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Bus fuhr, achteten die Mitfahrer peinlich genau auf den gehörigen Abstand und verzogen geringschätzig ihr Gesicht.

      Seine Kleidung bezog er aus den Kleidercontainern, seine Tätigkeit bestand aus Betteln und Flaschensammeln. Und ab und zu ließ er auch Kleinigkeiten aus den umliegenden Supermärkten mitgehen, sorgsam darauf bedacht, dass er nicht erwischt wurde, was ihm stets gelang. Obwohl er manchmal glaubte, dass er im Klingelpütz, wie die JVA in Ossendorf immer noch bei einigen Betroffenen genannt wurde, besser aufgehoben wäre. Drei Mahlzeiten am Tag, ein warmes Zimmer, Duschen und saubere Kleidung – das waren Dinge, von denen er jetzt allenfalls träumen konnte. Aber wer Freiheiten aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, verdient weder Freiheit noch Sicherheit, dieses Zitat von Benjamin Franklin hatte er in der Schule vierzigmal abschreiben müssen, weil er die Katze des Hausmeisters in eine Blechkiste gesteckt hatte und so war es ihm dauerhaft im Gedächtnis geblieben.

      Und doch, in diesem Winter, der so kalt war und dessen zugige Winde durch seine armselige Kleidung fuhr und seine verbliebenen Zähne klappern ließen, in diesem Winter kam die Wende! Er hatte gerade seinen achtundsechzigsten Geburtstag gefeiert, ohne dass das irgendjemanden interessiert hätte, als das Schicksal beschlossen zu haben schien, ein Einsehen mit ihm zu haben.

      Rastlos und frierend schlurfte er durch sein altes Viertel, vorbei an seiner alten Wohnung, in der jetzt laut Klingelschild eine Familie namens Matruskeit wohnte und landete schließlich vor der Pfarrkirche St. Pantaleon.

      Als Protestant hatte er diese Kirche, eine der schönsten romanischen Kirchen Kölns, noch nie betreten, obwohl sie nur wenige Meter von seiner alten Wohnung gelegen war.

      Aber jetzt schienen ihn der kalte Wind und die dicken Schneeflocken, die sich in der anbrechenden Dunkelheit wie ein Teppich über die Stadt legten, geradezu magisch in die Kirche zu treiben. Zögernd betrat er die Kirche durch einen Seiteneingang und legte den Seesack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, auf den Boden hinter die Tür. Seine Augen brauchten eine Zeit, bis sie sich an die Dunkelheit des großen Kirchenraums gewöhnt hatten und es waren zuerst seine Ohren, die den dezenten Klang einer Orgel wahrnahmen. Hätte er sich mit Musik etwas ausgekannt, hätte er vielleicht gewusst, dass es sich um das Deutsche Requiem von Brahms handelte, aber so empfand er die Musik einfach nur als angenehm. Angenehm auch die Atmosphäre von Ruhe, etwas Wärme und der Geruch von Weihrauch, der von der letzten Messe übrig geblieben war und wie ein feiner Schleier im Kirchenraum hing.

      Er sah sich um. Er war allein in der Kirche, oder jedenfalls fast allein. Ganz vorne, in der ersten Reihe saß ein Mann in einem schwarzen Anzug, einige Reihen dahinter eine Frau in einem dunkelfarbigen Kostüm, daneben ein älterer Mann in einem dunklen Trenchcoat.

      Und er!

      Paul Slezak.

      Da stand er nun, unschlüssig, was zu tun. Er nahm allen Mut zusammen und ging etwas nach vorne, um sich in eine der letzten Reihen zu setzen.

      Und dann erstarrte er. Denn er entdeckte ihn.

      Den Sarg!

      Vor dem Altarraum stand ein Sarg. Ein kostbares Teil aus massiver Eiche, so viel konnte Paul Slezak von hinten sehen, daneben links und rechts je zwei goldene Kandelaber, deren Kerzen ein warmes Licht spendeten und im Luftzug flackerten.

      Eine Totenmesse! Er war in eine Totenmesse geraten, oder so was Ähnliches. Freilich schien der Verstorbene so gut wie keine Freunde oder Bekannte gehabt zu haben, denn außer diesen drei Personen war niemand da, der dem Toten die letzte Ehre erwiesen hätte.

      Die Musik endete wenig später abrupt. Der Mann in dem schwarzen Anzug stand auf, stellte sich vor den Sarg und verneigte sich tief. Dann ging er zurück in die Bank, nicht ohne vorher einen schnellen Blick durch den leeren Kirchraum schweifen zu lassen.

      Auch die Dame im Kostüm und der Mann in Trenchcoat erhoben sich und taten es dem Mann gleich. Nach einer langen Verbeugung gingen sie zurück durch die Reihen, warfen einen kurzen, anscheinend missbilligenden Blick auf den Penner, der sich da erdreistete, an diesem merkwürdigem Requiem teilzunehmen und verließen die Kirche.

      Paul Slezak hätte später nicht sagen können, was ihn so plötzlich getrieben hatte, aber er stand auf, ging die wenigen Meter und stellte sich vor den Sarg. Jetzt erst bemerkte er, dass der Sarg offen war. Ein Mann lag darin, offenbar schon sehr alt, denn schüttere, weiße Haare und ein ebenso weißer Vollbart umrahmten ein schmales Gesicht mit geschlossenen Augen. Das Gesicht war fast maskenhaft geschminkt, die fleckigen Hände waren auf dem Leib gefaltet. Und der Tote trug einen Anzug. Einen dunkelblauen Anzug aus feinstem Stoff, in der Reverstasche steckte ein silbernes Einstecktuch. Der Tote strahlte auch jetzt noch Würde aus, Würde und Autorität.

      Slezak verneigte sich, murmelte etwas, weil die anderen das auch getan hatten und ging zurück in die Bank. Er wollte die Kirche noch nicht verlassen. Jetzt noch nicht, denn draußen wartete eine erbarmungslose Kälte und hier drin war es – fast schon gemütlich.

      Nach einer Weile stand der Mann im schwarzen Anzug auf und näherte sich Slezak mit langsamen Schritten. Er war groß und von schlanker, aber stattlicher Gestalt. Schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, das Gesicht bartlos mit einem energischen Kinn, insgesamt eine imposante Erscheinung, die den Obdachlosen erschauern ließ. So sahen die Rechtsanwälte oder Präsidenten in den amerikanischen Filmen aus, die Michael Douglas so meisterhaft verkörperte. Oder Harrison Ford. Oder Kevin Spacey. Er kannte sie alle, hatte ja genug Filme gesehen. Und so einer stand jetzt vor ihm.

       Aber was zum Teufel will der von mir?

      Der Mann blieb vor ihm stehen und musterte ihn kurz. Dann holte er aus seiner Tasche eine weiße Visitenkarte aus feinster Bütte und überreichte sie Slezak.

      „Ich bin Dr. Winter“, sagte er mit einer sonoren Stimme leise, „Rechtsanwalt und Notar des Verstorbenen. Ich würde mich freuen, Sie morgen gegen 12.00 Uhr in meinen Praxisräumen begrüßen zu dürfen.“

      Der Anwalt muss das ungläubige Staunen in Slezaks Augen bemerkt haben, denn er fügte eilig dazu: „Sie … äh … Sie sollten wirklich kommen, mein Herr. Es dürfte sich für Sie … lohnen! Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“ Slezak brauchte eine Zeit, bevor er sich gefasst hatte und „Slezak, Paul Slezak“, stammeln konnte.

      Der Anwalt nickte ihm freundlich zu und verließ die Kirche.

      Slezak blieb wie vom Donner gerührt einige Minuten sitzen.

       Waaaaas …?

      Inzwischen war ein Priester aus der Sakristei in den Altarraum getreten. Er wedelte mit einem Metallding über den Sarg, murmelte offenbar ein Gebet, segnete den Sarg und seinen leblosen Inhalt und verschwand wieder so dezent, wie er gekommen war. All das betrachtete Slezak, dem katholische Riten so unbekannt waren wie das Paarungsverhalten der Erdmännchen, mit großem Erstaunen.

      Und wieder öffnete sich die Tür, in der der Priester verschwunden war.

      Mehrere Männer traten in den Altarraum. Sie schlossen den Sarg und brachten ihn nach hinten.

      Slezak brauchte noch einige Minuten, bevor er mit langsamen Schritten zum Ausgang ging. Er packte seinen Seesack und sah draußen einen Bestattungswagen vor der Tür stehen.

       Institut Römer – Bestattungen, Aufbahrungen, Seebestattungen Ihr lieber Verstorbener in besten Händen

      Zögernd trat er an den Wagen heran und fragte den Gehilfen, der rauchend neben dem Wagen stand: „Eine Frage, der Herr. Wohin … ich meine, wohin bringen Sie den Verstorbenen jetzt hin?“

      Der kahlköpfige Gehilfe in einem verschlissenen schwarzen Anzug musterte den Fremden kurz und grinste dann: „Zum Südfriedhof, in die Kühlkammer. Da ist es noch kälter als hier.“ Er lachte kurz rau auf und schnippte die Zigarette weg.

      Nachdenklich verließ Slezak das Kirchengelände.

      Es war dunkel und spät geworden. Slezak würgte das letzte trockene Brötchen herunter, das sich noch in seinem Seesack befunden hatte und trottete durch das dichter werdende Schneetreiben zu seiner Schlafstelle am Sachsenring. Aber seine Bank war besetzt und es

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