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eines Menschen erschüttert, der sein Leben an der Oberfläche des goldenen Zeitalters zugebracht hat.

      Wer immer man war in diesem Krieg, einfacher Kolchosarbeiter oder Leiter einer ganzen Kolchose, loyal gegenüber einer der Kriegsparteien oder auch nicht – der Krieg würde einen finden. Denn alle, die nur friedlich den Boden bearbeiten, sich keinen Deut um Überzeugungen scheren wollten, bewohnten in Wirklichkeit die Treppenhäuser dieses Hochhauskrieges. Und manchmal fanden da Kämpfe statt.

      Nur die Städte standen da wie unerschütterliche Festungen. Der Krieg drang nicht bis dorthin, denn in den Straßen löste der Belag die Vertikalität auf.

      Städte gab es jedoch nur wenige.

      Auf litauischer Seite kämpften ungefähr zwanzigtausend. Bald so viele, bald weniger. Nicht ein einziges Mal aber hatten sie sich an einem Ort versammelt, nicht ein einziges Mal getroffen, sie hausten unter Öfen, unter Altären in Kirchen, sogar auf Friedhöfen gab es Bunker.

      Und doch war dies ein Krieg, wie seltsam auch immer er aussehen mochte. Der größte Krieg der Litauer im goldenen Zeitalter.

      Und die Menschen, die in diesen Krieg zogen, waren einst Auto gefahren, hatten Belgien und die Schweiz gesehen, Geld auf der Bank gespart und viele Dinge getan, die man ihnen keinesfalls zutraute, wenn man sie so unter der Erde sah.

      Von der Oberfläche des goldenen Zeitalters aus gesehen war es ein interessanter Krieg, obwohl er keine entscheidenden Auswirkungen hatte – wie auch die anderen Kriege.

      Es war eine interessante Zeit, soviel ist dazu zu sagen. Und dieses Buch handelt gar nicht vom Krieg und den Litauern, es handelt vom goldenen Zeitalter in den Augen eines Menschen, der des Öfteren durch sein Zielfernrohr einen Blick darauf werfen durfte.

      Jonas Žemaitis – so heißt dieser Mensch. Obwohl alles, was hier geschrieben steht, erstunken und erlogen ist.

      Und noch etwas. Die Perspektive ist völlig verkehrt.

      Ein ganz gewöhnlicher Mensch, nicht schuld daran, als Russe zur Welt gekommen zu sein, obwohl das mehr als nur die Zugehörigkeit zu einem Volk bedeutete, hatte vier Jahre lang als Kanonen- und Panzerfutter gedient. Und da ist er nun, dieser Russe, dieses Futter und will wieder Mensch sein! Er hat den größten Krieg der Welt gewonnen, er geht durch seine Stadt, er hat diese Stadt verteidigt. Und plötzlich kommt ihm zu Ohren, dass es irgendwo am Rande seines Landes Ausgeburten geben soll, die noch Lust auf Krieg haben.

      Anstelle dieses Russen, aber nur wenn ich wirklich Russe wäre, würde ich meinen Rucksack packen und zu diesen Ausgeburten fahren, um sie fertigzumachen. Der Russe tut genau dies. Doch er findet einen ganz anderen Krieg vor. Einen trägen, langsamen, seine Geduld auf die Probe stellenden – so ist nun mal der Charakter der Litauer.

      Und plötzlich verspürt dieser unschuldige Russe, das ehemalige Kanonenfutter, eine enorme Müdigkeit. Doch dieselbe quälende Müdigkeit spüren auch die Ausgeburten, die den Russen herausgefordert haben. Und das gemahnt sehr an einen Boxkampf zweier Schwarzer in der zwanzigsten Runde. Die Schwierigkeit ist nicht das Zuschlagen, sondern das Aufstehen von seinem Platz in der Ringecke.

      Auch davon handelt dieses Buch. Von der außergewöhnlichen Müdigkeit. Vom letzten und entscheidenden Sprung aus der eigenen Ringecke.

      Anstelle dieses Russen würde ich nirgendwohin fahren, anstelle jenes Litauers das goldene Zeitalter durch ein schmutziges Milchglas betrachten. Aber so spreche ich nur, weil ich ruhig und sicher außerhalb des goldenen Zeitalters stehe.

      Krieg, Litauen, 1950. Was gibt es da noch mehr zu sagen. Das Leben ist vertikal. Die Gefühle – horizontal.

       1

      Stellt euch einen Wald vor, scheinbar menschenleer. Oder eine Kuckucksuhr. Wie der Kuckuck plötzlich seinen Kopf herausstreckt. Und jetzt eine Uhr – ohne Kuckuck. Und euer friedliches Leben, begleitet vom Ticken dieser Uhr. Und euer Staunen, wenn in diesem durch und durch bekannten Mechanismus plötzlich ein Kuckuck auftaucht.

      Auch wir dachten manchmal im Scherz, das müsse einem Unbeteiligten wie die Hölle vorkommen. Er hatte natürlich von einer seiner Großmütter davon gehört, wie sich die Hölle auftut, und hatte jetzt, im August 1950, selbst die Gelegenheit, sich davon überzeugen. Juozas Kasperavičius kroch absichtlich immer als erster aus dem Bunker, stieß den Deckel auf und steckte seinen Kopf so rasch durch die Öffnung, als ob das alles wirklich von dem Unbeteiligten beobachtet würde, dem seine Großmutter erzählt hatte, wie sich die Hölle auftut.

      Was suchen wir da?

      »Still wie nach der Sintflut«. Das ist Bartkus. »Juozas hat allen einen Schreck eingejagt.«

      Wir leben.

      »Und heiß, man könnte direkt die Pickel trocknen.«

      Nach oben kriechen wir jeweils, um zu überprüfen, ob dem auch wirklich so ist.

      »Ich werde dem gehören, der mich herauszieht«, sagt Molkerei. »Ich werde auch die Pickligen nicht verachten.«

      Die Hand gibt ihr Bartkus, denn Kasperavičius sucht noch immer nach demjenigen, dem die Großmutter erzählt hat, wie sich die Hölle auftut. Doch Molkerei wird nie Bartkus oder Kasperavičius gehören, sie gefällt sich darin, allen zu gehören. »Molkerei« heißt sie wegen ihrer Brüste. Die sind riesengroß. Und werden nur selten nicht zweckentsprechend gebraucht. Wie viele Kinder sie hat? – ich weiß es nicht. Von wem und wann sie schwanger wird – ebenfalls für alle ein Rätsel. Niemand weiß, was sie vor dem Krieg so machte, wahrscheinlich gebar sie Kinder. Dasselbe im Krieg. In der übrigen Zeit ist sie als Verbindungsfrau tätig. Soll mich Gottes Zorn dafür treffen, dass ich eine missratene Mutter lobe, aber als Verbindungsfrau ist sie gar nicht von Pappe.

      Mozūra ist ein stiller Berg. Er kriecht schnell heraus. Und hartnäckig, geduldig. Allein sein riesiger Wuchs könnte ihn daran hindern, in den Schulbüchern der Zukunft als Beispiel für einen Landwirt aus der Zwischenkriegszeit herzuhalten. Im vorigen Krieg brachte er mit bloßen Händen drei Deutsche zur Strecke. Als sie seine Kuh holen kamen. Er begrub sie in zwei Meter Tiefe und pflanzte das Tier darauf. Seit jenem denkwürdigen Ereignis gräbt er besser als alle anderen Bunker.

      »Und wer gibt mir die Hand« … Das ist Palubeckaitė.

      Sie streckt die Hand durch die Öffnung, in der vergeblichen Hoffnung, unter diesen Soldaten einen Mann mit höfischen Manieren zu finden.

      »Steig hoch«, treibt sie ihr waschechter Bruder an. »Vorwärts, es warten Leute.«

      »Leute«, das sind er, Palubeckas, dann noch ich – Jonas Žemaitis. Teilweise auch Zigmas, ein Schuster, der keine Beine mehr hat. Nur dass Zigmas nicht wartet, er bleibt.

      »Wenn du Schritte hörst«, warne ich. »Bschsch«, imitiere ich Schweigen mit dem Finger an den Lippen.

      »Bschsch«, wiederholt Zigmas.

      Fraglich, ob er etwas begriffen hat.

      »Wenn du nicht bschsch sagst, dann macht’s bumm.«

      »Bumm«, lacht er zufrieden.

      »Für sie auf dich – ein einziges puh. Bschsch, damit es nicht bumm macht. Wiederhole.«

      »Bschsch, damit es nicht bumm macht. Puh puh puh«, wiederholt er. »Rums«, sagt er noch zu sich selbst, während ich den Deckel scheppernd zuschlage und ihn von den anderen trenne.

      Ach so, ich habe euch nicht gewarnt, ich bin der Anführer.

      Doch Zigmas bleibt kaum genug Zeit, sich das Gesagte zu merken, denn die Schritte nähern sich, noch bevor sie sich entfernt haben. Da sind wir wieder. Wir kriechen zurück wie die Mäuse.

      »Wir warten ein Weilchen«, antworte ich auf den erstaunten Mäuseblick des Schusters. »Wir setzen uns noch ein wenig, bevor wir uns auf den Weg machen«.

      Ich fühle mich, als ob ich eine halbe Stunde mit meiner Liebsten herausgeschunden hätte. Denn draußen vor dem Fenster regnet es in Strömen. Doch vor dem Fenster sticht die Sonne,

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