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Ein Jahr zuvor war ich in den Sportverein „Fortschritt Riesa“, Abteilung Fußball eingetreten und wechselte später in die A-Jugend zu „Chemie Riesa“.

      Vorausgegangen war bei annehmbarem Wetter ein beinahe tägliches Treffen einer Jugendclique auf dem Sportplatz der Radrennbahn – kurz „Ratsche“ genannt. Harald war der Älteste, arbeitete bereits im Stahlwerk, verdiente Geld und konnte uns einen Fußball spendieren. Dafür war er Ehrenmitglied. Ernstl wohnte in der Nähe und konnte aus dem Dachfenster die Ratsche überblicken.

      Sobald sich dort etwas regte, war Ernstl zur Stelle. Er zählt noch heute zu meinem Freundeskreis und wohnt noch immer ganz in der Nähe, sodass wir uns regelmäßig besuchen können. Auch er zählte neben zwei weiteren Freunden zum Kern unserer Jugendmannschaft in Riesa.

      Meine Mutter hatte in der nahen Umgebung in einem Kolonialwarengeschäft als Verkäuferin eine Arbeitsstelle gefunden. Sie legte großen Wert darauf, nahe bei unserer Wohnung arbeiten zu können, um die Mittagszeit zu nutzen, uns beiden Kindern immer nach der Schule ein Essen bereiten zu können und stets für uns bei Bedarf erreichbar zu sein. Sie selbst war gleichermaßen eingebunden in einen Freundeskreis, der ihr sicher in vielen belastenden Situationen Halt gab.

      Nach der Grundschule besuchte ich von 1951 bis 1955 die Max-Planck-Oberschule Riesa. Der einfache Schulweg nahm etwa eine dreiviertel Stunde in Anspruch. Bei ganz und gar miserablem Wetter erhielt ich von meiner Mutter für die Hin- und Rückfahrt mit dem Bus dreißig Pfennige. Viele Male habe ich mir dann doch ein Herz genommen, bin gelaufen und habe dreißig Pfennig in meine Sparbüchse getan. Da ich wegen der beruflichen Stellung meines Vaters nicht zu den Arbeiter- und Bauernkindern zählte, musste meine Mutter ein monatliches Schulgeld bezahlen. Als vier Jahre später mein Bruder zur Max-Planck-Oberschule nachrückte, galt er zu unserem Erstaunen als Arbeiter- und Bauernkind. Ein Entscheider hatte offensichtlich ein Einsehen und Mitgefühl.

      Täglich sah ich, wie meine tapfere Mutter sich abmühte, um die Familie über die Runden zu bekommen und dazu das Schulgeld aufzubringen. Als ich ihr eines Abends vorschlug, von der Schule zu gehen und im Stahlwerk eine Arbeit annehmen zu wollen, war sie strikt dagegen. „Und wenn ich Tag und Nacht arbeiten müsste, meine Jungs bekommen die beste Ausbildung, die erreicht werden kann.“ Ihr Heldenmut war ungebrochen. Ohne diese starke Mutter hätten mein Bruder und ich unsere Lebensziele wohl nicht verwirklichen können. In den Sommerferien habe ich für einige Wochen im Reifenwerk eine Arbeit angenommen und konnte auf diese Weise etwas zum Familienbudget beitragen. Die Arbeitseinsätze waren sehr abwechslungsreich vom Besenschwinger der Hofkolonne über Beifahrer im Lastwagen (ohne Führerschein), Formenreiniger in der Reifenfertigung bis hin zum Hilfsarbeiter bei der Fahrstuhlmontage. Bei letzterem Einsatz habe ich zwei sehr bedrohliche Arbeitsunfälle mit glücklichem Ausgang überstanden. Hier hatte ich in der Tat einen behütenden Schutzengel.

      Der erste Winter meiner Oberschulzeit war sehr kalt. Von einem Bekannten konnte ich ein Paar passende Wehrmachtsstiefel, sogenannte Knobelbecher, ergattern und erschien damit täglich in der Schule. Kein Lehrer, noch nicht einmal der Rektor, nahm daran Anstoß. Jeder musste damals eben sehen, wie er zurechtkam.

      Einige der Lehrer waren Kriegsteilnehmer und durch intensive Kurzlehrgänge umgeschult worden. Der Mathelehrer war Artillerieoffizier, der Chemielehrer hatte im Lazarett gesunden können, und der Deutschlehrer war ein beinversehrter Jagdflieger, der mit Krücken umherlief. Die Biologielehrerin war zuvor bis zur Vergesellschaftung Chefsekretärin bei Thyssen im Stahlwerk. Aber ausnahmslos alle beherrschten ihr Fach und konnten es uns auch erfolgreich vermitteln. Hin und wieder durchwehte ein spürbarer Hauch entlehnter einstiger Ordnung unsere Klassenräume. Durchaus zu unserem Vorteil.

      Unseren Deutschlehrer hatten wir besonders ins Herz geschlossen, obwohl es im Unterricht streng und zackig zuging. Ab dem elften Schuljahr waren wir eine reine Jungsklasse von neunzehn Schülern. Ein Schwätzer erhielt die Ermahnung: „Kerl, wenn du weiter schwatzt, schlag ich dir die Krücke auf den Schädel, dass du Plattfüße bekommst“. Oder ein Schüler, der vergessen hatte, ein Gedicht auswendig zu lernen, und eine Ausrede zusammen stotterte: „Setz dich, Dussel. Aber den Nächsten lass ich stehen, und wenn ihm der Schweiß den Arsch runterrinnt“. Wenn er das Klassenzimmer betrat, war manchmal zu hören: „Kerle, reißt die Fenster auf, ein Weibermief ist das hier.“ Wir haben uns köstlich amüsiert. Verehrt haben wir ihn vor allem, weil er in kritischen Situationen, die es auch gab, stets auf unserer Seite stand und uns beigestanden hat. Unsere Biologielehrerin rief einmal verzweifelt: „Ihr seid sehr intelligent, aber schrecklich doof.“ Gemeint hatte sie wohl unsere noch unterentwickelte Allgemeinbildung.

      Auch in Riesa gab es eine Jugendclique, sogar mit einem Hauptquartier, ein kleines Wäldchen am Ufer der Elbe. Bis Anfang der Fünfzigerjahre war das Wasser sauber genug, um hinüber ans andere Ufer zu schwimmen. Danach verschmutzte die Elbe zusehends. Vorbeitreibende Lastkähne wurden von uns mit einer Steinschleuder traktiert. Wir zielten auf die Bullaugen, getroffen haben wir allerdings nie eine. Die Schiffer tobten und brüllten herüber. Eines Tages kam wieder ein Kahn vorbeigetrieben, aber der Schiffer blieb ruhig vor seinem Steuerhaus stehen. Das hätte uns misstrauisch machen müssen.

      In dem Moment griff von hinten eine uniformierte Hand zu meiner Schleuder und die Polizei hatte uns am Haken. Auf der Wache erhielten wir eine einschüchternde Standpauke mit der Drohung, im Wiederholungsfall erfolge eine Meldung an die Oberschule. Das war in der Tat für mich bedrohlich. Alles durfte passieren, aber die Oberschule musste ungefährdet bleiben. So wie mir immer motivierend klar war, dass ich meine Mutter nicht enttäuschen durfte. Ich musste nicht unbedingt zur Leistungsspitze gehören, zur oberen Hälfte aber immer.

      Einige Jahre später, als ich schon studierte, aber noch regelmäßig meine Mutter besuchte, hörte ich von einer längeren politischen Gefängnisstrafe für unseren ehemaligen Deutschlehrer. Man hätte angeblich belastende Literatur bei ihm gefunden. Inzwischen war er wieder frei, aber ohne Anstellung. Dennoch blieb er in Riesa, und wenn ich ihm zufällig auf der Straße begegnete, ließ ich es mir nicht nehmen, ihn freundlich zu grüßen. Augenscheinlich hat ihn das sehr berührt.

      Es gab sportliche Wettkämpfe mit anderen Oberschulen. Je nach Qualifikation mussten wir auch schon mal etwas weiter reisen und in Jugendherbergen übernachten. Durch den Vereinssport war ich durchtrainiert und gehörte in mehreren Sportarten der Schulauswahl an. Für bemerkenswert halte ich die kluge Einrichtung im Sportverein, die uns beim Wechsel von der B- in die A-Jugend in Absprache mit der Ruderabteilung am dortigen Trainingsprogramm über sechs Monate teilnehmen ließ, auf der Elbe jeweils im Vierer mit Steuermann. Fußball war eben doch etwas einseitig, und die jungen Burschen sollten auch ihren Oberkörper ertüchtigen.

      Als ich am Mittwoch, dem 17. Juni 1953, nach Unterrichtsschluss auf dem Heimweg war und am Werkstor des Stahl- und Walzwerks vorbeikam, sah ich schon von Weitem russische Panzer auf der Straße stehen. Je näher ich dem Werkstor kam, desto gedrängter standen die Panzer. Zivile Menschen waren nicht zu sehen. Wie man mir später berichtete, hatten die Arbeiter die Arbeit niedergelegt und waren im Werksgelände von den Panzern eingeschlossen. Zum Glück kannte ich einen unauffälligen Seitenweg, der an der Elbe entlang durch unser kleines Wäldchen führte. So konnte ich die brenzlige Situation umgehen. Bis zu unserem Zuhause bin ich dann keinem einzigen Menschen mehr begegnet. Zwei Männer aus unserem Bekanntenkreis wurden verhaftet und verurteilt. Offizieller Vorwurf: Spionage für den Klassenfeind. Im nachfolgenden Unterricht ist dieses Thema niemals erschöpfend behandelt worden. Man war sichtlich bemüht, Normalität zu simulieren.

      In den Ferien besuchte ich meinen Opa in Roßlau, den Fleischermeister. Selbstverständlich musste ich mich nützlich machen.

      Das Schlachtvieh kam lebend mit Güterwaggons am Bahnhof an. Ohne Transportmöglichkeiten blieb nichts anderes übrig, als jedes Tier einzeln durch die Straßen vom Bahnhof bis zum Schlachthaus zu führen. Autos kamen selten vorbei. Opa führte meistens die Bullen, deren Augen stets verbunden waren, am Nasenring. Die Gesellen übernahmen die äußerst lebhaften Färsen, die Frauen die gemächlich trabenden Milchkühe und ich eines der Schweine. Allerdings kam ich nie weit mit einem Schwein. Es war das Laufen nicht gewöhnt, legte sich nach kurzer Wegstrecke auf die Erde, meistens in den Rinnstein, und streikte. Wache halten war nun meine Aufgabe, bis endlich, nach gefühlt langer

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