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darf man jedoch nicht den Schluss ziehen, Verdis Fähigkeit, ohne irgendwelche Übersetzungen oder sonstige Hilfsmittel die innersten Saiten des Zuhörers zum Schwingen zu bringen, sei gleichbedeutend mit Oberflächlichkeit oder Trivialität. Hinzu kommt bei ihm nämlich eine große Portion Leidenschaft – manche nennen ihn sogar einen heißblütigen Komponisten –, doch immer wird sie getragen von einem besonderen Adel des Ausdrucks. Das versuche ich beim Dirigieren auszudrücken, und ich werde auf den kommenden Seiten näher darauf eingehen, um zu zeigen, wer Verdi wirklich war und welche Hinweise er selbst zur Aufführung seiner Musik gegeben hat.

      Verdi ist wie eingangs erwähnt der Komponist meines Lebens, und er hat mich seit frühester Kindheit begleitet. Schon mit drei Jahren nahmen meine Eltern mich mit zu einer Aufführung der AIDA im Teatro Petruzzelli in Bari. Auf dem Arm unseres Chauffeurs habe ich die Oper verfolgt, und anscheinend habe ich keinerlei Anzeichen von Müdigkeit gezeigt und die ganze Zeit mucksmäuschenstill gelauscht. Oder sollte ich doch dabei eingeschlafen sein? Ich weiß es nicht mehr.

      Mein Vater jedenfalls, ein Arzt, besaß eine schöne Tenorstimme und pflegte zu Hause gern Opernarien vor sich hin zu singen. Und kaum hatte ich mit dem Klavierunterricht begonnen, nutzte er umgehend die Gelegenheit, endlich jemanden zu haben, der ihn begleiten konnte. So wurden mir Verdis Arien schon in früher Jugend vertraut.

      Genau dieselben Stücke bekam ich auch bei den Patronatsfesten zu hören, denn dort spielten die Blaskapellen des Ortes – die ich noch heute bewundere und stets vor hämischen Angriffen verteidige – am liebsten Fantasien aus Verdi-Opern, ob es nun Duette für Bariton und Tenor, Bariton und Sopran oder Tenor und Sopran waren. Die Sopranpartie wurde vom Kornett, einer Art Trompete, übernommen, der Bariton vom Bombardino, auch als Flügelhorn bekannt – beides Instrumente, die mit ihrem Vibrato der menschlichen Stimme sehr nahe kommen. Insofern konnte ich die bekanntesten Arien Verdis längst nachsingen, obwohl ich noch gar nicht in die Oper ging.

      Meine erste »richtige« Oper habe ich am Teatro Piccinni in Bari erlebt, als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war: OTELLO mit dem Argentinier Carlo Guichandut in der Titelrolle, der zwar kein zweiter Mario del Monaco war, dessen Auftritt aber bei mir nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Denn kaum hatte die Oper mit der großen Sturmszene begonnen (»Una vela! Un vessillo! È la nave del duce …« – »Ein Segel! Eine Flagge! Das Schiff des Dogen …«), flüsterte mein Vater mir zu: »Pass auf, jetzt kommt das Esultate.« Bis heute ist dieses mit großer Emphase herausgeschleuderte Esultate des siegreich zurückkehrenden Otello der Prüfstein für alle Tenöre geblieben. Wer hier patzt, für den ist der Abend gelaufen, und er kann den Fehler kaum wieder gutmachen – aber davon wird später noch die Rede sein.

      Ich habe sofort gespürt, dass Verdi ein Komponist ist, zu dem ich einen ganz direkten Draht habe. Ganz besonders wurde mir dies klar, als ich während des Studiums die Proben meines verehrten Lehrers Antonino Votto an der Mailänder Scala besuchen durfte. An zwei Opern erinnere ich mich genau: FALSTAFF und UN BALLO IN MASCHERA. Votto kannte den FALSTAFF in- und auswendig; er wäre tatsächlich in der Lage gewesen, die gesamte Partitur Note für Note aus dem Gedächtnis niederzuschreiben. Wenn er zu den Proben in die Scala kam, betrat er das Gebäude gewöhnlich von der Via Verdi aus. Ein Pförtner nahm ihm sein graues Mäntelchen ab, und dann verschwand er in den unterirdischen Gängen, die direkt zum Orchestergraben führen. Er hatte nichts dabei, keine Partitur, nichts – denn er dirigierte auswendig! Ich will mich hier nicht darüber auslassen, ob derjenige, der mit Partitur dirigiert, weniger kann als derjenige ohne Partitur. Aber eine Sache ist es, ohne Partitur zu dirigieren, und eine andere, ohne Partitur zu proben. FALSTAFF zu proben ohne die Partitur vor Augen, sie nicht einmal im Künstlerzimmer oder sonst wo im Theater bereitzuhalten, ist wirklich außergewöhnlich. Votto benahm sich nicht anders, als ob er zu einer Verabredung mit Freunden ginge. Eines Tages, ich dürfte 20 oder 22 Jahre alt gewesen sein, fragte ich ihn: »Maestro, wie machen Sie das?« Und er antwortete schlicht und ergreifend: »Wenn du auch mit ihm zusammengearbeitet hättest, würde das Gleiche für dich gelten.« Er – das war niemand anders als der große Toscanini.

      Manchmal denke ich mit Wehmut an diese fantastischen Zeiten …

      Im Jahr 1968 hatte ich mein Debüt als Dirigent beim Festival Maggio Musicale Fiorentino, das seit 1933 jeden Mai und Juni in Florenz stattfindet. Ein Jahr später folgte meine allererste Premiere mit einer abendfüllenden Oper des neunzehnten Jahrhunderts, aufgeführt in einem großen Theater mit einer gewaltigen Bühne: I MASNADIERI (DIE RÄUBER, nach Schillers gleichnamigem Drama). Somit begann also auch meine Dirigentenkarriere schon mit einer Oper von Giuseppe Verdi.

      Mit viel Enthusiasmus, sozusagen im kämpferischen Geiste Giuseppe Garibaldis, habe ich mich seinerzeit auf diese Oper gestürzt. Die Inszenierung, für damalige Gewohnheiten äußerst modern und intelligent, stammte von dem begnadeten deutschen Regisseur Erwin Piscator und hatte bereits einige Jahre zuvor mit dem Dirigenten Gianandrea Gavazzeni Premiere gehabt.

      Was für eine grandiose Zeit! Nichts und niemand störte die Vorbereitungen für die Aufführung. Bei den szenischen Proben war ich stets dabei (wie ich es noch heute zu tun pflege, wenn mich nicht andere Proben davon abhalten), und als der Chor an einer Stelle so stand, dass er mich nicht sehen konnte, kletterte ich einfach auf einen Stuhl, um ihn von dort oben aus zu dirigieren.

      Nach und nach habe ich dann begriffen, dass das Theater seine ganz eigenen Gesetze hat. Aber damals, in den Jahren 1968/69, ritten wir noch auf einer Welle der Nachkriegsbegeisterung. Das ganze Land war von einer fiebrigen Atmosphäre erfüllt, mit Protesten und revolutionären Umtrieben seitens der Jugend, die bald eskalierten und in eine allgemeine Krise geführt haben – mit manch positiven, aber auch vielen negativen Folgen. Florenz gehörte in seiner langen Geschichte schon immer zu den streitlustigsten Städten, man spürte hier geradezu die Spannung in der Luft, die auch vor dem Theater nicht haltmachte. Der Titel von I MASNADIERI kam quasi einer Anklageschrift von Seiten der Bevölkerung gegen die herrschenden Kreise gleich. Schaut man sich die heutige Situation in Italien an, dann erhält dieser Titel überraschend eine ganz neue Aktualität.

      2013 feiern wir die 200. Wiederkehr von Giuseppe Verdis Geburtstag. Wie feiert man diesen Jahrestag am besten? Sicherlich nicht allein, indem man seine Opern wieder und wieder aufführt. Denn Verdi ist längst der meistaufgeführte Komponist der Welt. Viel sinnvoller ist es, die Beschäftigung mit Verdi zu vertiefen, anstatt seine Opern weiter gedankenlos und getreu einer falsch verstandenen Tradition zu verunstalten – nach dem Motto: »So haben wir es schon immer gemacht, und deshalb machen wir es auch in Zukunft so.« Ergreifen wir lieber die Gelegenheit beim Schopfe und beschäftigen uns intensiver und genauer als bisher geschehen mit Verdi.

      Um nicht für arrogant gehalten zu werden, möchte ich gleich klarstellen, dass ich keineswegs für mich in Anspruch nehme, die absolute Wahrheit über Verdi gepachtet zu haben. Freilich, über Bach, Mozart oder Rossini, über Stilfragen oder Instrumente, über diese Themen ist schon immens viel geschrieben worden – doch was weiß man wirklich über Verdi?

      Vor allem werden viele Irrtümer begangen, weil man Verdis eigene Vorgaben missachtet. Außerdem wird allzu oft vergessen, wie lange dieser Komponist gelebt hat. Folglich sind auch seine Werke zu unterschiedlichen Zeiten entstanden: seine erste Oper OBERTO im Jahr 1839, seine letzte Oper FALSTAFF über 50 Jahre später, 1893.

      In den 1840er Jahren, als Verdis frühe Opern uraufgeführt wurden, waren die Orchesterinstrumente vielfach noch völlig anders konstruiert als 50 Jahre später: Die Blechbläser hatten keine Züge, auch die Streicher mit ihren Darmsaiten klangen dünner, es gab noch keinen Orchestergraben, und die Theater blieben während der ganzen Vorstellung hell erleuchtet. Der Klang eines Orchesters, das auf Höhe der Bühne spielte, hat logischerweise wenig Ähnlichkeit mit dem Orchester des OTELLO oder des FALSTAFF, das, Jahrzehnte später, in den Graben verbannt wurde. In den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts spielte noch der junge Arturo Toscanini am Cellopult unter der Leitung des greisen Verdi. Sucht man also nach dem unbestreitbar authentischen Klang von OTELLO oder FALSTAFF, dann muss man sich an Toscaninis Aufnahmen halten, denn sie sind die akustische Erinnerung an die persönlichen Anweisungen Verdis. Auf einem anderen Blatt steht dagegen der Orchesterklang eines OBERTO oder NABUCCO, bei dem selbstverständlich noch der Nachhall des achtzehnten Jahrhunderts zu spüren

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