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aus der sie gekommen war, und ganz langsam gingen sie zusammen los.

      Den ganzen weiten Weg hat er sie nach Hause begleitet, die Kronenstraße entlang, über die breite Pforzheimer Straße mit den beiden Zebrastreifen, an der Herz-Jesu-Kirche vorbei und am Park, über den Dickhäuter Platz und bis vor ihre Haustüre in der Heinrich-Magnani-Straße.

      Die ganze Zeit hat sie ihn gespürt.

      „Er war sehr gut gekleidet, sein Haar voll und grau. Er sah reich aus, wenn ich ehrlich bin. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, wie gütig seine Augen sind und wie schön. Aber seine ganze Art war ja so. Wie ein Gentleman, so war er zu mir. Er trug edle Handschuhe aus Kalbsleder und einen Schal. Einen Hut? Ich glaube nicht, nein. Ich habe ihn sogar gerochen, er roch sehr gut. Als wir an der Kirche vorbei waren, habe ich an seiner Nase einen kleinen Tropfen entdeckt, der zu klein war, um zur Erde zu fallen, aber beständig gezittert hat. Er konnte ja schlecht sein Taschentuch hervorholen: Mit dem rechten Arm hatte er mich untergehakt und in der linken Hand trug er meine Einkäufe. Dieser Tropfen hat mich gerührt und überhaupt nicht geekelt, ganz anders als sonst immer. Er sah ja auch so vornehm aus. Als wir da waren, hat er mir seine Karte dagelassen und sich meine Nummer notiert. Es ist schrecklich, ich glaube, ich vergesse schon sein Gesicht! Ich bekomme die Teile nicht mehr richtig zusammen. Aber einen Hut hat er wirklich nicht getragen, glaube ich. Komisch, es war ja so kalt. Am Abend hat er dann angerufen, stell dir vor. Er wollte fragen, wie es mir ergangen sei und ob ich mich von dem Schock erholt habe. Da hatte ich mir schon lange das Blut aus dem Gesicht gewaschen und mich umgezogen. Aber den Kartoffelsalat habe ich doch nicht mehr gemacht. Ich war ja noch ganz zittrig. Ich glaube, wegen ihm.

      Er heißt Friedrich Laubenstein. Ein schöner Name, finde ich jedenfalls.“

      Sein erster Brief kam zu Weihnachten. Er war sechs Seiten lang und in grüner Tinte geschrieben. Die Oma weinte, während sie ihn las. Noch nie hatte jemand für sie einen derart liebevollen und besorgten Ton angeschlagen. Und wie lange war es her, dass sich jemand für sie, nur für sie, so viel Zeit genommen hatte? Am Ende des Briefes stand ein Heine-Zitat: „Herz, mein Herz, sei nicht beklommen,/ Und ertrage Dein Geschick./ Neuer Frühling gibt zurück,/ Was der Winter Dir genommen.“

      Wer, bitte schön, hätte sich da nicht verliebt?

      Friedrich Laubenstein ist fünfzehn Jahre jünger als die Oma. Er ist vermögend und Besitzer einer Kunststofffabrik im Karlsruher Rheinhafen, die er nun endlich auflösen möchte.

      Den ersten Brief der Oma erhielt er noch im alten Jahr; geschrieben in einer Mischung aus ergebener Dankbarkeit und freudiger Erwartung, altmodisch mit topaktuellem Inhalt.

      Die Oma schlief nur noch sehr wenig. Wenn überhaupt, dann nur mithilfe ihres Radios, das Schlager spielte, Operetten, bekannte Opern, und tagsüber Glückwünsche übermittelte.

      „Alles könnte man mir nehmen, nur die Musik, die nicht.“

      Morgens erwachte sie voller Hoffnung und Freude darauf, ihn genau an diesem Tag wiederzusehen. Denn natürlich hatte sie ihn eingeladen, schon weil es sich so gehörte. Gut möglich, dass er sich bei ihr melden würde oder auf einen spontanen Besuch vorbeikäme. Heute. Oder schon bald.

      Sie ließ sich neue Dauerwellen machen, bestellte sich beim Baur-Versand zwei neue Blusen und zog sich die Augenbrauen fast bis zum silbrig weißen Haaransatz nach, bis an die Oberkante ihrer erstaunlich kleinen Ohren. Die Schwiegertochter verdrehte entsetzt die Augen, als sie das einmal sah. Sie hätte die Oma auf keinen Fall ermutigt, wenn sie von Friedrich Laubenstein gewusst hätte.

      Auf den Tag genau sechs lange Wochen wartete die Oma, bis endlich Antwort von ihm kam. Was ihr dabei am meisten half, war die Tatsache, dass lange Briefe Zeit brauchen.

      Dieses Mal schrieb er mehr Persönliches. Dass er Kohelet verehre, einen Propheten des Alten Testaments, dessen Namen sich die Oma aber nie merken konnte; wie wichtig ihm sein Glaube sei, dass er jeden Sonntag in die Kirche gehe und: dass das Leben zuweilen traurig sein konnte. Das verstand die Oma.

      Auch deshalb hatte sie das letzte Mal eine Kirche betreten, als der Opa gestorben war. Dem Kirchengott hatte sie nie verzeihen können.

      Friedrich Laubenstein beschrieb mit grünen nach rechts geneigten und sehr schwungvollen Worten, wie schön Baden-Baden im Frühling sei. Ob er vielleicht auf einen gemeinsamen Spaziergang entlang der Oos hoffen dürfe?

      „Intellektuell bin ich ihm natürlich nicht gewachsen“, sagte die Oma glücklich, „wirklich, ich glaube, er ist mir haushoch überlegen.“

      Wo die Liebe hinfällt, dachte sie und träumte.

      Beide Briefe liegen auf dem Nachttisch der Oma, und jeden Abend und in jeder Nacht, die seitdem vergeht, liest sie darin, obwohl sie sie längst auswendig kennt. Sie weint viel und wartet. Manchmal wird sie wütend, aber nur ein bisschen.

      Einmal hat sie bei ihm angerufen. Sie suchte im Telefonbuch nach seiner Privatnummer, trank ein Gläschen Topinambur und lauschte auf das Tuten im Hörer. Eine Frau nahm ab, und sie sagte, dass sie gern Herrn Laubenstein sprechen würde. Die Frau bat sie, einen Moment zu warten. Dann hörte sie seine Stimme im Hintergrund.

      „Ich rufe morgen zurück.“

      Was er nicht tat.

      „Bestimmt hatte er Damenbesuch.“ Entrüstung.

      Manchmal malt sich die Oma aus, wie sie sich eines Tages unverhofft auf der Straße treffen und begrüßen, als habe ihnen und ihrer Liebe die ganze Welt bis dahin riesige Steine in den Weg gelegt. Oder wie sie sich in einem Café gegenübersitzen und sich anschauen ohne zu reden, ganz selbstverständlich und völlig unbefangen.

      „Für so was musste ich fünfundachtzig werden“, sagt sie weinend, für so viel Liebe und so viel Schmerz. Das Briefpapier ist schon ganz brüchig vom vielen Zusammenfalten. Die Oma musste die Stellen mit Tesafilm verstärken. Der Gang zum Briefkasten ist einer der Höhepunkte ihres Tages, obwohl ihre Schritte immer schwerer werden.

      Jetzt ist sie wieder gestürzt und hat sich die linke Hand gebrochen und den Unterarm. Aber erschöpft war sie schon zuvor. Und sehr viel krummer und meistens ganz still.

      Die Enkeltochter hat etwas herausgefunden.

      „Du, er ist verheiratet“, sagt Svenja vorsichtig und schiebt der Oma das Schälchen mit den Salzletten zu.

      „Habe ich mir gedacht“, sagt sie und hört sich gleichzeitig tapfer und mitgenommen an. Die Enkeltochter weiß beim besten Willen nicht, ob die Oma sie tatsächlich richtig verstanden hat.

      Das hier ist für Mark

      Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte alles erzählen können und irgendwer hätte ein Diktiergerät mitlaufen lassen. Es hätte mir jede Menge Arbeit und Nerverei erspart, aber man hat mir gesagt, dem Gutachter sei es lieber so. Also bitte. Außer rumsitzen, das stimmt schon, kann ich ja sowieso nichts mehr machen. Jetzt fange ich an:

      Ich bin in einem kleinen Kaff im Schwarzwald geboren. Es heißt Marschalkenzimmern. Es lohnt sich nicht, dort hinzufahren, allenfalls durchzufahren, denn die Landschaft ist schön und wohl das, was Städter unter idyllisch verstehen. Im Sommer blühen schier endlose Rapsfelder und fast immer weht ein leichter, angenehmer Wind, der die Gräser zum Wogen bringt. Am Straßenrand wechseln sich Kruzifixe mit kleinen Holzkreuzen und Grablichtern ab, die einen Andreas, Mike oder Axel unvergessen machen wollen.

      Der Ort selbst ist winzig und unterscheidet sich in fast nichts von all den anderen kleinen Käffern, die Brachfeld heißen, Hopfau oder Niederdornstetten. Es gibt immerhin keine typischen Ramschläden mit Kuckucksuhren, Bollenhutpüppchen und Wurzelholzschund, aber auch keinen Supermarkt, keine Schule, keinen Arzt, nur ein paar Bauernhöfe, eine Kirche und eine Wirtschaft, die „Zur Linde“ heißt und meinen Eltern gehört. Ich danke Gott jeden Tag, dass ich nicht mehr dort leben muss.

      Die „Linde“ liegt an der Hauptstraße, die weiter nach Dornhan führt. Dort bin ich zur Schule gegangen. Eine beschissene Schule mit beschissenen Lehrern und beschissenen Mitschülern. Dass aus mir schließlich doch noch was geworden ist, habe ich nur mir selber und Gott zu verdanken.

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