination von Durchschlagskraft und einfacher, solider Technik. Das einzige Zugeständnis an den technischen Fortschritt war die Double-Action-Mechanik seiner Ruger Super Redhawk Alaskan, die das Spannen und Auslösen der Waffe in einer Bewegung des Abzuges ermöglichte. Mit über 1.600 Joule Geschossenergie war sein Revolver gut für respektable Wanddurchbrüche, die Lauflänge von 2,5 Zoll erlaubte allerdings keine präzisen Schüsse auf größere Entfernungen. Er testete verschiedene Laborierungen, Kombinationen von Geschossen und Treibladungen, um sich nach und nach dem optimalen Kompromiss aus maximaler Schussleistung bei noch akzeptablem Rückstoß zu nähern. Nach wenigen Minuten war er völlig versunken in das heilige Ritual aus Konzentration, Schuss, Entspannung und Nachladen. Er verlor jedes Zeitgefühl.

      Rünz’ Frau hatte sich vor Jahren mit der ganzen Euphorie einer Junganalysandin, die glaubte, mit Freuds Lehre die Welt erklären zu können, auf die Deutung seines Hobbys gestürzt. Sie hatte das psychoanalytische Interpretationsuniversum auf ihr Telekollegniveau heruntergebrochen, auf dem Schusswaffen natürlich als phallisch besetzte Objekte auftraten, die die Omnipotenzfantasien ihrer Nutzer bedienten – sie waren lang, aus hartem Metall, ejakulierten auf Befehl und unter Kontrolle des Besitzers Geschosse, mit denen andere Objekte und Personen penetriert werden konnten. Für Rünz waren derlei analytische Deutungen so universal wie beliebig. In Wahrheit resultierte der Lustgewinn bei der Beschäftigung mit Waffen aus der bedingungslosen Hingabe an Funktion, Präzision und Qualität.

      Gegen 21.30 Uhr öffnete er seine Wohnungstür und hörte gedämpfte Unterhaltung aus dem Wohnbereich. Das Essen mit ihren Freunden aus der Pilates-Gruppe! Er fluchte leise. Sie hatte ihn morgens noch daran erinnert, aber er hatte es verdrängt wie einen Termin beim Zahnarzt. Er war über eine Stunde zu spät, aber er konnte sich jetzt unmöglich zu ihren Gästen an den Tisch setzen, ohne seinem Baby die Liebe und Zuwendung zuteil werden zu lassen, die es nach dem harten Einsatz auf dem Schießstand verdient hatte. Für diese sakrale Zeremonie zu Ehren der Herren Smith & Wesson gab es nur einen Altar – den Couchtisch. Er betrat das Wohnzimmer, den Waffenkoffer in der Hand. Seine Frau saß mit zwei Männern und ihrer besten Freundin beim Essen. Die Teller waren fast leer, anderthalb Flaschen Chablis geleert. Alle schwiegen und schauten ihn an.

      Rünz versuchte, mit einem lockeren und jovialen Auftritt die Stimmung positiv zu beeinflussen.

      »Hallo allerseits, bin ein bisschen spät dran. Ich hoffe, Sie haben mit dem Essen nicht allzu lange gewartet.«

      Er stand mit seinem Waffenkoffer in der Hand am Tisch, hielt es aber nicht für zwingend erforderlich, den Gästen die Hand zu geben. Seine Frau stellte ihn den beiden Männern vor, aber er hatte ihre Namen gleich darauf wieder vergessen. Die beste Freundin seiner Frau kannte er bereits, eine Kontrollfanatikerin, die sich ein Jahr zuvor von einem Brasilianer hatte scheiden lassen. Sie hatte diesen Mann ursprünglich geheiratet, weil er ihr auf eine liebenswerte Weise südländisch spontan und ungezwungen erschien. Die Scheidung wollte sie dann, weil er so planlos und unkoordiniert in den Tag hineinlebte. Wie viele geschiedene Frauen litt sie als Trennungsfolge unter einer zerebralen Dysfunktion. Fielen in ihrer Gegenwart Schlüsselworte wie ›Ehe‹, ›Trennung‹ oder ›Scheidung‹, fing sie an, in einer Art verbaler Diarrhöe ihre gesamte Beziehungs- und Ehegeschichte auszuscheiden. Sie hatte in dieser Hinsicht einen durch nichts zu bremsenden Mitteilungsdrang, sodass inzwischen sogar Rünz’ Frau einschlägige Gesprächsthemen vermied.

      Die beiden Männer am Tisch waren kaum zu unterscheiden, sie trugen beide halblange, etwas verwuschelte Haare, Brillen mit filigranen Titangestellen, Breitcordhosen und hochwertige, anatomisch geformte Bequemschuhe von Ecco oder Clarks. Sie vermittelten alles in allem den Eindruck aktiver und aufgeklärter Zeitgenossenschaft, akademische Mittelschicht, die sich in der Zivilgesellschaft engagierte. Rünz’ Synapsen feuerten spontan Assoziationsketten, die von Elternbeiratssitzungen über Anwohnerversammlungen, Manufactum, Krieg-ist-keine-Lösung, Deeskalierung und Vaterschaftsurlaub bis zu Arte-Themenabenden und Toskanaurlauben reichten.

      Er setzte sich in Sichtweite der Runde mit seinem Koffer auf die Couch und legte eine Korkmatte auf die Glasplatte des Tisches. Vorsichtig nahm er die Ruger aus dem Koffer, demontierte sie und sprühte die Einzelteile sorgfältig mit Hoppes Elite Foaming Gun Cleaner ein, einem exzellenten Schaumreiniger für Handfeuerwaffen mit bis zu 30 Prozent reduzierter Einwirkungszeit. Das Reinigungsmittel verbreitete einen leicht ätzenden Geruch im Raum, ein Duft, der auf Rünz die gleiche wohlig sedierende Wirkung hatte wie eine Flasche Bier.

      Die Gäste starrten ihn schweigend an, seine Frau spießte mit ihrer Gabel Tofuwürfel von ihrem Teller auf; sie stach regelrecht auf die unschuldigen Sojaprodukte ein. Schließlich versuchte sie, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen, ihre Tischnachbarn nahmen die Vorlage dankbar an. Im Kern drehte sich das Gespräch um bewusste Ernährung und die Frage, ob Veganer Vegetariern ethisch noch überlegen seien, somit also die höchste Stufe moralisch integrer Ernährungsformen für sich in Anspruch nehmen konnten.

      Rünz befreite den Lauf seiner Ruger mit einer Bronzebürste von Bleiablagerungen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Seine Frau war gekränkt, weil er über eine Stunde zu spät nach Hause kam, er konnte sie jetzt unmöglich noch dadurch kompromittieren, dass er sich nicht am Gespräch beteiligte. Er wartete den richtigen Moment ab, um in die Diskussion einzusteigen.

      »Wussten Sie eigentlich, dass Hitler Vegetarier war? Und ein großer Tierfreund noch dazu!«

      Schweigen. Die Gabel seiner Frau blieb regungslos auf halbem Weg zwischen Teller und Mund stehen, ein Tofuwürfel kam auf den Zinken ins Rutschen und landete knapp neben dem Rand ihres Tellers. Rünz spürte die Möglichkeit eines Missverständnisses und fühlte sich genötigt, eine Erklärung nachzureichen.

      »Ich meine, das ist doch faszinierend, diese Dualität. Ein Mensch hat keine Skrupel, Millionen in den Tod zu schicken, kümmert sich aber gleichzeitig mit viel Liebe und Zuwendung um Tiere. Ich habe ohnehin manchmal den Eindruck, dass große Tierliebe meist mit ebenso großer Menschenverachtung einhergeht. Was meinen Sie?«

      Seine Frau kippte sich den restlichen Chablis in ihr Glas und leerte es in einem Zug. Einer der Bequemschuhe fühlte sich herausgefordert. In diesem zivilisierten Citoyen mussten Reste urzeitlicher Triebe schlummern, die ihm befahlen, mit Rünz um die Dominanz im Rudel und die Gunst der Weibchen zu rivalisieren.

      »Sie wollen doch nicht ernsthaft Hitler als Maßstab nehmen für die moralische Bewertung von Menschen, die versuchen, sich bewusst zu ernähren!«

      »Natürlich nicht, da haben Sie mich missverstanden.«

      Rünz klappte die Trommel aus seiner 454er Casull, richtete die Waffe auf die Leuchte über dem Esstisch, drehte den Metallzylinder und peilte mit einem Auge durch die Patronenlager auf der Suche nach Verbrennungsrückständen.

      »Ich wollte die Thematik nur um einen interessanten Aspekt erweitern. Dinge sind oft komplexer, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Wie hat Freud doch so schön gesagt: Es sind die Heiligen, die die breitesten Blutspuren hinterlassen.«

      Seine Frau knallte die Gabel auf den Teller, ihre Freundin legte ihr die Hand auf den Unterarm. Der zweite Citoyen versuchte sich als Fahnenträger seines Tischnachbarn zu positionieren und die Gruppe geschlossen gegen Rünz in Stellung zu bringen.

      »Könnten Sie Ihre Waffe vielleicht in eine andere Richtung halten? Wir empfinden das als Bedrohung.«

      »Wen meinen Sie mit ›wir‹, haben Sie ein Verhältnis mit meiner Frau?«

      Rünz versuchte es mit Humor, aber es half nicht wirklich. Der Mann starrte erst ihn und dann seine Frau an. Er sah aus wie ein Schuljunge, der beim Diebstahl eines Radiergummis erwischt wurde.

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