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ergänzt worden, denn dieses Buch soll explizit Mutis Blick auf »seinen« Verdi widerspiegeln, den er in den Jahren 2011/2012 gewonnen hat. Natürlich hätte man noch vielerlei hinzufügen, sich in tausenden von Details erschöpfen und einige der vielen bekannten und unbekannten Anekdoten zum Besten geben können – aber der Maestro hat anders entschieden. Meine Aufgabe war es dann noch, den roten Faden einzuweben, der sich durch das künstlerische Dasein des Dirigenten zieht.

      Mit Verdi hat sich Riccardo Muti Zeit seines Lebens am meisten und am intensivsten beschäftigt, als beständige Herausforderung und von bleibendem Erfolg gekrönt. Was nicht heißt, dass seine Liebe zu Mozart oder Cherubini oder sein Engagement für die Komponisten der Neapolitanischen Schule außer Acht gelassen werden sollten! Die legendäre Aufführung des DON GIOVANNI 1987 an der Mailänder Scala in der Regie von Giorgio Strehler wird für immer unvergessen bleiben, genauso wie die Konzerte mit den neun Sinfonien Beethovens unauslöschlich in die Annalen jenes Theaters eingegangen sind. Doch Verdi ist sozusagen zu Mutis geistigem Leitstern geworden.

      Er verdankt diesem Komponisten viel, aber man kann es auch umgekehrt formulieren: Verdi hätte in den letzten Jahrzehnten wahrlich Anlass genug gehabt, sich immer wieder bei Muti zu bedanken. Die folgenden Seiten geben eindrucksvoll Aufschluss, welche Fähigkeiten ein Dirigent einsetzen muss, um gewissenhaft den Vorgaben des Komponisten zu folgen und dabei den Unarten der heutigen Aufführungspraxis die Stirn zu bieten.

      Nicht selten hat der Maestro mutwillige Veränderungen oder Ergänzungen von Sängern gekippt und ihnen unangemessene Gesten abgewöhnt – etwa dem Bariton, der sich mit der Hand am Herzen in Richtung Olymp verneigte, oder der Sängerin, die allzu exaltiert auf der Bühne herumturnte. Er hat Verdi seine rechtmäßige Würde wiedergegeben und Unsitten abgeschafft, die sich seit über einem halben Jahrhundert auf der Bühne eingeschlichen haben, ohne dass Verdi sie jemals vorgesehen hätte. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts grassierte beispielsweise die furchtbare Angewohnheit der arie di baule, der »Arien aus dem Koffer«, die von den reisenden Sängerstars ohne Sinn und Verstand in die jeweilige Oper hineingepfropft wurden, nur um den Beifall des Publikums hervorzukitzeln. Und auch im zwanzigsten Jahrhundert wie in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends hat man sich nicht von gewissen theatralischen Auswüchsen befreien können. Muti dagegen ist es ein Anliegen, immer direkt zu Verdi, zum Ursprung des Werkes zurückzukehren und ohne zu zögern all das zu beschneiden, was nicht der Kunst und dem künstlerischen Willen des Komponisten entspricht.

      Ich habe, wie gesagt, enorm viel bei meinen Begegnungen mit dem Maestro gelernt. Mir ist klar geworden, dass ohne ein intensives Partiturstudium, ohne langwierige Proben und ohne die beharrliche Arbeit am Werk in der Musik gar nichts geht. Die Kunst der Muse Euterpe gleicht einem Parcours mit vielen Hindernissen, den man mit harter Disziplin und ohne Zaudern zu absolvieren hat. Die Zeit, die ein Musiker in die Interpretation und Darbietung einer Komposition investiert, wird von der Musik selbst auf verschiedenste Weise belohnt. Ich denke dabei nicht an etwas so Äußerliches wie den Applaus – auch wenn er dazu gehören mag –, sondern an eine Art metaphysische Belohnung. Früher oder später nehmen das auch die Zuhörer wahr, selbst wenn heute der Grad der Ablenkung viel höher ist als noch vor einigen Jahren. Doch wie heißt es so schön: Jede Zeit empfindet das, was sie zu empfinden vermag, und sie versteht so viel, wie sie zum Leben braucht. Oder zum Überleben – was wohl die bessere Formulierung für eine Zeit wie die unsere wäre.

      Beinahe überflüssig zu sagen, dass für die interessanten Entdeckungen, die sich in den nachfolgenden Kapiteln machen lassen, der Dank an Maestro Muti geht, der fraglos der Spiritus rector dieses Buches ist. Sollten Sie dagegen auf den einen oder anderen Fehler stoßen, dann liegt die Schuld ganz sicherlich bei dem, der das Buch – unter Wahrung des ursprünglichen Geistes der Gespräche – herausgegeben hat.

      Mein Dank gilt auch der Redaktion des Verlages Rizzoli, Lydia Salerno und Caterina Soresina Stoppani, den beiden Schutzengeln dieses Unternehmens.

       Armando Torno

      Der Komponist des Lebens

       »Ti serba alla grand’ opra tu la dovrai compir …

       Un nuovo secol d’ ôr rinascer tu farai«

      »Du hast eine große Aufgabe zu erfüllen …

      Ein neues goldenes Zeitalter wirst du erschaffen«

      Rodrigo in DON CARLOS

      3. Akt, 2. Teil, 1. Szene

      Verdi ist der »Komponist des Lebens«, und ganz sicher ist er auch der Komponist meines Lebens. Denn als Komponist verstand er es wie kein anderer, unsere Leidenschaften, unsere Trauer, unsere Vorzüge und Fehler bloßzulegen und anschließend in Musik zu kleiden. Deshalb erkennen wir uns in ihm wieder, und darin besteht auch seine Universalität: Er ist und bleibt aktuell. Jedenfalls solange auch der Mensch so bleibt, wie er ist, und sich nicht in ein Wesen im Stil von STAR TREK verwandelt, mit riesigen Ohren, pilzförmigem Kopf und verkrümmten Gliedern. Solange der Mensch Mensch bleibt, wird jede neue Generation aus Verdis Musik Trost schöpfen.

      Verdi verwirrt oder verunsichert den Zuhörer nicht. Im Gegenteil: Er lässt ihn immer spüren, dass er ihm nahe ist und ihn versteht. Kommt man mit seinen Opern in Berührung, hat man sofort das beruhigende Gefühl, dass hier ein Musiker zu Menschen über Menschen spricht und dabei alle Gefühle aus der eigenen Ich-Perspektive beleuchtet. Je länger ich mich mit diesem Komponisten beschäftige, desto überzeugter bin ich, dass die Personen auf der Bühne nichts anderes widerspiegeln als Verdis eigene Seelenzustände und dass in jeder Oper mindestens eine Figur auftritt, in der sich der Komponist höchstpersönlich erkennen lässt.

      Sein ganzes Leben wurde von einer ständig wiederkehrenden Verbitterung überschattet – nicht ohne Grund spricht man vom sogenannten pessimismo verdiano. Man begegnet dieser Verbitterung immer wieder, auch in seinen Opern, nicht nur im Finale des FALSTAFF mit den berühmten Worten »Tutto nel mondo è burla.« (»Alles auf Erden ist ein Schabernack.«) Das klingt wie ein Scherz, doch Verdi sagt hier der Welt mit einem leicht verkniffenen Lächeln Adieu. Noch stärker manifestiert sich diese Verbitterung in all den trostlosen Gestalten, die fatal an seine eigene Biografie erinnern.

      Da ist der Fiesco in SIMON BOCCANEGRA, ein getreues Abbild Verdis in seiner Trauer, seinem Pessimismus und seiner Tragik. Ein Satz des Dogen gibt diese Empfindungen besonders gut wieder: »Perfin l’ acqua del fonte è amara al labbro / Dell’ uom che regna.« (»Sogar das Brunnenwasser schmeckt bitter auf der Zunge / des Herrschenden.«) Oder denken wir an den Riccardo in UN BALLO IN MASCHERA: Auch er ähnelt Verdi, allerdings mit dem Beigeschmack von Überheblichkeit. Dagegen gleicht die Liebe Rigolettos zu seiner Tochter Gilda eher der väterlichen Liebe, die der Komponist zu seinen beiden früh verstorbenen Kindern gehegt haben mag. Liebe, Eifersucht, Verrat – das sind seine eigenen und die Gefühle seiner Bühnengestalten. Und was ist LA TRAVIATA anderes als die unverhohlene Antwort auf das Spießbürgertum der Bürger von Parma und Busseto, die über die »wilde Ehe« des verwitweten Verdi mit Giuseppina Strepponi die Nase rümpften? Germont, der Vater Alfredos, bedrängt Violetta, auf seinen Sohn zu verzichten – denkt man da nicht sofort an Signor Barezzi, den Vater seiner Ehefrau Margherita, wenngleich die Situation unter dem Brennglas einer Opernhandlung zugespitzt wurde?

      Mögen Verdis Figuren auch autobiografische Züge aufweisen, so sind sie doch mehr, nämlich ganz und gar Prototypen des Menschen an sich. Als bestes Beispiel kommt mir die Desdemona aus OTELLO in den Sinn, denn so verständnisvoll, aufrichtig und berauscht von ihrer Liebe zu Otello, wie sie ist, steht sie für alle liebenden Desdemonas dieser Welt.

      Somit entdeckt jeder Zuhörer, wenn er eine Verdi-Oper auf der Bühne verfolgt, wie dort seine eigenen Gefühle auf künstlerische Art und Weise beleuchtet werden. Das macht Verdi so unvergänglich – und unmittelbar verständlich auch für Chinesen, Australier oder Peruaner. Seine Botschaft kommt aus der Tiefe eines großen Herzens, und nicht zufällig hat der Dichter und Dramatiker Gabriele d’ Annunzio nach Verdis Tod in seiner ELETTRA die berühmten Verse geschrieben: »Diede una voce alle speranze e ai lutti. / Pianse ed amò

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