Скачать книгу

seine Pflichten vernachlässigen, wahnbetört, derangiert, übernächtigt. Man fand den gerüchteumwobenen, vielfach verketzerten Eindringling entsprechend unsympathisch. Rumi wurde in ihren Augen das Opfer einer einköpfigen Sekte; ein totales Irrlicht wickelte ihn ein, ein Menschenfischer, Seelen- und Rattenfänger, ein Scharlatan! Und ein charakterlich dubioser Freak! Welch Unding: Maulana, bisher ein vorbildlich linientreuer Musulmane, der also auch stets gegen die dualistische Kosmogonie der Mudschusi (Magier) gesprochen hatte, also contra guten und bösen Gott, ging jetzt selber so einem windigen Magier auf den Leim – welch Rückfall aus korrekter Religionsausübung in altiranisches, schier schamanistisches Archaikum! Rumi aber ließ sich von den Düpierten nicht dreinreden. Sie sahen ihn um ein goldenes Kalb tanzen und zerrissen sich das Maul (wie siebenhundert Jahre später über eines Dichterfürsten nicht standesgemäße Liaison mit einem Blumenmädchen). Er nahm das Vorrecht in Anspruch, Gott in jedem schönen Gegenstand verehren zu dürfen. Er berief sich auf Ibn Arabi, der es von Allah weise fand, sich zunächst auch in sinnlichen Phänomena anbeten zu lassen, und sich sogar zur Ansicht verstieg, selbst noch das goldene Kalb sei Gott. Er berief sich auf den (nicht anerkannten) Hadith bzw. das (unechte) Bayazidwort: »Ich sah meinen Herrn im Gesicht eines bartlosen Jünglings in einem grünen Gewand.« Im irregeführten Liebestaumel kreiste er so zwanghaft um Schams (Sonne) wie Madschnun, auf den er verdächtig oft zu sprechen kam, um Laila (Nacht), oder wie Ibn Arabi um die glutäugige Nisam (oder wie siebenhundert Jahre später Jorge Luis Borges um den Zahir). Tausendeinhundert Jahre nach Heraklit befolgte Rumi den Heraklit-Satz: »Tausend geb’ ich für einen, wenn er der Edelste ist«, bzw. nahm er unedle Charakterzüge in Kauf, weil er der Schönste war, in Rumis Augen. Man schlief sogar beieinander. Rumi feierte seine Sonne als Kerkerschlüssel, als Messias der Seele – und der blasierte Schams ließ sich’s gerne gefallen und spielte mit ihm, und testete ihn, und foppte ihn. Rumi griff dann doch wieder zum Schreibrohr, um hervorbrechende Sehnsuchtsverse zu notieren: »Der Himmel blickt neidisch auf Schams’ schmutzigen Fuß« – und Schams fühlte sich verstanden. Ständig streute Rumi sich Asche aufs gebeugte Haupt, leckte Speichel, pinselte hündisch den Bauch seines Idols – um als Letzter der Erste zu sein? Bei aller Gegenseitigkeit und unklaren Frage, wer hierbei wessen Lehrer sei und wer den Schüler spielte: Rumi, ein Kieselstein, der sich dank Sonneneinstrahlung zum Rubin aufschwang, spielte den werbenden, symbiotisch abhängigeren Part, also eher den Schüler, und bot sich als zerschlagbaren Spiegel an – so wie sich ein Feueranbeter für nicht würdig hält, das ewige Feuer durch die eigene irdische Puste anzufachen. Entzog sich sein Lieblingsdämon über Tage hinweg, wetteiferten Entzugserscheinungen mit Phantomschmerzen. Dann wurde der aufgeregt kummervolle und schlaflose Rumi schier ungläubig. Sobald Schams zurückkehrte, wurde Rumi sofort wieder ein Mann der Religion.

      Dann aber ging die Sonne ohne Vorwarnung monatelang unter. Schams reiste überstürzt und grußlos ab, hinterrücks rausgeekelt von Rumis Familie, die sich aber verkalkuliert hatte: Denn statt einen hervorragenden Lehrer zurückzubekommen, der ordnungsgemäß mit Sachverstand zu seinen Aufgaben und Obliegenheiten zurückkehrte, hatten sie nun einen verrückten Dichter zu ertragen, der diesem verrückten »Freund« hinterherweinte – unangemessen heftig. Der Rubin Rumi kam sich ohne seine Quasi-Sonne ruiniert vor. Er baute das Drama der Trennung abendfüllend zum Epos aus, ruminierte sein Leid und erlosch – und steigerte sich hinein in sein Erlöschen. Der unzerschlagene Spiegel erblindete – und steigerte sich in seine Erblindung hinein. Rumi entfärbte sich zurück zum Kieselstein, zur Wassermühle an ausgetrocknetem Flußbett, zur Muschel ohne Perle, zum Fisch, der ohne Wasser im Sand glühte. Er schrieb Briefe hinterher – und erhielt keine Antwort. Boten und Detektive sandte er aus, ließ ihn überall suchen. Wenn er nachts vom Mond träumte, rannte er von Tür zu Tür, ob Schams nicht genauere Botschaft gesandt habe als geträumtes Mondlicht. Derart ausgefüllt fühlte er sich von Schams, zunehmend unabhängig von dessen reeller Ab- oder Anwesenheit, daß er im Gedicht fragte: »Was suchst du in meiner Rocktasche, meinem Turban, meinem Ärmel?« Seine mystische Identifikation mit dem theomorphen Angreifer ging so weit, daß er eigene Verse mit »Schamsuddin« signierte. Eigentlich klafften zwischen Schams’ (überlieferten) Weisheiten und den Worten Rumis Qualitätsunterschiede: Rumi, der deutlich Reichere, Buntere, Tiefere, überbetonte unterwürfig (aus späterer Sicht masochistisch) seinen angeblich geringeren Rang. Rumi machte sich klein vor einem Kleineren. Rumi bot das Bild einer Sonne, die sich zu einem Trabanten erniedrigte. Rumi japste einem eher grobstofflich, vergleichsweise armselig instrumentierten Mondhorn nach und redete diesem dubiosen Möndlein ein, nicht die Sonne, sondern der Mond sei die Sonne. Andererseits wurde Rumis Dichten, Trachten und Leiden erst dann so richtig subtil und sublim, gleichermaßen qualitativ erheblich und quantitativ uferlos, seit sich die Sonne Rumi vom Mond Schamsuddin aufladen und aufpeitschen hatte lassen: 36.000 Doppelverse summierten sich, Hommage an Schamsuddin, Tendenzkunst erster Güte, der Schamsuddin-Diwan, 2200 Druckseiten.

      Jedem Gerücht vom monatelang entbehrten Busenfreund reiste Rumi hinterher, umsonst. Sein just volljähriger Sohn Baha’uddin, der spätere Sultan Walad, trieb Schamsuddin tatsächlich in Damaskus auf und lockte ihn mit zwanzigköpfiger Delegation zurück. Um ihn ab sofort noch enger an sich zu binden, bewies Rumi sich als Familienpolitiker, verheiratete nämlich den glücklich Wiedergefundenen mit einem Pflegekind des Rumi-Clans.

      Bald aber eskalierten familiäre Zwistigkeiten, und der Angebundene und Angeheiratete verschwand erneut, diesmal für immer. Rumi wurde zu Ya’kub (Jaakov), zerriß sein Gewand, trug Trauer um Yusuf (Joseph), trug nie wieder einen weißen, sondern stets nur einen rauchfarbenen Turban. Er schwankte zwischen steigerbarer Hoffnung auf nochmalige Rückkehr und dem sich verdichtenden Verdacht, daß sein zweiter Sohn Ala’uddin, der seinen Vater schuldbewußt umschlich, beteiligt gewesen sein könnte am Verschwinden des besten Busenfreundes. Er redete jahrelang nicht mit Ala’uddin und ging nicht zu dessen Beerdigung.

      Seit der Trauernde und leidvoll Dichtende jeden Vorbeireisenden, der Schamsuddin z. B. in Damaskus gesehen zu haben behauptete, üppig mit Turban, Schuhen und Stücken beschenkte, wurde Schams immer öfter gesichtet. Als man den Berichterstatter Lügner nannte, sagte Rumi: »Ich gab ihm den Turban für seine Lüge. Wenn er mir Wahrheit gebracht hätte, hätt’ ich ihm mein Leben gegeben.« Maßlose Recherchen ließen sich nicht aufhalten durch ebenso ungebändigte Verse, in denen Rumi immer öfter durchschimmern ließ, daß Schamsuddin, gehüllt in eine immer glühendere Staubwolke, ihm vorausgeritten sei ins Haus der Ewigkeit. Rumi habe, hieß es, auf der Schwelle Schams’ Blut gesehen. Andererseits reiste er zweimal nach Damaskus, blieb monatelang dort, in törichten Hoffnungen – umsonst. Zeitweise sah er ihn im Rückblick als Khadir (Chiser/Khidr), jenen mythischen Halbgott, der stets, sobald er seine Botschaft überbracht hatte, zu verschwinden pflegte. Zeitweise faßte Rumi sich an den fiebernden Kopf und wunderte sich: »Da ich er bin, wen such ich hier?« Sich selbst konnte er auch woanders suchen.

      Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Rumi Kira Khatun. Die äußere Erscheinung des lebendigen Schams traf er tief in sich selber wieder, baute sie immer vollgültiger auf, sowie annäherungsweise in Übergangs- und Notlösungen, wie Salahuddin Zarkub, einem genau wie Schamsuddin relativ analphabetischen Goldschmied, mit dem der alternde Maulana sich gezielt von der »Sonne von Täbriz« ablenkte oder die er in ihm zu erblicken versuchte, wie später dann in seinem hocherfreulichen Meisterschüler Husamuddin Schelebi (Tschelebi/Khelebi/Calabi). Rumis Herz schwoll dergestalt und war übervoll, daß er ausrief: »Ich passe nicht mehr in mich!« Bayazid al-Bistami hatte sich hybrid als die Wohlverwahrte Tafel ausgegeben, als die sieben Abdals (Eckpfeiler der Welt), als Ozean etc.; Rumis mystische Expansion griff noch höher und noch mehr in die Breite: Rumi behauptete dichtend, die Scheiche Bayazid, Schibli, Dschunaid, Abu Hanifa, Schafi’i und Hanbal, diese alle seien allesamt er selbst, Rumi, welchselbiger in einem Aufwasch und Atemzug zugleich Wein und Mundschenk umfaßte, und etliche andere Gegensatzpärchen, bis hinauf zu weitestgehendem Tat twam asi: »Die zweiundsiebzig abgespaltenen Sekten, die bin allesamt ich.« (Nebenan, im Abendland, ließ solch mystische Euphorie, rundum alles und jedes zu umfassen und in eigener Person selber zu sein, lang auf sich warten, bis zu Arno Holz, in dessen »Phantasus«.) Desgleichen: Rumi fand Gott in keiner christlichen Kirche, und nicht am Kreuz, und in keiner Hindu-Pagode (Rumi trug sehr gern Burd-i hindi, einen indischen Mantel), keinem Zarathustriertempel, auch nicht auf den höchsten Bergen von Herat und Kandahar, und nicht auf dem Gipfel des Kaf, wo bloß der Anqa-Vogel wohnte,

Скачать книгу