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      Sicherlich hatten Nirbach und er etlichen Leuten auf den Schlips getreten. Aber das waren Spießer gewesen. Hosenscheißer, die versucht hatten, gerichtlich gegen sie vorzugehen. Keiner von denen hatte den Mumm eines Killers. Der Junge dagegen, dem Nirbach die Nase blutig geschlagen hatte, hatte ihn an sich selbst erinnert. Extrem jähzornig und zu stolz, um die Tracht Prügel einfach so hinzunehmen. Dieser halben Portion war mehr Mumm zuzutrauen als den verspießerten Geschäftsleuten oder Kunden, die ebenfalls einen Pick auf Nirbach hatten.

      Der Hotelbau war nicht verschlossen. Breitbachs Mitarbeiter hatte ihn auf das Restaurant hingewiesen. Dort war der Putz angeblich unter aller Sau gemacht worden. Klötsch wusste, dass seine Mitarbeiter normalerweise ordentlich arbeiteten. Er wollte sich das ansehen, und wenn da wirklich gepfuscht worden war, würden ein paar Köpfe rollen. Gute Bauarbeiter konnte er an jeder Straßenecke finden.

      Aufgrund der Leere wirkte der Gang wie ein Krankenhausflur, davon abgesehen, dass hier noch alles Dekorative fehlte. Es gab keine Bilder, keine Lampen, keine Vasen. Nur kalter, steriler, weißer Putz.

      In dem Raum, der als Restaurant dienen würde, tuckerte ein leiser Motor. Klötsch drückte die Klinke des großen Raums. Die Tür ließ sich nicht einfach ziehen. Irgendetwas klemmte und nur Stück für Stück gab sie nach. Auf der Fensterbank, genau der Tür gegenüber, war eine merkwürdige Apparatur aufgebaut. Größer als ein Bohrer oder ein Akkuschrauber. Ein Schlauch lief zu einem Druckluft- Kompressor, den er von draußen gehört hatte. Dann sah er den Faden, der von der Tür zu der Apparatur entlang der Decke gespannt war. Eine Nagelmaschine, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das Denken hatte zu viel Zeit für eine Reaktion zum Ausweichen gekostet. Ein leises, zischendes Plopp – und etwas bohrte sich sehr schmerzhaft in seine rechte Schulter. Er wurde zurückgeschleudert, taumelte und brauchte einige Sekunden, um zu kapieren. Er tastete nach der Wunde. Der Nagel war ganz in die Schulter eingedrungen. Klötsch erkannte sein enormes Glück, denn nur wenige Zentimeter trennten den Nagel von Hals, Lunge oder dem Herz. Die Wunde war klein und es floss nur wenig Blut. Mehr vom Schock als durch die Verletzung taumelnd schaffte er es nach unten, wo er einen Arbeiter anschrie, sofort einen Notarzt zu rufen.

      Ralf und Jessica

      Ralf hatte nur wenige Stunden geschlafen. Das Stroh piekte und er grübelte. Obwohl dicht aneinandergeschmiegt und trotz der warmen Schlafsäcke, hatten er und Jessica ein wenig gefroren.

      Er wiegte die Glock in seiner Hand. Damit konnten sie sich Geld beschaffen. Dann nichts wie ab. Vielleicht nach Holland, oder sogar nach Spanien. Ein Freund aus dem Heim hatte ihm von Amsterdam erzählt und die Stadt als einen Ort beschrieben, an dem viele junge Ausreißer recht einfach unterkamen. Aber südliche Sonne, Strand und Meer wären noch tausendmal besser.

      Im Heim hatte es ein paar Typen gegeben, die bewaffnete Raubüberfälle begangen hatten. Diese Typen hatten ihm früher imponiert. Doch Ralf erkannte, dass er sich in der letzten Zeit von seiner Vergangenheit immer mehr löste. Die Zeit bei den Dederichs hatte etwas in seinem Denken bewirkt. Er hatte ein Gefühl für etwas wie einen gradlinigen Weg entwickeln können. All die Monate bei der Pflegefamilie war ihm dieses neue Denken gar nicht richtig bewusst geworden, doch er hatte sich mit sich selbst viel mehr vertraut gefühlt. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gespürt, dass er kein schlechter Kerl war. Sogar die Schule hatte ihm mehr und mehr Spaß gemacht. Er hatte einiges schnell aufarbeiten können und sogar ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein in einem Bereich entwickeln können, über den er sich vorher höchstens lustig gemacht hätte. Es war ein tolles Gefühl gewesen, zu entdecken, nicht dumm zu sein. Er hatte die erstaunliche Tatsache kennengelernt, von Lehrern beachtet und nicht missachtet zu werden. Es war in etwa so gewesen, wie Frieden nach einem langen, unnötigen Krieg zu schließen. Und es war sogar relativ einfach gewesen. Hatte er in den Jahren davor Aufmerksamkeit durch Stören, Aggression und Desinteresse erzielt, so hatte er diese in den letzten Monaten durch Mitarbeit, Ruhe und Interesse erhalten. Er war zu einem vernünftigen Jungen herangereift. Einen gradlinigen Weg zu gehen lohnte sich wirklich. Das hatte er von den Dederichs lernen können. Vor allem wegen Jessica, die dieses Gefühl verstärkte. Dieses starke Gefühl von Sicherheit.

      Aber nun hatte seine Vergangenheit ihn eingeholt. Er würde sich wieder so verhalten, wie er es früher gelernt hatte. In einer Notwehrsituation bis aufs Ganze gehen. Hart sein, rücksichtslos. Er sah keinen anderen Weg. Jessica und er brauchten jetzt schnell Geld und das war nur auf die altbekannte Art zu beschaffen. Eine Bedrohung war aufgetaucht, an der er keine Schuld trug, so wie er für die Dinge in seinen jungen Jahren keine Schuld trug, und er konnte noch nicht mal den Dederichs vertrauen.

      Okay, er und seine Kumpel hatten die Hochstände verwüstet. Purer Übermut war das gewesen. Warum sie das getan hatten, wussten sie alle drei selbst nicht genau. Manchmal war da einfach nur Scheiße im Kopf. Markus und Oli waren im Grunde normale Kids, aber die beiden hatten die Initiative für diesen Unsinn ergriffen. Auch sie konnten ganz schön durchtriebene Jungs sein, deren Unfug bisher aber zu nichts Drastischem geführt hatte.

      Hätte Ralf ausschließlich brave Jungs in Loch und Umgebung kennengelernt, wäre er vor Einsamkeit eingegangen. Markus und Oli waren genau richtig gewesen. Nicht so hart wie die Heimkids, aber auch nicht brav angepasst wie die meisten Langweiler aus der Umgebung. Die Verwüstung der Hochstände hätte ihn seine Bewährung kosten können – das war ihm natürlich klar. Insofern war es besser, die Tracht Prügel erhalten zu haben. Als Nirbach und Klötsch auf ihn losgingen, hatte dies tatsächlich Mordlüste in ihm geweckt, aber er hatte den Mann nicht getötet, und war entschlossen, es gar nicht erst darauf ankommen zu lassen, dass ihm niemand glaubte.

      Pflegeeltern und Lehrern hatte er gelernt, bis zu einem gewissen Grad zu vertrauen. Polizei und Justiz jedoch würden aber wahrscheinlich nie zu Institutionen zählen, denen er trauen mochte.

      Er brauchte einen Grundstock für den Start in ein neues Leben zusammen mit Jessica. Im Ausland würden sie sich eine Arbeit suchen, eine gemeinsame Wohnung und sich Stück für Stück etwas aufbauen. Er musste einen Plan entwickeln und zwar schleunigst. In dieser Scheune wollte er auf keinen Fall eine weitere Nacht verbringen. Sie mussten so schnell wie möglich weg aus der Eifel und aus Deutschland.

      Jessica räkelte sich. Sie vertraute ihm und Ralf fühlte sich in der Beschützerrolle stark wie nie zuvor in seinem Leben. Er würde ihr eine ganz neue Zukunft bieten. Egal zu welchem Preis.

      Sie breitete die Arme aus und lächelte ihn an. Sofort ließ er die Grübelei sein und nahm sie in die Arme. Die Wärme war wieder da. Jessica und er waren eine Einheit. Er wusste, sie würde alles für ihn tun und er für sie. Nie wieder würde ihr Vater eine Hand an sie legen und nie wieder würde Ralf in ein Heim oder den Knast gehen. Er war stark genug, sie beide aus dieser verflixten Erwachsenenwelt zu befreien.

      Ein Geräusch riss die beiden aus ihrer Umarmung. Die alte Scheune war undicht und gab an einigen Stellen den Blick nach draußen frei. Ralf griff sofort nach der Glock, als er den Streifenwagen den Feldweg herauffahren sah. Jessica klammerte sich ängstlich an ihn. Er überlegte, sich hinter dem Scheunentor zu platzieren, um die Bullen zu überraschen. Aber der Polizeiwagen war noch weit genug entfernt, so dass eine Flucht mit dem Roller gelingen musste.

      »Wir müssen zum Roller, aber nicht durch das Tor!«, zischte er aufgeregt und wies auf die Strohballen, die sich bis zur Scheunendecke hin stapelten. »Wir springen hinten raus. Schnapp deine Sachen.«

      Jessica folgte seinen Anweisungen und wollte sich daranmachen, ihren Schlafsack aufzurollen. »Nein, dafür ist keine Zeit! Die Schlafsäcke lassen wir hier, mach schnell.«

      Ralf steckte die Glock in die Jackentasche, aber die Walther konnte er nicht finden. Dann sah er die zweite Pistole. Sie war zwischen zwei Strohballen nach unten gerutscht. Ein Blick nach draußen ließ ihn zu der Entscheidung kommen, auf die zweite Waffe zu verzichten.

      Jessica war schon an dem Fenster oberhalb der seitlich gelagerten Strohballen angekommen. Sie mussten etwa zweieinhalb Meter tief springen.

      »Lass mich zuerst«, hielt Ralf sie zurück.

      »Wieso?«

      Jessica war schon unten, bevor Ralf antworten konnte. Er warf die hastig gepackte

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