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nicht im Krankenhaus«, sagt die Beamtin mit schwerer Stimme. »Jemand hat ihn beim Rückwärtsfahren irgendwie, wohl aus Versehen, mit dem Bagger angefahren. Oder eher überfahren. Vor Schreck hat die Mitarbeiterin ihn sogar …« Sie stockt und wirft dem Kollegen einen Blick zu, der vermutlich bedeuten soll, dass er wieder an der Reihe ist.

      Der Beamte seufzt. »Nun, die Mitarbeiterin hat ihn, nachdem sie fast über ihn hinweg war und er bereits am Boden lag, mit der Baggerschaufel am Kopf erwischt. Das war großes Pech.« Er macht eine Pause und beäugt Regine kritisch, anscheinend um abzuschätzen, ob sie noch mehr vertragen kann.

      Sie nickt ihm zu. Er soll fortfahren, verdammt noch mal, sie hat nicht den ganzen Tag Zeit!

      »Eine ziemlich verrückte Geschichte«, fasst ihr Gegenüber die Geschehnisse zusammen. Ihm ist vermutlich bewusst, dass es nichts bringt, ewig um den heißen Brei herumzureden. So hart es ist, die Ehefrau muss die Wahrheit erfahren – so lernt man das sicher in der Polizeischule, mutmaßt Regine. Und ja, jetzt geht er endlich in die Vollen: »Der Rettungswagen traf in kürzester Zeit vor Ort ein. Aber man konnte nichts mehr für Herrn Baumgarten, also für Ihren Mann, tun. Er ist noch vor Ort …« Jetzt schluckt der Beamte auch.

      Regine kommt ihm zur Hilfe: »… verstorben?«

      Ihr Herz macht einen Riesensprung, während sie das sagt. Äußerlich bleibt sie angemessen freudlos.

      »Ja, es tut uns leid, Ihnen so eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen.«

      Schade, sagt sich Regine. Offenbar nimmt dieses Ereignis die beiden ziemlich mit. Das trübt ein wenig ihre gute Stimmung.

      Was nun auf Regine als Witwe zukommt, ist – das versteht sich von selbst – nicht angenehm. Sie muss Magnus über die neuen familiären Gegebenheiten informieren, nach der LAN-Party logischerweise, die zu dieser Zeit noch in vollem Gange ist. Es wird ein gewaltiger Einschnitt werden für einen Jungen, der seinen Vater so gut wie nie zu Gesicht bekam, einen Vater, der ihm fast alles, was Spaß macht, verbat.

      Eine harte Zeit steht ihnen beiden bevor. Sie bleiben allein mit dem Haus, mit all dem Ersparten und dem Geld aus der Lebensversicherung zurück. Jeder würde Rücksicht nehmen und womöglich auch verstehen, dass sich eine Familie nach einem solchen Schicksalsschlag Ruhe und Abstand gönnen muss.

      Wobei sie natürlich trotz all der Trauer nicht vergessen sollten, gleich Montag den Vertrag bei der Musikschule zu kündigen, überlegt Regine, während sie ihren Ehering vom Finger zieht und auf dem Kaminsims ablegt. Die Klavierstunden sind in dieser veränderten Situation schließlich sinnlos verschwendetes Geld.

      Es wäre vermutlich wichtig, sich abzulenken in der kommenden Zeit, sagt sich Regine und sieht sich in der Wohnung um. Sie muss aufpassen, in kein dunkles Loch zu fallen, so wie viele, die in Trauer sind.

      Ihre Therapeutin sei sicher auch der Meinung, sie brauche eine Art Ventil, um auf andere Gedanken zu kommen und die Alltagsprobleme zu vergessen. »Wandel ist gut. Trauen Sie sich, Frau Baumgarten! Wagen Sie sich an neue Dinge heran.« Daran appelliert Tietze-Meiermann genau genommen bei fast jeder Gelegenheit, und eine Psychologin wird es doch wohl am besten wissen. Gerade weil es Sebastians Idee gewesen ist, dass Regine wegen ihres aufbrausenden Gemüts eine Therapie beginnen sollte.

      Also, schlussfolgert sie und geht die Treppe hinauf in Richtung Büro, warum soll sie nicht sofort mit dem neuen Leben beginnen? Magnus ist beschäftigt und die nächsten Tage werden ohnehin schwer genug.

      Sie setzt sich an Sebastians Schreibtisch und schaltet den Computer ein. Die Datingseite, auf der sie sich die letzten Wochen häufiger aufgehalten hat, ist auf dem Rechner unter »Favoriten« gespeichert. Praktisch, sagt sich Regine.

      Sie tippt ihren Nickname ein. Coconut28.

      Am Wochenende ist in dem Chatportal enorm viel los, und es dauert keine fünf Sekunden, bis sich die erste Abwechslung bietet.

      »Auch alleine?«, fragt MisterLoverLover.

      Regine schreibt: »Mutterseelenalleine und entsetzlich einsam!«

      Als frische Witwe, findet Regine, ist die Behauptung doch kein bisschen übertrieben. Sie befindet sich in einem beklagenswerten Zustand, und vielleicht kann dieser Loverlover ihr echten Trost bieten. Er könnte jemand werden, der ihr über diese schwere Zeit hinweghilft. Mag sein, dass sie mit ihm, zur Erinnerung an ihren Sebastian, ein paar von dessen ungewöhnlichen Ideen in die Tat umsetzt. Ganz klar würde es sie Überwindung kosten, doch wer, wenn nicht Regine, hatte gelernt, offen und tolerant zu sein.

      Wir haben es uns nicht ausgesucht

      Manche ergänzen sich perfekt, so wie Tim und Struppi oder Flipper und sein Freund Sandy, andere wiederum stoßen sich ab wie die Pole zweier Magneten. Sie sind so harmonisch wie Feuer und Wasser oder – um es noch eindrücklicher zu beschreiben – wie die Kombination von Fleischkäse und Tofuwurst. Da passt rein gar nichts, und es liegen ganze Welten, wenn nicht sogar Sonnensysteme, dazwischen. Genau diese Rahmenbedingungen treffen auf Wolfgang und mich zu. Ich kann den Kerl nicht ausstehen, und ihm geht es allem Anschein nach mit mir kein bisschen anders.

      Ungeachtet dessen haben mich Siggi und Hanne dieser Situation ausgeliefert, aus reinem Egoismus. Während sie die Sechstageradtour auf dem Saar-Radweg antreten, ihr Aufbruch ist noch keine drei Stunden her, soll ich die Zeit bei Gabriele in ihrem Haus in Besseringen verbringen. Ein pures Lockangebot, einzig um mich gefügig zu machen, und ich bin eiskalt auf die Nummer hereingefallen. So wie die armen Omas beim Enkeltrick.

      Ein paar Tage bei Gabriele, das klang in meinen Ohren wie ein Wellnessurlaub. Hannes beste Freundin liebt mich abgöttisch, und genau wie ich pflegt sie mit Hingabe ihre romantische Ader. Immer nennt sie mich »Güntherlein« und überdies schaut sie nicht nur für ihr Leben gerne Liebesfilme, sie liest auch unglaublich viel. Allesamt Romanzen. Während ich also an diesem ersten Morgen der Fremdunterbringung zu ihren Füßen liege und von der südenglischen Küste träume, lausche ich Gabrieles zarter Stimme und meine Nase verrät mir, der Tag wird noch besser. Schließlich köchelt der Schmorbraten seelenruhig in der Küche. Gabriele ist kulinarisch eine Virtuosin, was man von Herrchen und Frauchen leider nicht behaupten kann. Nur deshalb gönne ich Siggi und Hanne die Woche Urlaub von Herzen. Sollen sie sich ruhig in ihren freien Tagen abstrampeln, ich habe hier mein ganz eigenes kleines Paradies.

      Zumindest hat es zu Beginn diesen Anschein. Viel zu schnell muss ich erkennen, dass es sich lediglich um halbherzige Zusicherungen gehandelt hat, die der Realität schon am ersten Tag nicht standhalten. Gerade eben haben Siggi und Hanne den Drahtesel bestiegen und sind damit für mich unerreichbar, da klingelt bei Gabriele das Telefon.

      »Och ne, oder? Das ist die Nummer vom Gartenbistro, da muss ich leider ran«, höre ich neben mir. Meine Vorleserin klappt »Mitten hinein in den Sturm der echten Liebe« zu und legt das Buch zurück auf den Wohnzimmertisch. Verstört schaue ich auf: Was ist denn das? Genau jetzt, wo es spannend wird. Ich will unbedingt wissen, ob der französische Winzersohn Didier der bezaubernden, aber etwas naiven Gutsbesitzerin Rose trotz Verlobung mit einer gutdotierten Bauunternehmertochter einen Antrag macht. Oder ob er sich von den gemeinen Intrigen seiner Mutter täuschen lässt. Sie arbeiten mit perfiden Methoden dort in Südengland.

      Ungnädig spähe ich von der Kuschelecke auf der Ledercouch hinaus in die doch oft so ungerechte Welt. Gabriele hat mir ein federweiches Lager bereitet, damit ich nicht wegen des kalten Leders friere, und mein festes Vorhaben ist es, diese perfekten Umstände maximal zum Essen zu verlassen und höchstens einmal, um einen Bach zu machen. Obwohl mir gerade eben der Gedanke im Kopf herumgeschwirrt ist, dass es Gabriele sicher eine Freude bereiten würde, mich direkt vor Ort zu füttern. Sie liebt es, andere zu bemuttern, und ich tue alles dafür, dass es ihr gut geht.

      Doch all diese wundervollen Pläne stehen mit einem Mal auf der Kippe.

      »Aber diese Woche sollte ich eigentlich frei haben. Das war doch …« Kurze Pause. Mein Teilzeit-Frauchen legt die Stirn in Falten. Von der anderen Seite hört man erneut hektisches Gemurmel. Keine Ahnung, was die Kollegen vom »Garten der Sinne« von meiner Gabriele wollen. Was immer es ist, sie ist fest gebucht für die kommenden Tage, sage ich mir.

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