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was für ein großes Paket sein Freund mit sich herumschleppte. Eine zutiefst traumatisierende Kindheit, bevor er mit seinen Eltern nach Dortmund gezogen war, hätte ihn ohne Weiteres in eine endgültige Einsamkeit werfen können. Zumindest was eine Partnerschaft anging. Aber in Susanne hatte er eine tolle junge Frau gefunden, die ihn genau da annahm, wo er war und wo er herkam.

      Als Raster in seinen Gedanken bei diesem Punkt angekommen war, bemerkte er, dass sich Cousin Gernot aus dem Kreis der Verwandten erhoben hatte und sich suchend umblickte. Sein Blick fiel auf den allein Sitzenden, und schon machte er sich auf den Weg. Auf dem vom Kaffeegeschirr befreiten Tisch standen mittlerweile einige Gläser mit frisch gezapftem Bier. Gernot schnappte sich zwei und setzte sich mit einem schiefen Grinsen neben Raster. »Na, du siehst aus, als könntest du auch eins gebrauchen. Ich bin Gernot. Ein Vetter von Sabine. Und du bist also Raster. Hat Sabine doch noch einen abgekriegt.« Er lachte. »Nichts für ungut. Aber in unserer Familie war man eigentlich davon ausgegangen, dass Sabine für immer und ewig ein Mauerblümchen bleibt.« Gernot hielt Raster seine rechte Hand hin, die dieser etwas widerwillig schüttelte.

      »Hallo, Gernot. Ja, da bin ich wohl für deine Familie zum Blumenpflücker avanciert.«

      Gernot runzelte die Stirn. Man sah ihm deutlich an, dass er keinen Schimmer hatte, wovon Raster sprach. »Was machst du so beruflich?«, fragte er stattdessen.

      »Ich bin in der IT-Branche tätig«, antwortete Raster kurz und musterte Gernot. Sein Kleidungsstil war tatsächlich dem seinen von früher nicht unähnlich. Nicht verdreckt, aber ungebügelt und lodelig, wie Sabine sagen würde. Er war unrasiert und, seinen Haaren zufolge, auch ungeduscht, was Raster an diesem speziellen Tag doch etwas merkwürdig fand. »Und du bist zurzeit in einer Art Selbstfindungsphase?«, fragte er sein Gegenüber.

      Gernots Blick hellte sich auf, und seine Körperspannung nahm deutlich zu. »Ja, kann man so sagen. Ich stehe kurz vor der Selbstständigkeit.«

      »Oh!«, heuchelte Raster Interesse. »Was hast du für Pläne? Erzähl!«

      »Verschiedenes. Insbesondere aber will ich in Immobilien machen. Du musst wissen: Hier, im Norden Dortmunds bis rüber nach Dülmen, wo ich zurzeit wohne, gibt es einen unglaublichen Bedarf an hochwertigen Eigenheimen. Die Gegend ist ungemein beliebt. Du brauchst nur hier und da ein wenig Land von den Bauern abzwacken, und schon kannst du Millionen machen.«

      »Aber braucht man dazu nicht ein gewisses Eigenkapital?«

      »Na ja. Schon. Aber mal unter uns. Sieh dich doch um. Siehst du hier etwas anderes als brach herumliegendes Kapital? Wenn ich daran denke, was dieser Pfarrer und der Bürgermeister vorhin geschwafelt haben. All diese Spenden und Wohltätigkeiten.« Gernot zog das Wort zynisch in die Länge. »Alles Verschwendung, sag ich dir. Richtig investiert, kannst du mit dem Schotter meiner Familie ein Vermögen machen.«

      »Und du meinst, dass du an dieses Vermögen deiner Großmutter einfach so rankommst?«, fragte Raster unschuldig.

      »Vielleicht nicht sofort. Aber über kurz oder lang wird sich da schon was machen lassen.« Gernots Blick wurde misstrauisch. »Du glaubst mir nicht, oder?«

      Raster lachte. »Doch. Wenn du das so sagst, wird es schon stimmen. Aber weißt du, mir ist Geld so dermaßen egal. Ich bin, glaube ich, der falsche Gesprächspartner für dieses Thema. Mach du mal dein Ding. Ach, übrigens, das Abendessen scheint fertig zu sein. Barbara winkt uns rein.«

      Gernot wirkte ein wenig beleidigt, als ihn Raster allein zurückließ, sprang dann aber auf und folgte ihm ins Haus, wo sich die meisten Gäste im Wohnzimmer versammelt hatten und einen Cocktail oder einen Aperitif in der Hand hielten. Mittlerweile hatte sich der Gutsverwalter Fritz dazugesellt, der mit Oma Lina in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Raster beobachtete den alten Mann mit seinem dunklen etwas altmodischen Anzug, den braunen, für den Anlass recht groben Halbschuhen und dem weißen Haarkranz. Auffallend war sein verschmitztes Lachen, das immer wieder aufblitzte, sowie seine schnellen Augenbewegungen. Trotz des intensiven Gesprächs, das er führte, schien er alles um sich herum aufmerksam zu beobachten.

      7. Kapitel

      Münster, Februar 1944

      Er hatte mehrere Möglichkeiten: Entweder er ging nach Hause zu seiner Familie und verschob den Brief auf später oder er verdrückte sich in die Nische einer einsamen Gastwirtschaft, wo er in Ruhe lesen konnte, riskierte damit aber Ärger mit Ruth. Er entschied sich für die zweite Lösung. Noch länger warten konnte er einfach nicht.

      Ein paar Straßen weiter Richtung Südosten kannte er eine kleine Spelunke, die für seine Zwecke gerade richtig war. Sie wurde so gut wie nie von Angehörigen der SS oder der Gauleitung besucht. Außerdem wusste Alfred, dass es dort einen Ecktisch gab, der in genau so einer Nische stand, wie er sich das vorstellte, und die ihn vor neugierigen Blicken schützen würde.

      Der Tisch war frei. Er bestellte ein Bier und während er wartete, wanderten seine Gedanken zurück zu jener Zeit, als William und er ihre Geheimsprache entwickelten.

      Das Ganze hatte mit einem Planspiel angefangen. Sie saßen in York in Williams Lieblingspub, hatten schon so manches Pint geleert und philosophierten über die Weltgeschichte. Hierbei benutzten sie alle möglichen Gegenstände auf ihrem Tisch, um Länder, Armeen und Grenzen darzustellen. Es war ein wüstes Hin- und Hergeschiebe von Gläsern, Salzfässchen, Tellern und Besteck. Immer öfter brachen sie in schallendes Gelächter aus, wenn sich zum Beispiel ein zierlicher Kaffeelöffel namens Belgien gegen den schweren Bierkrug Deutschland auflehnte. Schließlich hielt Alfred inne und wurde ernst.

      »Wie wäre es, wenn wir aus diesem Spiel einen Code entwickeln würden, den nur wir verstehen? Wir sind uns doch beide darüber einig, dass es schon bald wieder Krieg geben wird.«

      William nickte zustimmend. Die wirtschaftliche und politische Situation Ende der 20er-Jahre in Europa, vor allem aber in Deutschland, legte nichts anderes nahe.

      »Wenn das wirklich so sein sollte, wird nämlich ein Kontakt für uns schwierig. Reisen werden unterbunden, selbst Briefeschreiben kann gefährlich werden«, fuhr Alfred fort. William hörte aufmerksam zu. »Wir könnten – ähnlich wie hier unsere Sachen auf dem Tisch – alle wichtigen Länder Europas und der Welt mit unverfänglichen Namen belegen.«

      »Ja. Das ist gut. Und zwar, wenn ich englische Namen schreibe, wenn du deutsche schreibst.« William war Feuer und Flamme. »Nur. Was machen wir mit dem Inhalt? Es darf ja keiner verstehen, was wir eigentlich sagen wollen.«

      »Wir schreiben einfach das Umgekehrte von dem, was wir meinen. Ein Beispiel: Du willst mir schreiben, dass Deutschland Russland angreifen will. Dann könnte das in etwa lauten: August hat sich unsterblich in Lenchen verliebt.«

      »Weil August für Deutschland und Lenchen für Russland steht. Tolle Idee!«, begeisterte sich Alfred.

      Und so ging es noch Stunden weiter, bis sie eine Familie entwickelt hatten, deren Mitglieder für alle entscheidenden Länder standen und jeweils einen deutschen und einen englischen Namen trugen. Außerdem legten sie noch einige Verben und Attribute fest, mit deren Hilfe sie das Gemeinte besser verdeutlichen konnten. Nur das mit der Sinnumkehrung ließen sie wieder unter den Tisch fallen.

      »Ist das aber nicht reichlich unkonkret?«, fragte schließlich William seinen Freund. »Wir können uns so überhaupt nichts Persönliches mitteilen.«

      »Das ist doch gerade das Fantastische«, antwortete Albert. »Der Code ist so ungenau und auch immer wieder anders, dass er nie geknackt werden kann.«

      Vor sechs Jahren hatte der letzte Briefwechsel auf diese Art stattgefunden. Damals hatten sie sich über mögliche Angriffsziele Nazideutschlands ausgetauscht. Es war aber beiden deutlich geworden, dass Alfreds Parteizugehörigkeit bei aller bestehenden Freundschaft doch zwischen ihnen stand. Und jetzt lag ein weiterer dieser Briefe vor ihm auf dem schmierigen Holztisch in der schummrigen Kneipe. Daneben ein Glas lauwarmes Bier. Alfred fischte sich einen Zigarettenstummel aus der Innentasche seiner Uniformjacke, den er sich eigentlich für nach dem Abendessen hatte aufsparen wollen, und zündete ihn an. Dann endlich zog er das Papier aus dem geöffneten Umschlag und begann zu lesen.

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