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Das Modell des Konsequenten Humanismus. Hans Widmer
Читать онлайн.Название Das Modell des Konsequenten Humanismus
Год выпуска 0
isbn 9783907625781
Автор произведения Hans Widmer
Жанр Философия
Издательство Bookwire
Kopernikanische Wenden
Nikolaus Kopernikus,
1473–1543
Fragt man einen Dreijährigen, der einen Bruder hat, ob dieser auch einen Bruder habe, so antwortet er mit Nein, sie seien nur zu zweit. Erst ein Jahr später kann er die Beziehung von ihm zum Bruder von außen betrachten und damit objektivieren. Auf sich bezogen deuten Kleinkinder auch die Welt, wenn sie meinen, der Mond scheine, damit sie den Weg nach Hause finden. Die kognitive Entwicklung der Menschheit wie der Individuen ist gekennzeichnet durch zunehmende Lösung der Ansichten von eigenem Betroffensein.
Animismus in Jäger und SammlerKulturen projiziert Intentionen in alles Weltgeschehen: Wolken als Ausdruck der Stimmung von Göttern und diese als deren Reaktion auf menschliches Verhalten. Die erste Wende in der Geistesgeschichte leiteten die Vorsokratiker (600–400 v. Chr.) ein: Sie betrachteten das Weltgeschehen losgelöst von göttlichen Intentionen und begründeten die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit; räumlich wie ideell allerdings noch mit dem Menschen im Zentrum. Diese Weltsicht, der Ptolemäus (100–170) den letzten Schliff gab, hielt sich, gestützt durch die Scholastik, gegen 2000 Jahre.
Giordano Bruno,
1548–1600
Kopernikus initiierte die zweite Wende: Das Universum drehe sich nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne, was er damit begründete, dass die Bewegungen der Himmelskörper so einfacher ausfielen: »Alles, was an Bewegung am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht von sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen …« Damit rückten Erde und Mensch aus dem Mittelpunkt aller Ursachen und Zwecke – ein ungeheurer Angriff gegen Offenbarung, kirchliche Autorität, Selbst und Weltverständnis der Epoche. Kopernikus nahm man kaum ernst, Luther hielt ihn gar für einen Narren, Giordano Bruno hingegen wurde sechzig Jahre nach Kopernikus’ Publikation für die gleichen Aussagen verbrannt.
Einsteins Relativitätstheorie (RT) läutete 1905 eine dritte Wende ein, verletzt aber die Anschauungen a priori. Sie bildet nicht ab, dass Physik in den Grenzen menschlichen Kognitionsvermögens gedacht wird; auch nicht, dass sie eine Sammlung abstrakter Begriffe und Sätze ist, die über das Gemeinsame von Erscheinungen gelegt werden.
Immer waren es Widersprüche, die zu neuer Erkenntnis, insbesondere zu einem höherem Grad von Objektivierung führten,
–bei Kopernikus: »Warum bewegen sich Planeten nicht wie die andern Himmelskörper?«;
–bei Einstein: »Warum kommt Licht mit c an, wenn es mit c + v ausgesandt wurde?« (c Lichtgeschwindigkeit, v Annäherungsgeschwindigkeit der emittierenden Lichtquelle);
–in der deduktiven Physik: »Wenn die Anschauungen a priori unverrückbarer Teil des Denkvorganges sind – wie können die Ergebnisse der Relativitätstheorie damit in Einklang gebracht werden?«
2
Materie aus dem Nichts:
Dynamik des denknotwendigen Kontinuums
Das menschliche Gehirn stellt für die Vorstellung der Welt die Anschauungen a priori als das Koordinatensystem (quasi als Kasten) und ein Kontinuum darin (quasi als den Sand in diesem Kasten) zur Verfügung. Die Aufgabe der Physik wäre es nun, die materielle Welt von den Elementarteilchen bis ins Universum in diesem »Sandkasten« darzustellen. Davon ist sie weit entfernt: Ihre geschlossenen Theorien umfassen 75 Gesetze und Konstanten und die offenen weit über hundert. Trotz dieser Fülle bleibt der Anfang aller Physik – Trägheit und Gravitation – ungeklärt; ihre vier Grossen Theorien hängen nicht zusammen, was daher rührt, dass sie von Erscheinungen ausgeht, im Experiment Korrelationen misst und daraus auf Gesetze schliesst: induktiv vorgeht. Treten durch die bisherigen Gesetze nicht erklärte Phänomene auf, behilft sie sich mit neuen Begriffen und vermehrt die Zahl der unabhängigen Gesetze und Konstanten.
Dieser Tendenz begegnet sie mit einem permanenten Bemühen um Vereinheitlichung (»Theory of Everything«, »Grand Unification« etc.) – seit den Vorsokratikern wird die Erklärung der Welt aus einem Guss erwartet.
Induktive Physik1 ist trotz aller Triumphe in eine Krise geraten, und bedeutende Denker werfen ihr gewisse Neigungen ins Esoterische vor, etwa das Higgs-Boson sei der Teppich, unter den alle Widersprüche gekehrt würden. Insbesondere ihre String-Theorie erfährt Skepsis und bisweilen Hohn: »Not even wrong.«Woit In Epilogen von Lehrbüchern wird denn auch regelmäßig gerätselt, ob die Elementarteilchen-Physik einen ganz »unerwarteten Ansatz« bräuchte, die Vermutung implizierend, dass »more of the same« kaum weiterführen wird. Statt wie Einstein 1921 verkündete, Physik müsse »Raum und Zeit vom Olymp des Apriorischen« herunterholen, scheint nun eher Philosophie die Aufgabe übernehmen zu müssen, Physik vom Olymp des Undenkbaren herunterzuholen.
Ausgangspunkt der deduktiven Physik
Das allen Begriffen und Sätzen der Physik Gemeinsame ist, dass sie im menschlichen Verstand angesiedelt sind. Kant hat in seiner »Kritik der Reinen Vernunft« 1781 dargelegt, dass, wer die Welt verstehen will, sich erst Rechenschaft darüber abgeben muss, was Verstehen bedeutet. Zwar beziehen die Relativitätstheorie die Bewegung des Beobachters und die Quantenmechanik die Einwirkung des Beobachters in ihre Gesetze ein, aber sie halten sich für unbeteiligte Zeugen einer objektiven Welt.
Ein neuer »unerwarteter Ansatz« muss davon ausgehen, dass
1.Physik frei erfunden wird – und nicht in der Natur gefunden wie versteckte Ostereier oder die Ideen Platons (dazu Einstein: »… die Konzepte, die in unsern Gedanken … auftauchen, sind alles freie Erfindungen …«);
2.diese Erfindungen zunächst beliebige Hypothesen sind und erst gelten, wenn sie durch das Nadelöhr der experimentellen Verifikation hindurchgekommen sind (analog Mutation und Selektion in der Evolution);
3.Raum, Zeit und Kausalität Komponenten des Denksystems sind – keineswegs der Welt, über die nachgedacht wird;
4.Anschauung die Basis allen Erkennens ist – auch wenn abstrakteste Mathematik aufgetürmt wird;
5.insbesondere ein Kontinuum in Raum und Zeit unausweichliche Denknotwendigkeit ist;
6.es Hierarchien von Erkenntnissen gibt, deren höhere Stufen nicht aus Ansammlungen oder Abstraktion hervorgehen, sondern – wie Begriffe – erst als Hypothesen erfunden werden und sich in der Möglichkeit bewähren, untere Stufen mit weniger Gesetzen und Konstanten aus ihnen abzuleiten (Hyperstasen).
Denknotwendiges Kontinuum der deduktiven Physik
Das Kontinuum bleibt nicht bloße Idee wie bei Decartes oder verbirgt sich in Mathematik wie bei Einstein, sondern es ist das Analog zu einem Gas konstanter Temperatur2 (Physik: »isotherm«), was schon die Gleichungen der RT implizieren; es wird durch die FundamentalKonstanten3 c, G, ħ spezifiziert und erklärt, was induktive Physik einfach hinnehmen muss, nämlich warum
–Wechselwirkungen nicht instantan erfolgen,
–Gravitation und Elektromagnetismus gleiche Ausbreitungsgeschwindigkeit haben,
–Interferenzen auf atomare Distanzen quantenmechanische Phänomene hervorbringen,
–Interferenzen auf Distanzen der Größenordnung des Elementarteilchen-Radius (Compton-Länge) die Starke Wechselwirkung hervorbringen.
In der deduktiven Physik bildet die Massendynamik den Ausgangspunkt für alle Erklärungen von Elementarteilchen, während induktiver Physik die Brücke vom Makroskopischen zu den Elementarteilchen nicht gelingt. Nota bene: Es erklärt nicht, was es selber sei – außer indirekt durch seine Zweckmäßigkeit als Substrat für die Vorstellung der materiellen Welt. Wer sich die Dynamik des Kontinuums vorstellen kann, hat das Fundament für alles weitere Verständnis