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      Zwei Stunden später lag Sabine mit geschlossenen Augen in seinem Arm. Die Familie war auf die vielen Zimmer des Hauses verteilt worden.

      »Wie geht es denn morgen weiter?«, fragte Raster träge und zog Sabine ein Stückchen näher zu sich heran.

      »Ach, hast du das gar nicht mitbekommen?«

      Raster schüttelte den Kopf.

      »Wir sparen uns das Frühstück hier und fahren alle zum Brunchen nach Dortmund. Nur Oma bleibt hier. Das hat sie aber schon vor einiger Zeit angekündigt. Ihr wird das doch ein bisschen viel. Danach sitzen wir noch ein wenig im Garten zusammen, und ich weiß von Günter und Frieda, dass die dann nach Hause müssen. Meine Geschwister und wir bleiben noch bis Sonntagmittag. Ist das okay für dich?«

      »Klar«, meinte Raster. »Deine Oma ist echt nett. Also für ’ne Oma.«

      Sabine puffte ihn in die Seite. »Eh. Ich lass nichts auf meine Oma kommen.«

      Zwei Minuten später richtete sich Sabine auf. »Sag mal, komische Sache das mit dem Einbruch. Findest du nicht auch?«

      Doch von Raster kam keine Antwort mehr. Er träumte von einer riesigen Zitronentarte, die ganz Korfu bedeckte. Und er war der König von Korfu.

      Am nächsten Morgen schliefen alle lange. Man traf sich erst um 10 Uhr vor dem Haus. Es war ein herrlicher Sommertag. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, und die Temperaturen hatten angenehme 20 Grad erreicht. Sie verteilten sich auf so wenig Autos wie möglich und winkten Oma Lina zu, die die Gesellschaft von der Haustür aus verabschiedete. Auch Fritz stieg in einen der Wagen. Ursprünglich hatte er ja bei Lina bleiben wollen, die hatte ihn aber so gedrängt mitzufahren, dass er schließlich nachgegeben hatte. So oft kam er nicht in den Genuss eines Essens in der Stadt.

      »Können wir Oma denn so ganz alleine hierlassen?«, fragte Barbara ängstlich ihre Mutter.

      »Ganz alleine ist sie doch nie«, antwortete Frieda. »Da sind die Stallburschen, die Köchin, der Gärtner, und bald kommen schon die ersten Pferdemädchen zum Reiten. Mach dir nicht immer so viel Sorgen. Oma Lina ist schon erwachsen.«

      Sie hatten einen großen Tisch bei Wenkers am Markt reserviert und genossen ausgiebig das reichhaltige Angebot. Es wurden zwei fröhliche Stunden, in denen sich Sabine etwas intensiver mit ihren beiden Brüdern unterhielt, was am Vortag zu kurz gekommen war. Raster plauderte mit Hannas Freund Klaus und musste feststellen, dass Sabine mit ihrer Einschätzung richtig gelegen hatte. Klaus war ihm auf Anhieb sympathisch.

      Als es auf 13 Uhr zuging, klatschte Günter einmal in die Hände. »Leute, wir sollten Lina nicht noch länger warten lassen. Schließlich feiern wir ja ihren Geburtstag. Übrigens hat sie mir aufgetragen, für das hier«, er machte eine umfassende Geste über den abgegessenen Tisch, »vorzustrecken. Sie möchte uns einladen. Auf Lina!«

      Alle, die noch einen Schluck Saft oder Kaffee hatten, hoben die Gläser oder Tassen und prosteten der abwesenden Oma zu.

      Eine halbe Stunde später fuhren die Wagen auf den Kiesplatz. Die Kinder rannten sofort in den Garten, die Erwachsenen folgten etwas langsamer in Grüppchen und in Gespräche vertieft.

      Fritz wollte Lina Bescheid geben, dass sie alle wieder da waren, und rief wiederholt ihren Namen, bekam jedoch keine Antwort. Mittlerweile hatten sich auch andere Familienmitglieder auf die Suche begeben. Die Angestellten im Haus wurden befragt. Keiner hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt.

      Und es blieb dabei: Oma Lina war spurlos verschwunden.

      10. Kapitel

      Münster, Februar 1944

      Wie schon gesagt: Alfred war nicht gerade bekannt für übersprudelnden Ehrgeiz, eine unumstößliche Regimetreue oder auch überhaupt eine starke Motivation, was die Ausübung seines Berufs anging. Aber in Sachen Intelligenz und Vorsorge konnte man ihm nichts vormachen.

      Daher vergingen nur wenige Minuten zwischen dem erschreckenden Erkennen der Dinge, die er dem Brief seines Freundes entnehmen konnte, und dem Beginn diverser Überlegungen.

      Es kam ihm nicht einmal der Gedanke, an dem Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Sein Freund war Engländer, gehörte im weitesten Sinne noch der Armee an und war aufgrund dieser beiden Tatsachen ihm gegenüber deutlich im Vorteil, was Tatsachenbeschaffung anging. Und dass William ihn übers Ohr hauen wollte, war ohnehin völlig undenkbar.

      Welche Optionen hatte Alfred mit seiner Familie?

      Er konnte versuchen, sich mit Ruth und Lina ins Ausland abzusetzen. Das Problem dabei war, dass die Chancen dafür erdenklich schlecht standen. Er müsste sich dazu falsche Papiere für die ganze Familie besorgen, was finanziell und logistisch seine Möglichkeiten sprengte. Und sollte es ihm doch gelingen, und sie würden dann an einer Grenze festgesetzt, drohte zumindest Zuchthaus, wenn nicht sogar mehr. Nein. Das kam nicht infrage.

      Die zweite Option war, sich und seine Familie, so gut es ging, zu schützen, das Ende auszusitzen und sich vorher ein finanzielles Polster für die Zeit danach aufzubauen.

      Nachdenklich kaute Alfred auf dem längst erloschenen Rest seiner Zigarette herum, bestellte gedankenverloren ein weiteres Bier, während langsam ein kühner Plan immer mehr Gestalt annahm.

      11. Kapitel

      Dortmunder Norden, Juli 2019

      Nachdem das gesamte Haus, die Reitställe und der Garten durchsucht worden waren, trafen sich die Geburtstagsgäste im Wohnzimmer. Alle redeten durcheinander. Es wurde wild spekuliert, gerätselt und gefragt. Jeder hatte eine eigene Theorie, wo Lina sein oder was mit ihr passiert sein könnte.

      Obwohl sie nun wirklich nicht die Älteste war, ergriff Sabine wie selbstverständlich das Kommando und verschaffte sich lauthals Gehör. »Leute, hört mal her. Wir sind alle aufgeregt und ratlos, was mit Oma Lina passiert sein könnte. Trotzdem müssen wir jetzt Ruhe bewahren, sonst kommen wir nicht weiter.«

      »Du hast gut reden«, murmelte Gernot kaum hörbar. »Es geht ja schließlich nicht nur um Oma, sondern auch um das ganze Erbe.«

      »Was soll denn diese bescheuerte Aussage?«, zischte Sabine in seine Richtung.

      »Na ja«, antwortete Gernot mit einem trotzigen Unterton in der Stimme, »wenn Oma wegbleibt, ist das doch mit dem Erbe überhaupt nicht geregelt. Und dann?«

      »Halt den Mund, Gernot!«, blaffte sein Vater Günter, und der Angesprochene zog beleidigt einen Schmollmund, verhielt sich aber ab nun ruhig.

      »Wir sollten zunächst alle Angestellten, Reiter und überhaupt alle Menschen, die heute Vormittag auf dem Gut waren, zu uns bitten und befragen. Gleichzeitig könntest du, Raster, die umliegenden Krankenhäuser und Polizeistationen kontaktieren. Danach sehen wir weiter. Sie wird schon wieder auftauchen. Oma Lina verschwindet doch nicht einfach so. Fritz, sag mal, fährt sie eigentlich noch selbst einen Wagen? Ich habe sie das die letzten Male, als ich hier war, gar nicht gefragt.«

      Fritz, der blass in einer Ecke stand und seine Mütze knetete, als könnte die etwas ausspucken, das ihm weiterhelfen würde, schüttelte den Kopf. »Nein. Den Führerschein hat Lina vor Jahren bereits abgegeben.«

      »Okay. Dann organisierst du, dass alle Leute, die hier waren, zu uns kommen. Und du, mein Schatz, hängst dich ans Telefon, ja?«

      Raster nickte und verschwand im Nebenzimmer, um in Ruhe zu telefonieren.

      »Äh, Sabine?« Günter, Frieda, Helga und Barbara näherten sich zögerlich.

      »Ja?«

      »Es tut uns schrecklich leid. Aber wir müssten so langsam aufbrechen.«

      »Aber wir hätten doch auch sonst noch zusammen im Garten gesessen. Ich meine mit Lina«, antwortete Sabine erstaunt.

      »Ja schon«, druckste Günter. »Aber weißt du, diese ganze Aufregung. Das ist nichts für Frieda und Helga. Und ehrlich gesagt, kann Barbara damit auch nicht so gut umgehen. Ihr macht

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