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ob er etwas begreift.

      »Genau genommen stimmt das«, antworte ich an seiner Stelle.

      Und zeige auf den Eimer in der Ecke. Seit zwei Tagen steht er da ohne geleert zu werden. Und darin unser aller Gestank, Frauen- und Männerjauche, deren wir uns schon lang nicht mehr schämen.

      Wir sind draußen gewesen, deshalb beißt uns der Gestank in den Augen, genau genommen wird uns sogar übel davon, nur Zigmas beißt er nicht in den Augen und ihm wird davon nicht übel, denn er ist eins geworden mit ihm, wie ein Hund, der die Pantoffeln seines Herrchens unter sich vergräbt wenn niemand zu Hause ist.

      »Tut gut, so dazusitzen, nicht wahr?«, versuche ich dies auch den anderen schmackhaft zu machen, doch ich bekomme keine Antwort.

      Wenn der Kuckuck aus der Uhr kommt, in der gar nie einer war, dann kommt mit ihm die Beklommenheit. Denn rundherum wimmelt es von Menschen, die wissen, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sich die Hölle auftut. Gegen die führen wir Krieg.

      Ich schickte alle zurück, als ich diese seltsame Beklommenheit fühlte. Besser tausend Mal wegen der eigenen schamlosen Beklommenheit fehl gehen, als einmal eine solche Vorahnung zu ignorieren und in Gefahr geraten.

      Sie denken da anders.

      Aber ich habe Sie ja schon gewarnt, ich bin der Anführer.

      »Aufgestanden!« Ich springe auf. »Palubeckas, bring diesen Gestank raus!« Ich zeige zum Eimer. »Wenn du siehst, dass sie dich umzingeln, dann leer ihn aus. Den Gestank werden sie nicht ›durchbrechen‹«.

      Wir kriechen erneut hinaus, diesmal in anderer Reihenfolge. Zuvorderst Palubeckas, unser »Fahnenträger«.

      »Wie verabredet, Zigmas,« ermahne ich ihn. »Wenn Schritte, du bschsch – und kein bumm.«

      Palubeckas entfernte sich weit genug von uns und verteilte unsere Exkremente in kleinen Häufchen im Wald. Damit niemand auch nur den leisesten Verdacht hegte, dass dieses Vermögen von acht Höllenbewohnern angehäuft worden war.

      »Und kein bumm«, pflichtet mir Zigmas bei und fordert mich auf, mich zu bücken.

      Ich muss sowieso da runter. Palubeckas hat mir den Eimer gebracht und ich werde ihn an seinen Platz zurückstellen.

      »Nur schnell, Zigmas, sag schon.«

      Aber Zigmas drückt statt es zu sagen die Augen zu und hebt eine Backe seines armen Hinterns, mit dem sein Körper endet. Dann ist ein Furz zu hören.

      Ich steige schnell die Leiter hinauf.

      »Kein bumm«, wiederholt er zufrieden. »Sei nicht böse, Chef, wir haben gescherzt.«

      »Idiot«, sage ich zu mir selbst und schlage den Deckel scheppernd zu.

      Heute ist Sonntag, der einundzwanzigste August.

      Ich gehe mit Bartkus an der Spitze. Er reicht mir bis zur Schulter. Er putzt seine Brille und setzt sie auf. Er erinnert an einen fleißigen Wissenschaftler. Einmal, als wir ihn in anständigen Kleidern nach Klaipėda schickten, da klatschte sogar Molkerei in die Hände und strich ihm sanft über die Kleider. »Bartkus, mein Kind«, sagte sie, »zu einem wie dir würde ich auf Knien angekrochen kommen. Ich pfeif auf den Krieg, hörst du?«

      Doch man muss Molkerei kennen.

      »Ich und Bartkus sind die Ziellinie«, rufe ich den anderen, den Zurückgebliebenen zu, obwohl ich sie erst vor einer Viertelstunde zurück in den Bunker getrieben habe. »Irgendwas passt mir hier nicht«, sagte ich zu ihnen. »Wir sind die Ziellinie, verlieren will niemand. Ihr wisst ja, was den Betreffenden am Montag erwartet, wenn heute wirklich Sonntag ist. Wäschewaschen und Kaffee – jedem einzeln ans Bett. Und der Eimer.«

      »Der Eimer ist leer.«

      »Den kriegen wir schon voll.«

      Das ist unser Morgentraining.

      Die beiden Palubeckas sind in Führung. Palubeckas, etwas über dreißig, schwarzes Haar, dichte Augenbrauen und kreideweißes Gesicht, als ob er an einer unheilbaren Krankheit litte, daneben mit einem ebensolchen Gesicht Palubeckaitė, nur ohne Anzeichen von Krankheit, zehn Jahre jünger als ihr Bruder. Es folgt Mozūra. Ein großer Blonder, mit vorstehenden Backenknochen, läuft so, als ob er einen Ball dribbeln würde. Dreht sich um und verlangsamt den Schritt. Er wird nicht verlieren.

      Molkerei rutscht aus und kann gerade noch Kasperavičius zu Fall zu bringen. Sie steht auf und läuft in unsere Richtung los, ihre großen Brüste stampfen wie Zylinderkolben unter der Armeejacke, das Hemd ist schamlos aufgeknöpft. Sie ruft:

      »Molkerei hat noch nicht verloren.«

      Das ist unser Krieg. Die versammelten großen Kriege würden ihn an den Schandpfahl stellen. Und dann würden ihn noch die versammelten Leben anspucken.

      »Ich hätte nicht verlieren sollen«, sagt Kasperavičius.

      Er hält an der Ziellinie nicht an, geht an uns vorbei. Gleich wird er uns ein Fuhrwerk organisieren. Wir setzen uns und warten unter den letzten Baumreihen. Vor uns – nur großes weites Feld.

      »Hört mal, und wo ist die Seife?«, fasst sich Bartkus. »Haben wir die Seife vergessen?«

      »Die Seife ist dort«, sagt Molkerei.

      »Wo dort?«

      »Im Loch, bei mir, eingenäht. Wo dort? … Unter den Bäumen ist die Seife. Beim Stauwehr.«

      »Gut«. Er beruhigt sich wieder. Er zieht eine Zigarette aus der Tasche und raucht. »Gut, dass sie unter den Bäumen ist, nicht wahr?« Er dreht sich zu mir um.

      »Hervorragend!«, erwidere ich.

      Wir warten und schweigen. Was sollten wir auch sonst tun. Wir sitzen da, als ob sich vor uns eine große Pfütze befände. Oder ein Sumpf. Kein Feld. Ja, etwas wie ein Meer. Und schauen dem sich entfernenden Kasperavičius nach. Wird er nicht einsinken?

      So pflegte der Graf dazusitzen. Im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer und manchmal im Herbst, wenn der Wind nicht zu stark blies. Vor 1912 war er durch die Welt gezogen, ab 1915 war er krank. Und im Frühling zwölf bis fünfzehn, im Sommer, im Herbst und manchmal auch im Winter liebte er es so dazusitzen. Manchmal kam er allein her, manchmal mit seiner Frau, doch stets brachte er einen Schaukelstuhl mit. Und rauchte gute Zigarren. Niemand anderer in unserer Umgebung rauchte solche Zigarren. Der Stuhl schaukelte im Sand bis er stecken blieb. Dann blickte der Graf starr vor sich hin. Doch vor ihm befand sich das Meer, vor uns – im besten Fall ein Feld.

      Kasperavičius hat es offenbar mehr als einmal erfolgreich ohne Einsinken durchquert.

      Möchte ich ein Graf sein, so komme ich hierher und setze mich hin. Nur ging er zwölf bis fünfzehn ganz allein zu allen Jahreszeiten hin, um sich als »Randmensch« zu fühlen. »Randmensch« im Staat – den er vor dem Meer schützte. Mein Wunsch ist es, ein ganz Gewöhnlicher zu sein. Ich komme hierher, zu diesem Feld, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass das Land mich schützt.

      Dann brüstete sich Graf noch gern mit seinem neuen Landungssteg. Ein langer Landungssteg, der sich ins Meer gebohrt hatte. Wie ein adliger Finger, der der nichtadligen Natur zeigte, wer hier wem untertan ist. Ich habe keinen Landungssteg. Und nichts könnte bezeugen, dass manchmal Leute aus dem Wald zu diesem Feld kommen. Darauf achte ich genau.

      Dann organisierte der Graf, um das Meer zu übertönen, auch noch gerne Konzerte. Eine gewaltige Symphonie plärrte dann so laut, dass das Wasser verstummen musste. Manchmal konzertieren auch wir. Wir plärren scheußlich verstimmt irgendein Lied daher. Dies passiert aber nur, wenn es stürmt, donnert, Bäume ausreißt, mit einem Wort, die Natur darf ihr Herumtollen nicht unterbrechen. Dann kann man in seiner Höhle nach Lust und Laune blöken und brüllen.

      Der Graf ist der, der am Anfang von alledem stand. Der Mensch, der seine Bürger nicht vor dem Meer schützte. Die Natur hat sich über uns erhoben.

      Es geschah an einem Sommernachmittag 1915, einem ganz normalen Geburtstag des Grafen.

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