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gibt Svenja die Hand ohne sie anzusehen.

      „Dann wollen wir mal.“

      Die Oma öffnet ihre Bundfaltenstoffhose und lässt sie runterrutschen. Die Enkeltochter schaut weg. Und wieder hin. Der Oma ist das nicht unangenehm. Halb nackt wirkt die Oma noch älter und hilfloser.

      Es stört die Enkelin, dass jemand Fremdes die Oma anfasst.

      Mit achtundsechzig Jahren ist die Oma zum ersten Mal gestürzt. „Typisch“, hatte ihre Schwiegertochter, Georgs Frau, dazu nur gemeint.

      „Was fährt sie auch extra mit dem Bus in die Stadt, nur um drei Orangen zu kaufen. Die hätten wir ihr doch auch mitbringen können.“

      Die Oma war aus dem Bus gestiegen und hatte fast schon mit beiden Füßen auf der Straße gestanden. Dann ist es passiert.

      „Und immer voll aufs Gesicht, ausgerechnet.“ Die Schwiegertochter meinte es nicht so.

      Als der Opa starb, hat die Oma ein Jahr lang Schwarz getragen. Im Dorf, im alten Dorf, das von den Zugezogenen auf den Windwiesen noch nichts gewusst hat, haben die anderen Frauen bis zu sieben Jahre Trauer getragen. Witwentracht.

      Den Granatschmuck ließ die Oma im Kästchen liegen, und auch die Augenbrauen zog sie sich nicht mehr nach.

      Bei der Beerdigung hat sich der Pfarrer vertan und den Großvater Otto genannt, nicht Hans.

      „Otto Thienemann fuhr für sein Leben gerne Kanu.“ Mit achtzehn ist ihr Hans das letzte Mal mit dem Kanu unterwegs gewesen.

      Die schönste Erinnerung an den Opa ist, wie er nach dem Essen (die Zeit der Russischen Eier ist längst vorbei und die beiden Enkeltöchter so gut wie aus dem Haus) in seiner Hemdtasche nach den Revals kramt. „Wer Reval raucht, frisst kleine Kinder“, hieß es. Der Opa hätte eher sich selbst aufgefressen.

      Die Schachtel hatte das gleiche Orange wie Creme 21. Sie war immer ganz zerknickt, wenn er sie aus seiner Brusttasche hervorholte. Dann strich er sie glatt, Tabak krümelte heraus und die Oma zog die Augenbrauen hoch.

      „Kommst du mit rüber und erzählst mir von deinem neuen Freund?“

      Svenja ging mit ihm zusammen ins andere Zimmer, wo sie ihm nicht von ihrem neuen Freund erzählte, sie hatte seit drei Jahren denselben und alle wussten das. Der Opa wollte eine von ihren Camels und sie eine von seinen Revals. Möglicherweise war er ein kluger Opa. Sie stießen den Rauch durch die Nasenlöcher aus, und er versuchte, ihr das Kringelmachen beizubringen. Die Eltern haben erst Jahre später mitbekommen, dass die jüngere Tochter raucht. Da war der Opa schon an Nierenversagen gestorben. Mit neunundsechzig Jahren auf der Krankenhaustoilette.

      Fast bis zuletzt hat die Enkeltochter in seinem Gesicht erkennen können, wie gut er als junger Mann aussah.

      Die Oma war sehr tapfer. Sie weinte, wenn sie alleine war. „Alleinstehend“ war ab sofort wörtlich zu nehmen.

      In dieser Zeit fingen die Gespräche an. Der Opa sei nie ein Kind von Traurigkeit gewesen, aber welcher Mann sei das schon.

      „Vor allem die Männer meiner Generation.“

      Sie habe sofort gespürt, dass der Kollege in Freiburg gar kein Kollege gewesen sei.

      „Ein Jahr lang hat er mich hinterher nicht mehr anfassen dürfen, nichts ist da mehr gelaufen.“

      Und noch immer kommen ihr, Triumph in der Stimme, die Tränen.

      Einmal sagte sie ohne Einleitung und Umschweife: „Ich hatte noch nie einen Orgasmus.“

      Svenja erschrak nicht, es kam ihr ganz normal vor, dass sie auch darüber sprechen wollte. Sie wunderte sich nur darüber, dass die Oma den Begriff so selbstverständlich gebrauchte.

      „Ich lag einfach nur da, und war froh, wenn es vorbei war.“

      Sie schob einen Teller mit Erdnüsschen zu ihrer Enkelin.

      „Männer sind so“, sagte sie und tat Svenja leid.

      „Schmusen, das konnte dein Opa nicht.“

      Den Opa und die Oma hatte tatsächlich keine der beiden Enkeltöchter je miteinander schmusen sehen, den Vater und die Mutter aber auch nicht. Nur kopulieren.

      An manchen Sonntagen wurden Ausflüge gemacht. Ohne die Eltern. Wenn sie mal Ruhe brauchten oder „was vorhatten“. Dafür fuhr das Nachbarsehepaar der Großeltern mit; Kolonne bis in den Schwarzwald. Natürlich fuhren Lindenbergers voraus, schließlich hatte Herr Lindenberger einen cremeweißen Mercedes und der Opa nur einen alten Ford Taunus. Den Opa wurmte das, während Herr Lindenberger Zigarre paffte und ab und zu in den Rückspiegel winkte. Seine Frau war klein und drall und speckig. Sie lachte gäckernd, wie eine Ziege, und stellte hinter jeden Satz ein schwungvolles „gelt?“.

      Der Opa ließ sich seine gute Laune nicht nehmen, darum wurde im zweiten Fahrzeug lauthals gesungen: „Wenn die bunten Fahnen wehen“, „My Bonnie is over the ocean“, „Es saßen zehn Gestalten auf einem Donnerbalken“, „Ein belegtes Brot mit Schinken“ und so weiter.

      Die Oma und der Opa trugen Wanderkleidung, Lindenbergers auch, und natürlich: Spazierstöcke mit Wanderabzeichen aus dem Schönen Berner Oberland, dem Engadin und aus Kufstein. Wenn Herr Lindenberger beim Wandern zu singen anfing und die Mädchen zum Mitsingen ermunterte, blieben sie stumm wie Fische. Der Opa grinste.

      Lindenbergers hatten keine Enkelkinder und mochten die beiden Schwestern. Jeder Ameisenhügel am Wegesrand bekam Lindenbergers Wanderstock zu spüren: Er setzte ihn jedes Mal direkt an der Spitze an und bohrte ihn schwungvoll und mit einer Drehbewegung so tief und fest hinein, wie es ging.

      „Passt mal auf, was da jetzt gleich los ist.“ Er freute sich.

      Dann der Standardspruch seiner Frau: „Ameisengift ist gut gegen Rheuma.“

      Seine Standardantwort: „Da weiß ich was Besseres.“ Zwinker, zwinker, erst zur Oma und dann zu seiner Frau, die gut gelaunt lachte und die beiden kleinen Mädchen an ihre bloßen, verschwitzten Arme drückte.

      Ritte auf Opa Hans’ Rücken fielen nach solchen Tagen aus, wurden am nächsten Morgen aber noch vor dem Frühstück nachgeholt.

      Zuerst ist der Opa gestorben, dann die Frau Lindenberger, dann der Herr Lindenberger, und jetzt lebt nur noch die Oma.

      Es ist passiert, als sie mal wieder stürzte. In der Stadt lag Schnee. An den Straßenecken türmten sich meterhohe Berge, die in der Nacht mit einer neuen Pulverschicht überzogen worden waren. Die Luft war eisig und der Himmel strahlend blau. Es war Anfang Dezember, die Leute waren in Weihnachtsstimmung und hatten noch nicht genug von Christkindlesmärkten, Weihnachtsbeleuchtung und verkleideten Nikoläusen. Die Stadtbediensteten in ihren orangefarbenen Anoraks hatten am Vorabend gründlich gestreut und am Morgen Schotter nachgeschaufelt.

      Die Oma hatte gute Laune. Sie hatte bei der Metzgerei „Sack“ ein Paar Wiener gekauft und sich schon auf den Kartoffelsalat gefreut, den sie später dazu bereiten wollte, mit Brühe und geschmelzten Zwiebelchen. Eine Fernsehzeitschrift hatte sie sich auch besorgt, jetzt fehlten nur noch Orangen, wie immer drei Stück. Eine davon wollte sie später mit Nelken bestücken, weil das so gut roch.

      Und genau in diesem Moment ist sie wieder gestürzt, aufs Gesicht. Natürlich. Sie lag auf der Kopfsteinbrücke, die über die Alb führt, und war zu wenig benommen, um sich nicht zu schämen. Gleich mehrere Passanten wandten sich ihr zu und wollten ihr beim Aufstehen helfen. Ein älterer Herr war aber der Schnellste von allen. Er beugte sich zu ihr herunter und fragte, ob er ihr aufhelfen dürfte.

      „Dürfte!“ Die Oma ist ganz aufgeregt. „Dürfte! Stell dir das mal vor!“

      Dann fasste er sie behutsam unter den Achseln und zog sie in die Senkrechte. Anschließend trat er von hinten an ihre linke Seite, wobei er ihr den rechten Arm um die Schultern legte und sie behutsam drückte.

      „Wird es gehen?“

      Die Oma nickte nur stumm und befangen.

      Dann

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