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Nachbarnehepaar häufte, woraufhin er, nicht bange, sie kurzerhand packte, schulterte, die Treppe hinaufschleppte, ruckzuck in ein Zimmer sperrte und den Schlüssel für immer fortwarf – zu spät allerdings, die böse Saat meiner Omma war längst aufgegangen. Das Haus leerte sich, und nur Tante Martha und Onkel Paul, die sich in fünfzig Jahren Ehe alles gesagt hatten, was es zu sagen gab, hockten noch mürbe in einer Ecke und kuckten Löcher in die Luft. Hä-ä, hä-ä, sagte Tante Martha, Hä-ä-ä, hä-ä-ä, antwortete Onkel Paul.

      1989

       Schimpfen und Schänden

       Vom Niedergang der Beleidigungskultur

      BERLIN: EINSKOMMASECHS ODER einskommaacht Millionen Gründe, den Verstand – soweit vorhanden – zu verlieren, durchzutitschen, auszurasten, boing, crashbang. Dazu das Alles-große-Klasse-Gelabere, das wir schon zum Würgen auswendig können, von den Thatchers, Reagans, Kohls und ihren Schmalspurepigonen, den Diepgens, Wohlrabes und anderen Flachkräften des öffentlichen Dahinvegetierens; dazu die aus fahrbaren Metallcontainern wild abgekippten Fleischmassen, Kannibalenfutter mit Stadtplan in der Hand, und wenn die Gruppe nur mindestens Dutzendstärke hat, ist alles wunderbar und geritzt; dazu das Klimakteriumsklima, Leichenwetter hätte Marlowe gesagt, irgendwas knallt zu heftig in die Köpfe runter, und dann badet plötzlich einer in anderer Leute Blut.

      Friedliebendster Stimmung hockt man am späten Abend im Cafe, schlürft und plappert und schwatzt, da kommt auf einmal einer ohne Ventile rein, Wollmütze, Sonnenbrille, Sauerkrautbart, de Niros Taxi-Driver-Kram, nimmt die Brille ab und stiert. Und schweigt. Und stiert. Minutenlang, ohne jeden Ausdruck zwischen den Ohren. Bis es einem zu blöde wird und man wegkuckt, aus den Augenwinkeln aber noch rüberlinst, ja, er glotzt noch, der Junge hat Ausdauer. Und plötzlich reißt er dieBrille über die Augen, springt vom Hocker und wetzt nach draußen auf die Straße. Ssst, weg isser.

      Der nächste Tag, ein anderer Stadtteil, schlendern, nixtun, in einen Stuhl gleiten, Seele baumeln lassen. Auch unser Überdruck-Mann ist wieder da, ohne Mützchen und Brille heute, zweihundert Meter noch entfernt, aber man hört ihn brüllen, »Ihr Arschlöcher! Ihr Schweine!«, ganz ungezielt-gezielt an alle geht das, die Arme rudern in der Luft, die Beine schlenkern und die Fäuste kloppen ins Leere.

      Er kommt näher und krakeelt und tobt und teufelt, »Drecksäue! Ihr widerlichen Schweine!«, sein Überdruss-Repertoire ist begrenzt, woher soll’s auch kommen, es gibt ja keine Kultur des Schimpfens, bloß das wohlfeile unterdrückte Geseimel, die öde Vernünftelei und maximal einen verlogenen, nie so gemeinten Ansatz angeblicher »Streitkultur«, so spannend wie ein Tässchen Tee mit dreißig alten Schnepfen.

      In geringem Abstand passiert der Nachwuchsbrüllo das italienische Cafe, »Ihr braucht gar nicht zu glotzen, ihr feisten Säcke!«, obwohl niemand kuckt oder höchstens nur ein bisschen, »Soll ich da mal hinkommen? Ich komm da jetzt mal hin!«, spurtet er blitzschnell aufs Lokal zu, bremst einen halben Meter vorm Nebentisch und geht zur Einzelbeleidigung über, »Du Macker! Du Scheißtyp! Du Wichser!«, insultiert er einen gänzlich überraschten Gast mittleren Alters, der ihn erstarrt-entgeistert ansieht und nicht weiß, wie ihm geschieht; der andere zwängt sein Gesicht in das des Gegenübers und kaut ihm fast ein Ohr ab, »Du mieses Schwein!«, nein, die Wahl seiner Mittel ist wirklich extrem begrenzt. Fluchend und schattentretend stürzt er weiter, und als er schon ein paar hundert Meter weitergezockelt ist, hört man noch sein Gezeter und Gemaule.

      Traurig seufzend blickt man ihm nach, dem Amateur, dem Anfänger; zwar atmet er den rechten Geist, allein, es fehlt an Unterweisung. Unsere kleine Kulturaffenstadt schläft den großen Schlaf, und die Hohe Kunst der tödlichen Beleidigung verstirbt.

      Zweitausend Jahre Kultur umsonst, schüttelt der italienische Wirt den Kopf hinter der Gebetsmühle auf Beinen her, und er weiß gar nicht, wie recht er hat.

      1988

       Nur mal so reinriechen

       Anonyme Geschlechtsverkehrer berichten

       Eine Betroffenenreportage

      SIE LEBEN MITTEN UNTER UNS und doch am Rande der Gesellschaft: Geschlechtsverkehrer.

      Ihre tückische Krankheit wird in Liedern bagatellisiert, ihre Sucht mit lockeren Sprüchen und Witzchen verharmlost. Doch Millionen Menschen in diesem Land sind schon heute betroffen, und täglich erhöht sich ihre Zahl.

      Als M. mich vor wenigen Stunden anrief und um ein Gespräch bat, wusste ich noch nicht einmal von der Existenz der »Anonymen Geschlechtsverkehrer«. Jetzt stehe ich gespannt und beklommen

       Transpirierend und beklommen

       ist er vor die Tür gekommen

       Ach, sein Herz das klopft so sehr

       doch am Ende klopft auch er

      (Wilhelm Busch)

      vor der Tür einer Kreuzberger Hinterhauswohnung. Ein bärtiger Mittdreißiger öffnet, schüttelt mir herzlich die Hand und stellt sich mit »Du, ich bin der M.« vor.

      In einem großen Raum ist ein gutes Dutzend Leute versammelt: »Anonyme Geschlechtsverkehrer«, ihre Angehörigen und Betreuer. Auf den Tischen stehen Knabberschälchen mit bunten Psychopharmaka. Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten sind hier versammelt, Menschen, deren Wege sich nie gekreuzt hätten, verbände sie nicht die eine Sucht: Geschlechtsverkehr. Oder, wie B. sagt, »dieses gottverdammte Ficken«. B. ist Angehörige.

      »Ich habe jahrelang danebengelegen und von nichts gewusst. Weil ich von nichts wissen wollte!« gesteht sie mit bitterer Stimme und legt ihren Arm um J.s Schulter. J., ein zerrüttet wirkender Brillenträger, ist ihr Ehemann. Sechs Jahre waren die beiden verheiratet, bevor B. seine Sucht bemerkte.

      »Es war die Hölle.« J. spricht stockend und schwerfällig. »Am Ende habe ich es überall getan, in den Blumen, im Büroschrank, auf dem Weg zur Arbeit. Ich wollte es vor B. geheimhalten und alleine damit fertigwerden, aber es war stärker als ich. Als ich schließlich beim nüchternen Morgenverkehr war, wusste ich: Jetzt geht es auf Leben und Tod. Wenn B. nicht gewesen wäre ...«

      Bei »Bürger bekennen: wir haben gefickt« sei er gewesen, berichtet K., aber dort sei man nur scharf auf Prominente gewesen. Ich erfahre von einem katholischen Arbeitskreis »Verkehr – Fluch oder Segen«, einem marxistischen Hochschulseminar »Der Geschlechtsverkehr als durchsichtiges Täuschungsmanöver der Bourgeoisie« und einer DKP-Liste »Einheitsfront Weg mit dem Ficken!« Überall aber habe man nur die Nöte und Bedürfnisse der Betroffenen ideologisch missbraucht.

      So haben sie sich schließlich zu praxisnah orientierten Organisationen und Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. D., früher selbst Betroffener und heute ehrenamtlicher Helfer der Gruppe »Hand im Schoß«: »Wir können oft gar nicht viel tun. Zunächst zählt nur da sein, zuhören und aufwischen.« Ein Weinkrampf unterbricht ihn. Nur Satzfetzen sind zwischen den Schluchzern zu verstehen. »... alles ganz harmlos angefangen … nur mal so reinriechen ...«. Es ist erschütternd.

      Tiefberührt verabschiede ich mich. Ja, ich werde berichten, ich werde darüber schreiben, ich verspreche es. Viele Hände muss ich schütteln bei diesem vorläufigen Abschied. Auf der Straße fällt mir die schummrige Beleuchtung in vielen Fenstern auf – es sind Schlafzimmerfenster. Mich fröstelt. Irgendwo dort draußen wartet eine Frau vielleicht auch auf mich.

      1989

       Tazionalsozialismus

       Die Fortsetzung des Holocaust mit liberal- humanistischen

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