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ich noch berichten werde, gab es auch in meinem weiteren Leben Zeiten, an denen ich das Herz in beide Hände nehmen, Angst überwinden, mich erkühnen und neuen Mut schöpfen musste. Die Erinnerung an diese Lehrstunde hat mir in kritischen Momenten sehr geholfen. Es war eine wegweisende Lebenserfahrung. Ein prägendes Ereignis mit langem Schatten.

      Wieder eine weitere Zusammenkunft in der Aula. Ein westdeutscher Friedenskämpfer aus Mainz hatte sich angesagt und wollte von seiner löblichen Tätigkeit berichten. Der Vortag war eine läppische Aneinanderreihung von alltäglichen Delikten, natürlich im Sinne der Friedenssicherung, und davon, wie man in überlegener Weise die Polizei zum Narren halten konnte. Am Ende durften Fragen gestellt werden. Unser schon etwas älterer Lateinlehrer bat um Auskunft, da er seit dem Krieg nicht mehr in seiner Studentenstadt Mainz war, ob denn der 50. Breitengrad noch immer unversehrt geblieben und für jeden Besucher sichtbar sei. Die Reaktion war ein verlegenes Gestammel, ein hilfesuchendes Herumgerede. Jedem intelligenten Menschen im Saal war klar, dass es sich um einen auf Tour geschickten Schwindler handelt. Jedes Mainzer Schulkind kennt das in der Innenstadt in das Straßenpflaster sichtbar eingelassene Metallband als Markierung des 50. Breitengrades nördlicher Breite. Noch heute haben es die politischen Propagandisten und die Missionare der Indoktrination schwer mit mir.

      Angefangen habe ich mit einer Vier in darstellender Geometrie, aber das Studium beendet mit einem „Sehr gut“ in der Diplomarbeit. Die größte Hürde war für mich Russisch. Bei der ersten Prüfung durchgefallen und die zweite mit Ach und Krach bestanden. Ich bin einfach nicht sprachbegabt. Die Ingenieurfächer mit mathematischen, physikalischen, mechanischen und konstruktiven Anforderungen fielen mir dagegen umso leichter.

      Da ich bei Studienbeginn erst 17 Jahre alt war, durfte ich noch in der A-Jugend spielen und wechselte zu „Empor Tabak Dresden“.

      Die erste Note an der TH, die schon erwähnte Vier, war ein Segen für mich, denn nun gab es keinen Zweifel mehr, ich musste mich auf das Studium konzentrieren und dem Vereinsfußball für immer ade sagen. So verabschiedete ich mich am Ende der Jugendsaison von meinen Sportkameraden.

      Das siebte Semester war für ein Praktikum bestimmt. Hans und ich erhielten eine Anstellung bei der damals noch privaten Baufirma Louis Schneider in Riesa. Zu Beginn arbeitete ich auf einer Brückenbaustelle, wechselte danach zum Gerüstbau und die restliche, etwa halbe Zeit, durfte ich im Konstruktionsbüro mitwirken. Dessen Leiter war ein ehemaliger Professor aus Rostow am Don. Er hatte in Karlsruhe studiert und sprach sehr gut deutsch. Auch seine Familie lebte in Riesa. Der erwachsene Sohn arbeitete ebenfalls bei Louis Schneider. Anfangs war er sehr zurückhaltend und beschränkte sich auf die notwendigen technischen Anweisungen. Mit der Zeit aber öffnete er sich mehr und mehr, es entstand in der Tat ein Vertrauensverhältnis.

      Eines Tages überraschte er mich sogar mit der Prognose, dass ich eine große Zukunft vor mir hätte. Von ihm hörte ich dann auch seinen Lebensweg: festgenommen und eingekerkert während der Oktoberrevolution. Ein nachträglich empfundener Glücksumstand, denn der Kerker war ein unerwartet sicherer Ort. Nur weniger seiner Gefährten hatten die verderblichen Unruhen überlebt. Danach arbeitete er als Bauleiter an verschiedenen Orten. Amüsant, wie fehlendes oder unpassendes Material auf russische Art beschafft oder passend gemacht wurde. Nach einigen Jahren erreichte ihn ein Ruf an die Rostower Technische Hochschule als Professor für Baukonstruktionen. Als die deutschen Truppen Rostow am Don erreichten und sich später wieder zurückzogen, schloss er sich mit seiner Familie dem Rückstrom an und galt später in der DDR als Heimatvertriebener aus den deutschen Ostgebieten. Stets plagte ihn die Sorge, unter den sowjetischen Offizieren könnte ihn ein ehemaliger Student durch einen unglücklichen Zufall wiedererkennen. Es erfüllt mich noch heute mit ehrendem Erstaunen, von ihm auf diese Weise ins Vertrauen gezogen worden zu sein.

      Meine Studienjahre waren zwar angefüllt mit ernsthaftem Bestreben und aufsteigendem Erfolg, ließen aber auch Raum für studentisches Lebensgefühl. Das Vordiplom feierten wir auf der Bastei in der Sächsischen Schweiz. Zur Eröffnung sangen wir gemeinsam „Gaudeamus igitur“, zogen später mit brennenden Fackeln auf Bergeshöhe, wo ein Kommilitone die „Bergpredigt“ verkündete.

      Meine Unterkunft im Studentenheim konnte ich schon nach zwei Semestern mit einem Vierbettzimmer in einer alten Villa tauschen. Wiederum zwei Semester später bezog ich ein Privatzimmer bei einem Ehepaar. Der Mann war mir bestens bekannt, denn es war mein ehemaliger Trainer beim Fußballklub, sowohl in Riesa als auch später bei Tabak Dresden. Zufälle gibts. Als vier Jahre nach mir mein Bruder ebenfalls an der TH Dresden ein Studium für Radiochemie aufnahm, konnte ich ihm in Absprache mit meinen Vermietern das Zimmer überlassen, da es mir gelang, ein anderes Privatzimmer zu finden. Bei der Zimmersuche hatten es Erstsemester sehr viel schwerer als Altsemester, eine Privatunterkunft zu finden. Mein neues Zuhause war ein gut möbliertes Zimmer, allerdings mit einer Waschkommode am Bett. Dafür wurde ich aber von meinen beiden Wirtinnen, zwei alleinstehenden, schon etwas älteren Schwestern im Ruhestand, wie ein Herr Studiosus alter Prägung umsorgt. Nach dem Aufstehen ging ich gewöhnlich zur Toilette auf halber Höhe im Treppenhaus. Zurückgekehrt stand ein Kännchen mit heißem Wasser zum Nassrasieren neben der Waschschüssel. Etwas später, nie zu früh, wurde das Frühstück serviert und der Herr Studiosus begab sich gestärkt auf den Weg zur Universität. Die überaus fürsorgliche Betreuung erstreckte sich allerdings auch auf die übrige Zeit. Die Beaufsichtigung kannte keine Unterbrechung. Damenbesuche waren ohnehin strikt untersagt. Das letzte Semester war hauptsächlich für das Anfertigen der letzten Belegarbeiten und für die Vorbereitung der Diplomarbeit vorgesehen. Planmäßige Lehrveranstaltungen blieben nur noch für Nachzügler im Programm.

      Die Einteilung des Tages oblag nunmehr der persönlichen Neigung und dem Vorwärtsstreben, sofern keine Wiederholungen anstanden. Einige Studienkameraden wohnten ganz in der Nähe, und so verabredeten wir uns mal beim einen, mal beim anderen zum geselligen Abend bei Schach, Skat, Plausch und selbstredend auch zum Junggesellentratsch und so manchen studentischen Träumen. Bier zu trinken war üblich, höherprozentigen Alkohol gab es nur zu ausgesprochenen Ausnahmesituationen. Ich habe nie einen betrunkenen Studienkameraden erlebt. Rauschgift war völlig unbekannt. Es war noch nicht einmal ein Thema. Über Politik sprachen wir selten, obwohl jeder von uns eine Vorstellung von der übereinstimmenden Grundüberzeugung des anderen hatte. Keiner wollte sein Studium leichtfertig gefährden, hielt gesellschaftspolitische Kritik in unserer Situation ohnehin für fruchtlos. Noch war es für einen normalen, intelligenten Kopf einigermaßen machbar und erträglich, im Strom der vorgegebenen Sichtweisen mitzuschwimmen. Der heutige Leser muss bedenken, wir gehörten zu den Überlebenden eines furchtbaren Krieges, unser Land war größtenteils zerstört, der Wiederaufbau hatte gerade begonnen und wir wollten als zukünftige Bauingenieure daran nach besten Kräften mitwirken.

      Hin und wieder flog mitten in der Nacht ein Steinchen an meine Fensterscheibe. Unten stand meistens mein Kommilitone Paulchen und forderte mich auf, unverzüglich zu ihm zu kommen. Es fehlte der dritte Mann zum Skat. Der Trainingsanzug war schnell über den Schlafanzug gezogen und ich stand zur Verfügung. Hatte ich doch selbst Freude und Vergnügen am Skatspiel und der Geselligkeit. Gegen elf Uhr am Morgen machten wir uns dann auf zur Mensa, noch immer im Trainingsanzug, um uns zu stärken. Wieder im heimatlichen Quartier erschien eine meiner Wirtinnen mit erhobenem Zeigefinger und der Ermahnung: „Manfred, Sie leben wieder sehr unsolide.“ Es blieb bei dem Tadel, Konsequenzen hatte er jedoch keine.

      Die Osterfeiertage 1960 verbrachte ich zusammen mit meinem Bruder bei unserer Mutter in Riesa. Nach dem üblichen Osterspaziergang auf dem Gröbaer Elbdeich war ein Besuch im örtlichen Kino geplant. Viele Mitbewohner schlossen ein Wochenende oder einen Feiertag mit einem besinnlichen Kinobesuch ab. Vorausgesetzt, ein akzeptabler Film stand auf dem Programm. Dieses Mal wurde „Fanny“ angeboten. Nach Schluss der Vorstellung standen noch einige Grüppchen zusammen und unterhielten sich angeregt über private Begebenheiten. Mit uns unterhielten sich ein mit unserer Mutter sehr gut befreundetes älteres Ehepaar und stellten uns seine Enkelin Sybille aus Berlin-Rahnsdorf vor. Ein sehr charmanter, aparter und dazu noch sehr hübscher Teenager mit strahlenden Augen kurz vor seinem sechzehnten Geburtstag. Sie gefiel mir auf Anhieb. Ich war aber völlig unvorbereitet, da mich das Studium total ausfüllte, und empfand leichte

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