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Der Mensch als Rohstoff. Christian Blasge
Читать онлайн.Название Der Mensch als Rohstoff
Год выпуска 0
isbn 9783853718872
Автор произведения Christian Blasge
Жанр Математика
Издательство Bookwire
Zurück zur Abteilung X von Alphabet: Dort wird an Projekten gearbeitet, deren Realisierung als sogenannte »Moonshots« alles bisher Dagewesene übertrumpfen soll. Bisher sind nur einige Forschungsvorhaben öffentlich bekannt, aber selbst die in der Öffentlichkeit diskutierten dürften das gewaltige Potenzial offenlegen. So befasst sich das ambitionierte »Project Loon« mit der Versorgung sämtlicher Regionen auf dieser Welt mit Internet. Zu diesem Zweck sollen solarbetriebene Ballone in der Stratosphäre in 20 km Höhe zum Einsatz kommen, um den Großteil der Landesfläche mit LTE-Signalen zu versorgen.
Sri Lanka wäre im Jahre 2015 das erste Land weltweit gewesen, das durch dieses Projekt einen landesweiten Internetzugang erhalten hätte sollen. Gerade ein Drittel der 21 Millionen Einwohner verfügt über einen Netzzugang. Die Verträge wurden bereits bilateral unterzeichnet und seit Februar 2016 ist der erste Ballon zwar in die Luft gelangt, aber laut einer großen singalesischen IT-Nachrichtenseite ist die weitere Implementierung aufgrund von internen politischen Turbulenzen und Kontroversen zwischen der Regierung und Google ins Stocken geraten. Die Daily Mail berichtet von diesem besagten Test-Ballon, der bereits nach einem Tag in der Luft auf eine Teeplantage in der Region Gampola abgestürzt ist, was von offizieller Seite jedoch als kontrollierte Landung bezeichnet wurde.37
Bis zum Ende des Jahrzehnts – wir sprechen von spätestens 2020 – soll die ganze Menschheit online sein, so der Google-Gründer Larry Page.38 Eine Herkulesaufgabe, deren Umsetzung zumindest in Sri Lanka aus technischen Gründen und aufgrund diverser politischer Unstimmigkeiten bislang jedenfalls als gescheitert betrachtet werden muss.39
Zwar beteuert Google – das scheint die nächste Parallele zum fiktiven Circle zu sein – stets altruistische Motive: Der Internetzugang soll Millionen Menschen in Afrika und Asien Zugang zu Bildung und Freiheit ermöglichen, so Mike Cassidy, Hauptverantwortlicher des (Wohlfühl-)Projekts. Dahinter verbergen sich jedoch Geschäftsinteressen des Konzerns. Denn je mehr Menschen Zugang zum Internet erhalten, desto mehr kommt die hauseigene Suchmaschine zum Einsatz. Durch die digitalen Fußabdrücke, die die Besucher im Netz hinterlassen, werden sie (ungewollt) Empfänger personalisierter Werbung über passende Produkte – mit Anzeigen von Google-AdWords. Kurz: Jede Internetkonsumentin hinterlässt Daten, die kommerziell weiterverarbeitet werden. Project Loon kann eine Nation im Worst-Case-Szenario in die Abhängigkeit von einem Monopol treiben, das prinzipiell über Druckmittel verfügt, Preise zu diktieren, steuerliche Privilegien einzufordern oder sogar bei politischen Entscheidungen mitzumischen.
2014 wurde »Google Glass« für ein Jahr auf den Markt gebracht. Es handelt sich dabei um eine hochentwickelte Brille, die sich optisch kaum von einer herkömmlichen unterscheidet. Ihre primäre Funktion besteht jedoch darin, den Träger mit Informationen aus dem Internet oder anderen Datenträgern zu versorgen. Zusätzlich sind benutzerfreundliche Videoaufnahmen sowie blitzschnelle Fotos vorgesehen. Durch leichte Kopf- und Augenbewegungen und durch Sprachbefehle kann die Brille bedient werden. Erste Kritikpunkte an dieser Technologie wurden bald laut, da Datenschützerinnen die Gefahr der verdeckten Ausspähung anderer Menschen erkannten – vor allem deshalb, weil sämtliche Aufnahmen an die Google-Server übermittelt werden. Google ist durch die GPS-Erfassung grundsätzlich in der Lage, Bewegungsprofile der Benutzer zu erstellen sowie durch Gesichts- und Spracherkennungssoftware Personen gezielt ausfindig zu machen. Auch werden sämtliche Aufnahmen auf unbestimmte Zeit gespeichert. »Weder Orwell noch Hitchcock hätten sich in ihren schrecklichsten Dystopien Google Glass einfallen lassen können«, sagte der Journalist Andrew Keen von CNN, als er 2013 von dem ursprünglichen Plan erfuhr, wonach die Brille – ohne Zutun der Nutzerin – automatisch alle fünf Sekunden ein Bild knipst.40
Grundsätzlich sollte man sich bei der Markteinführung einer neuen Technologie als verantwortungsvoller Konsument die Frage stellen, ob überhaupt ein Bedarf für dieses Produkt besteht und wie sich das eigene Verhalten durch die Nutzung langfristig verändern könnte. Unsere Haltung sollte also eine prinzipiell kritische sein. Man stelle sich im Blick auf die Nutzung von Google Glass – mit besonderer Berücksichtigung der Beliebtheit von Datingportalen und den damit verwandten Applikationen für Smartphones – folgendes hypothetisches Szenario vor:
Sie sitzen in einem Café, trinken genüsslich eine heiße Schokolade und blättern in der Tageszeitung – nichts ahnend, dass Sie in diesem Moment von einem Benutzer der Google Glass »gescannt« werden. Dieser verfügt über eine Software, die ihm mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms Auskunft über den Beziehungsstatus der jeweils »ins Visier genommenen« Person gibt. Da die meisten, vor allem jüngeren Menschen in den Sozialen Medien ihren Beziehungsstatus offenlegen und für die Gesichtserkennung genügend Bildmaterial hochladen, dürfte einem schnellen Suchergebnis nichts im Weg stehen. Nach der Analyse werden Sie – und bei noch effizienterer Software gleich alle Personen – im Blickfeld schemenhaft mit Farben umrahmt. Die Farbe Grün könnte beispielsweise für »alleinstehend«, Gelb für »in einer Beziehung« und Rot für »verheiratet« stehen. Aus den Sozialen Netzwerken gewonnene Zusatzinformationen über hetero- bzw. homosexuelle Vorlieben, Hobbys oder den ausgeübten Beruf dürften Ihrem »Jäger« ausreichend Datenmaterial für eine anschließende Nutzenkalkulation zur Verfügung stellen: Nimmt er das Risiko einer Zurückweisung (und damit potenziellen Kränkung) in Kauf, um mit Ihnen in Kontakt zu treten? Passen Ihre sexuellen Vorlieben, Hobbys, Einkommensverhältnisse und der daraus resultierende sozioökonomische Status mit seinen Vorstellungen zusammen?
Ein solches Szenario würde das spontane Kommunikationsverhalten, das sich bereits durch die Nutzung des Smartphones einschneidend gewandelt hat, erneut verändern. Wir werden dem anderen mit Skepsis begegnen: Spricht sie mich an, weil sie gerade meine Bikinifotos aus dem letzten Urlaub überflogen und Gefallen daran gefunden hat? Wirft mir die Frau gegenüber der Ladentheke ihre zugeneigten Blicke nur deshalb zu, weil ich Bankmanager bin und mich auf einem Seitensprungportal befinde? Auch wenn sich manche Menschen solche Fragen nicht stellen, eines steht fest: Die Zahl der spontanen Begegnungen, der etwaigen Überraschungen und der prickelnden Momente der Unsicherheit dürften zurückgehen. Von nun an wird man im Lokal angesprochen, weil man den spionageartigen Auswahlkriterien eines anderen genügt – eine möglicherweise schmeichelhafte, jedoch befremdliche Art der Kontaktaufnahme.
Faktisch wurde der Einsatz der Google Glass in manchen Lokalen oder auf öffentlichen Plätzen verboten. Google sah sich überdies gezwungen, sogenannte »Benimm-Regeln« zu veröffentlichen: »Sei kein Glasshole!« dürfte für viele Brillennutzerinnen die eingängigste sein. Seit Anfang 2015 lag das Projekt Google Glass auf Eis. 2017 meldete sich Google unter dem Namen »Glass Enterprise Edition« damit zurück und ging diesmal gezielt auf Unternehmen zu. Mithilfe der Brille können nun Mitarbeiter ihren Kollegen per Livestream übertragen, woran sie gerade arbeiten. Auf diese Weise erhalten sie Tipps oder Anleitungen. Hilfreich könnte eine solche Brille bei Reparaturen oder chirurgischen Eingriffen, aber auch als Eins-zu-Eins-Dokumentation sein.41 Glass Enterprise Edition – ein emanzipiertes Produkt, das durch sein neues Einsatzgebiet nun größere Akzeptanz genießen könnte?
»Deep Learning« ist der Überbegriff für ein prestigeträchtiges Forschungsprojekt, das eine leistungsstarke künstliche Intelligenz entwickelt, die je nach Programmierung unterschiedliche Aufgabenfelder abdecken soll. Hier werden Computer- und Neurowissenschaften nach der Hypothese miteinander verschmolzen, dass Maschinen klüger gemacht werden können, bringt man ihnen »menschliche Verstehensweisen« bei. Neben Google investieren auch Facebook, Apple und Microsoft in diese Technologie. Wer zurzeit den Vorsprung hat, lässt sich nur vermuten, aber eines ist sicher: Dieses Projekt erfüllt alle Kriterien,