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fest entschlossen, das Ruder herumzureißen. Wer weiß, vielleicht war dieser unglückliche Start der Beginn einer langen und intensiven Männerfreundschaft? Er wendete sich den beiden Zivilisten zu und ging in die Offensive. Er war bereit, sein Allerheiligstes mit ihnen zu teilen.

      »Sagen Sie, haben Sie nicht Lust, mich nächste Woche auf den Schießstand zu begleiten? Ich verspreche Ihnen ein einmaliges Erlebnis. Sie werden sich fühlen wie« – Rünz suchte sekundenlang nach dem richtigen Wort – »wie Männer.«

      Der Ermittler war sich nicht sicher, ob er die passende Formulierung gefunden hatte. Die beiden reagierten reserviert auf seine Einladung und verabschiedeten sich bald, die Ex-Frau des Brasilianers im Schlepptau. Als sie alleine waren, brach seine Frau einen furchtbaren Streit vom Zaun, warf ihm vor, er hätte sich total danebenbenommen. Rünz war perplex über die Intensität der Stimmungsschwankungen, die der weibliche Zyklus verursachen konnte.

      7

      Die Luft im Raum war zum Schneiden. Leere Thermoskannen standen auf dem Tisch. Bunter hatte eine halbvolle Tasse Kaffee umgekippt, den er mit drei Zuckerwürfeln angerührt hatte. Die Pfütze vertrocknete auf der Tischplatte zu einem klebrigen braunen Sirup.

      Rünz stand auf, ging zum Fenster und öffnete einen Flügel.

      »Herr Bunter, was ist mit der Jugendherberge?«

      Bunter seufzte.

      »Bis jetzt ohne Ergebnis. Und ohne genauere Eingrenzung des Todeszeitpunktes sollten wir uns auch keine größeren Hoffnungen machen. Wir haben einen unüberschaubaren Kreis möglicher Zeugen. Es gibt drei relevante Zeugengruppen – Gäste, Mitarbeiter und Handwerker, die bei Umbau, Modernisierung und Instandhaltung tätig waren. Nehmen wir die Übernachtungsgäste – das Haus wurde Anfang der 50er-Jahre vom DJV gebaut, zuletzt von Oktober 2003 bis Mai 2004 komplett umgebaut und modernisiert. Die Sonnenterrasse zum Woog ist jetzt überdacht und bildet den Essbereich. Die haben fast 20.000 Übernachtungen im Jahr, die Hälfte davon Jugendgruppen mit Leitern, die andere Hälfte Individualreisende, Familien oder Kleingruppen. Selbst wenn wir uns nur auf die Gruppenleiter konzentrieren, sind das mehrere 100 Leute – pro Jahr!«

      »Was ist mit dem Pächter und den Angestellten, nehmen Sie sich die zuerst vor.«

      »Wir sind dran, bis jetzt ohne Erfolg. Im Schnitt arbeiten 25 festangestellte Voll- und Teilzeitkräfte im Haus. Die Fluktuation ist relativ gering, sodass wir rund 60 Personen in den letzten 25 Jahren haben. Dazu kommen im Schnitt neun Zivildienstleistende, die sind natürlich immer nur für 9 Monate zur Verfügung, da kommt über die Jahre auch eine stattliche Gruppe zusammen. Die Zivis wohnen in der Herberge, in den Räumen unter der Kantine nach Süden zum See raus – zumindest die, die nicht aus der Region kommen. Die haben morgens bereits zweimal die Leichen aufgetriebener Ertrunkener vom Vortag entdeckt.«

      »Wohnt der Pächter im Haus?«

      »Hat er, bis zum Umbau 2003/2004. Aus seiner früheren Wohnung sind jetzt drei zusätzliche Schlafräume entstanden, alle mit Blick auf den See.«

      »Gut, machen Sie weiter mit den Angestellten und den Zivis, wir werden später sehen, wen wir uns von den Übernachtungsgästen vornehmen. Was ist mit diesen Woogsfreunden, Herr Meyer?«

      »Negativ. Hatte die Ehre, mit dem Vorsitzenden persönlich zu sprechen. Viele Anekdoten, nichts Verwertbares für uns. Bis auf eine interessante Geschichte …«

      »Schießen Sie los!«

      »Na ja, nehmen wir mal an, die Leiche liegt nicht erst seit zehn sondern schon seit 40 oder 50 Jahren dort, wir wissen ja noch nichts Genaues. Dann ist es möglicherweise diesen Woogsfreunden zu verdanken, dass sie nicht schon viel früher gefunden wurde.«

      Rünz und Wedel schauten ihn verständnislos an.

      »Ich sehe schon, ich muss da etwas ausholen. Anfang der 60er-Jahre trainierten im Woog deutsche Leistungsschwimmer für die Olympiade, da gehörte ein Darmstädter dazu, Hans-Joachim Klein …«

      »Little-Klein«, rief Wedel, »der hat doch 1964 in Tokio dreimal Silber geholt! Und der hat hier im offenen See trainiert?«

      Wedel war ein wandelndes Sportlexikon.

      »Richtig, mit der deutschen Staffel. Genau genommen einmal Silber auf vier mal 100 Meter Freistil, einmal …«

      »Gut, gut«, unterbrach Rünz. »Kommen Sie zur Sache.«

      »War übrigens das letzte Mal, dass eine gesamtdeutsche Mannschaft bei olympischen Spielen angetreten ist, wenn Sie mir die Bemerkung noch erlauben. Nach diesem Erfolg hatte der DSW hier natürlich richtig Oberwasser, die haben dann irgendwann gemerkt, dass man in einem offenen Gewässer nicht ordentlich trainieren kann. Die haben dann mit Schützenhilfe der SPD den Bau eines Hochleistungszentrums gefordert.«

      »Aber das wurde doch im Bürgerpark am Nordbad gebaut«, stellte Wedel fest.

      »Richtig, aber zuerst wollten sie es in den Woog setzen!«

      Rünz schüttelte den Kopf.

      »Ein Hallenbad in einem See? Wie kamen die denn auf diese Schnapsidee?«

      »Zuerst sollte das eine offene Wanne werden. Hat sich natürlich sofort Widerstand gebildet, war ja auch eine Schildbürgernummer. Die Jungdemokraten haben sich damals besonders engagiert, unterstützt von den Schlammbeißern und vielen Badegästen. Das war die Geburtsstunde der Woogsfreunde. Jedenfalls war 1973 die Diskussion abgeschlossen, der DSW hat sein Leistungszentrum bekommen, aber nicht im Woog, sondern im Bürgerpark, und die Heiner haben ihren Badesee behalten.«

      Rünz wurde ungeduldig.

      »Und was hat das jetzt mit unserem Toten zu tun?«

      »Sie können keine Betonwanne in den See setzen ohne das Wasser komplett abzulassen! Jedenfalls ging das mit den damaligen technischen Mittel nicht so einfach. Heute gibts da Spundwände und so weiter. Stellen Sie sich den freiliegenden Seegrund vor, da wäre doch eine halb aus dem Schlick ragende Leiche sofort aufgefallen!«

      »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann könnten die Jungdemokraten damals gegen die Woogswanne opponiert haben, damit der Juso-Vorsitzende nicht gefunden wird, den sie vorher im See versenkt haben. Wir sollten die Liberalen in der Stadtverordnetenversammlung in Beugehaft nehmen!«

      Bunter lachte.

      »Bei der Größe der Partei wird denen das auf Bundesebene einen schweren Schlag versetzen!«

      Meyer ließ sich von den Frotzeleien nicht beeindrucken.

      »Unsinn, die hatten damals alle gute Gründe, gegen das Projekt zu sein. Das hätte den See doch völlig verschandelt. Aber als ich mit dem Vorsitzenden der Woogsfreunde über das Thema sprach, fiel ihm einer ein, der bei den zahlreichen öffentlichen Diskussionen damals völlig aus dem Rahmen fiel. Ein Anwohner, richtig unangenehmer Choleriker, hat die DSW-Leute und Kommunalpolitiker, die das Projekt unterstützten, Verbrecher genannt und mehrfach mit Sabotage gedroht, falls die Wanne gebaut würde. Der Vorsitzende konnte sich an keinen Namen erinnern, der Mann soll aber einige ziemlich verletzende Leserbriefe verfasst haben.«

      Der Rest der Gruppe lachte, Rünz schüttelte den Kopf.

      »Da haben Sie sich ja eine hübsche Räuberpistole zusammenfantasiert, Herr Meyer. Das ist definitiv die heißeste Spur, von der ich je gehört habe. Solche Protestrentner tauchen doch auf, sobald irgendwo ein Schlagloch ausgebessert wird. Aber was solls, Sie haben mich auf eine Idee gebracht. Charli, könnten Sie morgen im Verlagshaus der ›Allgemeinen‹ in der Holzhofallee im Archiv stöbern? Nehmen Sie sich die Kriegsjahrgänge vor und die Ausgaben bis 1950, vielleicht finden Sie etwas Verwertbares. Und wenn Sie schon mal da sind, werfen Sie doch mal einen Blick auf die Leserbriefseiten des Jahrgangs 1973, vielleicht findet sich ein Pamphlet dieses Cholerikers. Leserbriefe werden doch immer unter dem entsprechenden Namen veröffentlicht. Was ist mit der Spurensuche an den Uferbereichen, was wissen die Leute von der Badeaufsicht?«

      Die Mitglieder des Teams referierten ihre Ermittlungsergebnisse, aber Rünz hörte nur noch mit einem Ohr zu.

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