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ich fast oben war, überwältigte mich ein Gefühl, das ich noch nie gehabt hatte, und zwar so, dass ich beinahe die Kletterstange losgelassen hätte. Ein Verlangen danach bildete sich aber erst später aus. Einige weitere, halb unschuldige Begebenheiten verschweige ich lieber, sie könnten Anstoß erregen.

      N.: Es könnte Anstoß erregen, es hat Anstoß erregt!

      E.: Du alter Heuchler, warte nur, bis herauskommt, was du gemacht hast!

      Moralische und unmoralische Neugier.

      Die Neugier, die die Moralisten nicht zu den Leidenschaften zählen wollen, ist eine schöne Eigenschaft des Geistes, wenn sie sich lobenswerterweise mit der Natur beschäftigt; nihil dulcius quam omnia scire, nichts ist so süß, wie alles zu wissen. Dabei gehört die Neugier zum Bereich der Sinne, denn sie kann nur den Wahrnehmungen und Eindrücken entspringen. Aber sie ist ein Laster, wenn man in die Angelegenheiten anderer eindringen will, ob sich nun der Neugierige direkt oder indirekt Kenntnis darüber verschaffen möchte oder ob er einen Menschen ausfragt, um einem anderen mit dem Erfahrenen nützlich zu sein, vielleicht auch, um es zum eigenen Nutzen auszuwerten; Neugier ist immer verwerflich oder krankhaft, weil der Geist eines von Natur aus Neugierigen stets unruhig ist. Ein erschlichenes Geheimnis gleicht einem Diebstahl. Ich meine nicht jene Art von Neugier, die mit Hilfe der abstrakten Wissenschaften die Zukunft oder Dinge, die nicht in der Natur liegen, zu enthüllen bestrebt ist. Giacomo Casanova.

      N.: Na, da hast du deine unmoralische Neugier.

      E.: Das muss gerade der sagen.

      Diese Ereignisse in meiner frühen Jugend führten keineswegs zu erotischen Gefühlen oder Handlungen, man war noch immun. In der Erinnerung werden sie dann aus der Gefühlswelt eines Erfahrenen heraus dargestellt, der die Dinge durchschaut.

      N.: Du Unschuldiger.

      E.: Inzwischen war ich in das Jungvolk gekommen, wie viele meiner Mitgenossen völlig ahnungslos, was dies bedeutete. Eine Uniform, braunes Hemd, ein schwarzes Tuch, das durch einen geflochtenen Lederknoten gezogen, getragen wurde, schwarze Hose aus festem Stoff. Im Winter darüber eine dicke Jacke im Uniformstil.

      Im sogenannten Heim wurde gesungen, es wurde marschiert und es wurden Geländespiele durchgeführt, in denen die Roten und die Grünen (nicht wie heute die Blauen) sich bekriegten. Wenn man einen Gegner abklatschte, war er aus dem Spiel. Es machte natürlich Spaß, sich im Gelände zu verstecken, alles in der heimischen Umgebung, besonders die Wälder waren mir vertraut. D. und ich hatten sie jahrelang durchstreift. Im Heim wurden auch Geschichten erzählt und die waren auf mich gemünzt, das heißt, auf meinen Großvater.

      K., der Geselle meines Großvaters, hatte auch die Aufgabe, in unseren vier Gärten Äpfel zu pflücken, als ich älter war, musste ich ihm helfen. Es gab nur Holzleitern, handgemacht und, wenn sie lang waren, schmal. Er stieg geschickt auf die Äste und füllte einen Sack, der mit einem Seil an zwei Zipfeln befestigt ihm über der Schulter hing. Eine Sorte war recht grün und schmeckte etwas sauer, die wurden zu einer Kelterei gebracht, die Apfelsaft daraus herstellte, der im Café angeboten wurde. Die anderen, Gravensteiner, Rauhäpfel, Boskop und Goldparmäne, wurden in großen Regalen im Keller, einem kunstvoll in Sandstein gehauenen Gewölbe, aufbewahrt. Meist war ich derjenige, der abends mit einer Kerze, Taschenlampen waren etwas Besonderes, dort hingehen musste, um sie meiner Großmutter zu bringen, die sie schälte und als Leckerbissen (er war es auch) servierte. Tagsüber stand es mir frei, so viel davon zu essen, wie ich wollte.

      Ich muss meinen Bericht unterbrechen.

      Erinnerung an Anka. Mir kommen Tränen.

      N.: Was soll das denn?

      E.: Wenn du jetzt dazu deinen Kommentar gibst, schlage ich dich windelweich, meine Gefühle gehen dich nichts an.

      Nach langem Zögern will ich nun von Neuem beginnen. In der Zwischenzeit hatten andere Gedanken mein Denken gelähmt, es war nicht möglich zu schreiben. Es musste erst eine Zeit vergehen, aber auch jetzt kann ich meine Tränen nicht zurückhalten, wenn ich daran denke, dass, wenn ich hinuntergehe, mich kein aufmerksamer Blick mehr empfängt, dass das Köpfchen nicht erwartungsvoll gehoben wird und ich nicht mehr darauf antworten kann, indem ich es in die Hände nehme und streichele. Für mich bleibt das Vergangene körperlich gegenwärtig, sie sind noch alle da, eine meiner Fähigkeiten, mit den Dingen fertig zu werden. Sie sitzt neben mir, wartet auf H., wenn sie mit mir oben ist, ungeduldig, wieder nach unten zu können, an einer Bewegung merkt sie, jetzt ist es so weit und sie stürzt die Treppe hinunter zur Haustür, mit übermütigen Sprüngen, die Bewegung ihres ganzen Körpers zeigt die Freude, springt in den Garten zur Begrüßung. Es ist auch jetzt keine Schwierigkeit für mich, sie in die Arme zu nehmen, ihr Fell, ihre Muskeln zu spüren, wie sie sich wild losmachen will und mich dabei leicht in die Nase beißt. Wir haben sie beide unermesslich lieb, sie ist so schön, die Geschichte, Schweinchen Dick, ich sehe dich auf dem Brett, damit ihr nicht über die gefährliche Straße müsst, deine Mutter Lilly und du, auf der schiefen Ebene zu unserem Eingang mit einer Intensität heraufspringen, direkt in mein Herz, Lilly, ihre Mutter, hatte uns zuerst entdeckt, als wir wieder im Haus waren, du sechs Wochen alt, gucktest neugierig, wohin sie lief, mit gebogenem Rücken, die Hinterbeine zwischen den vorderen. Eine Liebe auf den ersten Blick. Jetzt hatte ich Angst, denn ohne dich konnte ich mir die herbe, liebliche Landschaft nicht vorstellen. Wir haben lange gezögert, es endlich gewagt, mit wie viel heimlich unterdrückten Tränen, die Rückbank der Mooney leer, kein Schnüffeln beim Landeanflug auf Ajaccio, kein freudiger Trott auf dem Flugplatz, alle vermissten dich, bis ich meinen Schmerz überwand, du bist noch immer dabei, dein Halsband in der Flugtasche. Dass du uns siebzehn Jahre lang Glück gebracht hattest, merkten wir auf dem Rückflug, das ist eine andere Geschichte.

      N.: Ich bitte dich um Entschuldigung! Ich weiß um deine tiefe Liebe zu Tieren, zu deinen Hunden, du möchtest selbst einer Fliege nichts tun.

      Du isst kein Fleisch. Tiere töten ist für dich Mord. Du verachtest die »Kadaverfresser« und bist machtlos gegenüber den übrigen 98 %.

      E.: Meine Mutter hatte ein Faible, mich unkonventionell einzukleiden, ich trug bis über die Waden reichende braune Schnürstiefel, wie sie die Engländer bevorzugten. Außerdem wurden mir Knickerbocker und Weste mit vorn spitzen Enden aus lila Stoff mit Streifen geschneidert. Ich hatte auch so etwas, was man heute eine Gang nennt, eine treue Gefolgschaft, die mit anderen im Streit lag, harmlos damals, was mir so auffällt, wir lieferten uns Kämpfe, ohne dass wir uns körperlich nahe kamen, immer auf Distanz, so, wenn wir uns auf dem Holzboden, eine Etage hoch an der Hofseite, verschanzt hatten und die anderen uns zu erobern suchten. Wir wehrten sie ab, indem wir die gespaltenen Holzstücke, die dort lagen, als Wurfgeschosse benutzten, aber nie auf »den Mann » zielten, sondern vor die Füße, wir hingegen wurden von unten beworfen, hatten uns aber hinter den zu einer Mauer aufgestapelten Scheiten gut geschützt. Wegen der hohen Schnürstiefel die ich trug, wurde ich beneidet und »der lange Engländer« genannt. Während mir ein Klassenunterschied nicht bewusst war, bestand er wohl bei anderen, das merkte ich spätestens, als ich mit zehn Jahren im Jungvolk aufgenommen war. Um mich zu provozieren, erzählten sie Geschichten, Thema Erdbeerklauen in Hummens Garten. Sie waren köstlich, die sonnenwarmen Beeren, die man nach Anheben der Blätter entdeckte, heute ist mir verständlich, dass sie sie begehrten. Meine Großmutter hatte sie gepflegt, wie auch die Stachelbeeren; die Moosröschen in ihrer herben Schlichtheit hatte sie besonders gern, wie auch den Flieder, weiß und blau, den ich zum Sonntag schneiden musste. Humme war der Spitzname der Familie meiner Mutter, Mutzenkrause der meines Vaters und dann meiner, sie machten Anspielungen auf meines Vaters und seines Bruders Vergangenheit, die eine Fabrik besessen hatten, ihre Väter hatten dort gearbeitet. Als Gemeinstes ließen sie mich gegen einen wesentlich Stärkeren boxen, der mir entsprechend zusetzte, dass mir vor Wut die Tränen liefen, ich aber dann übermäßige Kräfte entwickelte und ihm die Nase blutig schlug. Trotz der »Schulung« in der sogenannten Hitlerjugend ist mir die Ideologie nie bewusst geworden, ich habe sie nicht verstanden. Mein Großvater unterhielt sich hinter verschlossener Tür in der Backstube am Abend öfters mit dem »Uhrenpuster«, einem kleinen listigen Männchen mit randloser Halbbrille, ich hörte nur einmal, was mir in Erinnerung geblieben ist, die Wendung »Kommunismus im Zylinder«, was auf Hitlers Regime gemünzt war. Sonst war Politik kein Thema in der Familie.

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