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und den ganzen Mumpitz genommen habe? So ein Unsinn. Deine Ersatzreligionen halten genau bis zum Beginn der nächsten Depression, da habe ich überhaupt keinen Einfluss drauf. So gesehen, sind deine Tiefs die einzigen Momente, in denen du klar siehst.«

      »Diesmal ist es doch völlig anders. Feng-Shui ist so«, sie suchte nach einer Erklärung, »so umfassend. Es zeigt, dass alles mit allem zusammenhängt und alles zusammen einen Sinn ergibt.«

      »Na klar, und dass unsere Ehe nicht funktioniert, weil da hinten in der Wohnzimmerecke ein Haufen Altpapier gelegen hat, oder sag ich was Falsches?«

      »Du meinst die Energiefelder im Bagua-Raster. Aber das verstehst du sowieso nicht. Du willst es nicht verstehen. Du hast Angst davor, es könnte deine Welt durcheinander bringen.«

      Rünz roch an der Fleischwurst, die er sich zwei Tage zuvor gekauft hatte. Er entschloss sich, kein Risiko einzugehen, und legte sie zur Seite, öffnete eine frische Packung Knäckebrot, zog eine noch keimfreie Scheibe heraus und knabberte daran.

      »Ist dir eigentlich schon aufgefallen«, fragte sie, »dass du nur noch gereizt und zynisch bist, seit wir hier wohnen?«

      »Ich bin gereizt und zynisch, seit wir uns kennen! Das ist ein Unterschied.«

      Sie ignorierte seine Bemerkung.

      »Das muss mit dieser Wohnung zu tun haben. Die Chinesen sagen, dass sich Häuser und Wohnungen mit den positiven und negativen Energien der Menschen aufladen, die darin gelebt haben.«

      Rünz verschluckte sich an ein paar Krümeln, hustete sich frei und machte eine Jack-Nicholson-Grimasse.

      »Wendy, mach auf, hier kommt der Weihnachtsmann!«

      »Ich habe mit dem älteren Ehepaar von gegenüber gesprochen, die haben erzählt, in unserer Wohnung hätte vor zehn Jahren ein Mann gewohnt, der angeblich mit Kinderpornografie zu tun hatte.«

      »Jesus – deswegen habe ich dieses unstillbare Verlangen nach Pippi-Langstrumpf-Videos! Jetzt mal im Ernst: Hatte der angeblich oder tatsächlich mit Kinderpornografie zu tun? Juristen machen da einen feinen Unterschied. Aber im Feng-Shui gibts wohl keine Unschuldsvermutung?«

      »Worauf ich hinaus will: Wir können das prüfen lassen. Es gibt spezielle Berater, die die negativen Energien aufspüren und wissen, wie man …«

      »… für, lass mich raten, 70 Euro pro Stunde. Egal ob du zum Analytiker oder zur Wahrsagerin gehst, einen Architekten engagierst oder dir vom örtlichen Feng-Shui Consultant die Wohnung positiv aufladen lässt – es kostet immer 70 Euro pro Stunde. Muss eine Naturkonstante sein, direkt hinter der Lichtgeschwindigkeit und dem Planckschen Wirkungsquantum.«

      Sie resignierte.

      »Ach, vergiss es. Tu mir einen Gefallen, vergiss bitte nicht das Essen heute Abend. Außerdem hast du diese Woche deine Therapiestunde.«

      Rünz vergaß vieles, den Geburtstag seiner Frau, den Hochzeitstag, den Valentinstag, aber seine Therapiestunde ganz sicher nicht. Das Abendessen dagegen war ihm so wichtig wie eine Beule am Kopf.

      5

      Schon auf dem Flur hörte Rünz das Gelächter und die Unterhaltungen aus dem Besprechungsraum. Die Mitglieder seiner Ermittlungsgruppe erzählten sich ihre Wochenenderlebnisse. Der Geräuschpegel nahm nicht nennenswert ab, als er den Raum betrat, niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Seine Anwesenheit hatte auf seine Mitarbeiter ungefähr die gleiche Wirkung wie die eines unerfahrenen Referendars auf eine Berufsschulklasse der Peter-Behrens-Schule, mit dem einzigen Unterschied, dass Rünz sich keine Sorgen um seine Sicherheit machen musste. Erst allmählich verschwanden Füße von der Tischplatte, Unterlagen, Notizblöcke und Schreibutensilien wurden zu ordentlichen Stapeln zusammengeschoben und parallel zur Tischkante ausgerichtet.

      Rünz setzte sich und musterte kurz die Runde, bevor er die Besprechung eröffnete. Neben ihm saß Manfred Meyer, ein Bürokratentyp bar jeder Inspiration und Kreativität bei der Ermittlungsarbeit, aber Gold wert, wenn es darauf ankam, 20 Meter Archivakten oder einige Megabyte Datensätze in möglichst kurzer Zeit zu durchforsten. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Babys, dazu den traurigdümmlichen Blick von Rauhaardackeln, der bei manchen Frauen Mutterinstinkte weckte. Meyer führte akribisch Buch über seine Überstunden und konnte die Brückentage des übernächsten Kalenderjahres auswendig herbeten. Er schaute mürrisch drein, offensichtlich befürchtete er Wochenendeinsätze. Neben ihm saß Charlotte de Tailly, Ende 20, Mitarbeiterin des ›Commissariat de Police Nationale‹ in Troyes, der französischen Partnerstadt Darmstadts. Sie arbeitete im Rahmen eines Austauschprogrammes der Polizeidirektionen beider Städte für einige Monate in Darmstadt. Charli litt unter starker Neurodermitis, die ihre Gesichtshaut ruiniert hatte. Weil sie auf dem völlig deregulierten Markt der Attraktivität damit noch nicht ausreichend benachteiligt war, hatte ihr der Herrgott noch einen starken Vorbiss mit auf den Weg gegeben. Es gab zwei Möglichkeiten des Umgangs mit dieser genetischen Disposition, und sie hatte sich nicht für das stille Mauerblümchen, sondern für die Betriebsnudel entschieden. Das hatte ihr in kürzester Zeit eine wichtige Funktion im gruppendynamischen Getriebe des Präsidiums beschert. Die Kollegen konnten ihre verkümmerten Flirtfähigkeiten ungehemmt an ihr erproben, und die Kolleginnen hatten sie ganz oben auf ihrer Lästerliste. Rünz hatte sie ins Team geholt, weil sie bei informatorischen Befragungen und Verhören Wunder vollbringen konnte. Ihr fehlte als französischer Staatsbürgerin natürlich jede rechtliche Legitimation für Vernehmungen nach Strafprozessordnung, aber in der Praxis war die Grenze zwischen informatorischer Befragung und Verhör meist fließend und der Widerspruch eines aufmerksamen Rechtsbeistandes nicht immer zu fürchten. Obwohl sie perfekt Deutsch sprach, nahm sie den Gesprächssituationen mit ihrem hinreißenden Akzent und ihrer Lebendigkeit unbewusst ihre formale Strenge. Ihre Gesprächspartner tauten regelmäßig innerhalb von Minuten auf, kamen aus der Reserve, plauderten ungefiltert und ohne Rücksicht auf Verluste drauflos. Rünz hatte von ihr geleitete Verhöre beobachtet, bei denen Verdächtige faktisch Geständnisse abgeliefert hatten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

      Ihm gegenüber kraulte sich Albert Bunter seinen Vollbart, ein schmächtiger Typ wie Rünz, allerdings mit einem gemütlichen kleinen Bierbauch. Bunter hatte wie Rünz drei silberne Sterne auf seiner Uniformjacke und hätte ihm von seinen Fähigkeiten her die Leitung der Ermittlungsgruppe ohne Weiteres streitig machen können, hatte aber keinerlei Aufstiegsambitionen. Er war ein knochentrockener westfälischer Stoiker, der zum Lachen in den Keller ging, dabei brillanter Kriminalist und Analytiker, der auch in komplexen Fällen die Fäden zusammenhalten konnte. Wedel hängte Karten, Pläne und Fotos an die Pinnwand.

      Rünz räusperte sich.

      »Meine Damen und Herren, ich danke für Ihr Erscheinen. Zur Sache.« Er stand auf, ging zur Pinnwand und steckte eine Nadel in ein Luftbild des Woogsareals.

      »Gestern Morgen hat ein DLRG-Taucher im Großen Woog eine Leiche gefunden. Der Fundort liegt hier, 30 Meter nördlich der Seemitte, in der Mitte einer gedachten Linie zwischen Familienbad und der Nordspitze der Badeinsel. Äußere Gewalteinwirkung als Todesursache ist wahrscheinlich, der Tote hat mehrfache Frakturen und eine Schädelverletzung, wie Sie hier sehen. Wir müssen von Fremdeinwirkung ausgehen, die Leiche lag in vier Metern Tiefe, beschwert mit diesem Betonblock, wahrscheinlich als Auftriebssicherung. Robert Bartmann vom IFM in Frankfurt hat die Leichenschau durchgeführt, er wird auch die Obduktion machen. Der Todeszeitpunkt liegt nach erstem Anschein mindestens einige Jahre zurück, aber auf eine Höchstgrenze wollte Bartmann sich noch nicht festlegen. Wir werden erst in zehn Tagen einen vorläufigen Bericht von ihm erhalten. Ein Abgleich mit den Vermisstendatenbanken macht erst Sinn, wenn wir genauere Informationen über Alter, Geschlecht, Todesumstände und -zeitpunkt haben. Deswegen konzentrieren wir uns vorerst auf Spurensicherung und Befragungen. Der Woog ist heute noch den ganzen Tag für den Badebetrieb gesperrt, wir haben also ausreichend Zeit für eine ordentliche Spurensuche in den Uferbereichen, den Anlagen und Gebäuden auf dem Gelände. Herr Wedel und Herr Meyer, ich bitte Sie in Absprache mit Frau Habich die gesamten Uferbereiche absuchen zu lassen. Kleidungsstücke, potenzielle Schlagwerkzeuge, alles ist wichtig. Machen Sie eine ausführliche Fotodokumentation der Anlagen rund um den See. Nehmen Sie sich zehn Kollegen von der Bereitschaft

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