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Sichtung ihres Smartphones ergab: Ihr letztes Gespräch führte sie noch am Morgen mit ihrem Bruder. Es dauerte keine zwei Minuten. Aus den weiteren Anrufen und Nachrichten ließ sich bis zu diesem Zeitpunkt nur erkennen, dass viele Verbindungen ins Ausland führten oder von daher kamen.

      6.

      »Wer sind diese Menschen, die im Haus von Frau Walldorf wohnen?«, wollte Kilian wissen, nachdem die ersten Routinebefragungen, die nach Auffinden der Leiche begonnen hatten, keine Erkenntnisse gebracht hatten.

      »Bin schon dran«, antwortete Cosima mürrisch, als wüsste sie nicht selbst, was in welcher Reihenfolge zu tun ist.

      »Ich will auch wissen, wer da so ein- und ausgeht, und besonders natürlich, wer alles am Todestag sich in diesem Haus aufgehalten hat.«

      Am liebsten hätte sie gesagt: »Darauf wäre ich niemals von allein gekommen. Zum Glück gibt es da aber jemanden, der mir sagt, was ich schon längt weiß.«

      »Ja, Herr Hauptkommissar, wird gemacht«, salutierte sie stattdessen mit übertriebener Befehlsbereitschaft.

      Kilian schaute sie irritiert an. »Ist was?«

      »Nein, ich bin einfach nur dankbar, dass du mir immer genau sagst, wann was zu tun ist.« Sie verband diese Worte allerdings mit einem Lächeln. Eine auflockernde Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass er Ironie genau in diesem Moment nicht verstanden hätte.

      Sie legte sich einen Plan zurecht.

      Erstens: Recherche im Polizeicomputer. Gibt es polizeibekannte Auffälligkeiten, Hinweise und so weiter.

      Zweitens: Externe Recherchen in Zeitungen und Online-Diensten. Vielleicht gab es Berichte über oder Interviews mit einem Hausbewohner und damit erste Anhaltspunkte über Meinungen, Befindlichkeiten, Vorlieben, Affären.

      Drittens: Einzelgespräche mit allen Bewohnern. Sie überlegte, was schlauer war: Sollten die Gespräche in den Wohnungen stattfinden oder im Polizeipräsidium? Für das Polizeipräsidium sprach: Hier lügt es sich schwerer, weil der Ort einschüchtert. Dagegen sprach: In einer Wohnung nähme sie mehr Details auf.

      Sie entschied sich für die Wohnungen, zumal dieser Ort enormes Steigerungspotenzial besaß. Das Polizeipräsidium mit offizieller Ladung käme dramaturgisch an die Reihe, wenn aus einer Befragung eine Vernehmung würde.

      Cosima schaute neugierig auf die Namen, als wären sie Schmuckstücke. Schick, teuer, außergewöhnlich.

      Dr. Max Moritz, Zahnarzt, alleinlebend, 49 Jahre.

      Hans Meiser, ehemaliger Topmanager, jetzt Pensionär, 73 Jahre, mit seiner Frau Klara, 55 Jahre, die sich einen Namen als Charity-Lady gemacht hat.

      Der Diskobesitzer Hans Langbein, 62 Jahre, und seine Freundin Agnes Fiedler, 34 Jahre, die momentan nicht arbeitet.

      Jürgen Wolters, Rechtsanwalt, 48 Jahre, und seine Frau Emma Seewald-Wolters, 51 Jahre, ebenfalls Rechtsanwältin.

      Prof. Dr. Heinrich Zirschke, Theaterwissenschaftler, 60 Jahre, und seine Frau Annette Hahn-Zirschke, 48 Jahre, Inhaberin eines Yoga-Studios.

      Simone Capella, Filmregisseurin, 55 Jahre, alleinlebend.

      Ulli Holdt, Fußballmanager, 44 Jahre, und seine Frau Dr. Agnes Pauli, 44 Jahre, Urologin.

      Noch hatte sie mit niemandem gesprochen, aber ihre Fantasie formte bereits ein konkretes Menschenbild. In dem Haus lebten narzisstische Menschen mit viel Geld, die nicht kapierten, wie das wahre Leben funktioniert. Natürlich wusste sie, dass es Vorurteile waren. Sie hatte in diesem Moment aber keine Lust, ihre Gedanken zu differenzieren. In ihrem Haus lebten Handwerker, Lehrer (auch ihr Freund war Lehrer), eine Richterin für Arbeitsrecht und irgendein Therapeut, keiner wusste so genau wofür, jedenfalls roch es aus seiner Wohnung häufig nach indisch Curry scharf und Meditationsräucherstäben mit holzigem Duft und leicht süßlicher Note. Er war der Haus-Guru, ansonsten waren die Nachbarn recht normale Menschen; normal hatte aus ihrer Sicht ohnehin den unschätzbaren Vorteil, »dass bei uns niemand ermordet wird.« Mitunter liebte sie simple Befunde, auch wenn sie ahnte, dass sie in Wirklichkeit nur Wünsche und Mutmaßungen enthielten. Ansonsten vertraute sie ihrem »gesunden Menschenverstand« in alltäglichen Lebensfragen. Würde es kniffliger, wäre das auch kein Problem. Sie konnte schwierige Zusammenhänge schnell erfassen. Das lag sicherlich daran, dass sie schon als Kind Schach spielte und in Mathematik immer Klassenbeste war. Klar, dass nach ihrem Abitur alle gutgemeinten Ratschläge darauf hinausliefen, sie sollte doch bitte unbedingt Mathematik studieren. Sollte – doch – bitte, diesen Dreiklang aus Verzweiflung, dass sie ihr Talent wegwirft, hat sie nicht mit Trotz ignoriert, sondern mit einem eigenen Berufswunsch konterkariert. Sie ließ sich vom Werdegang einer Bekannten inspirieren, die Polizistin geworden ist.

      Sie suchte Dr. Max Moritz auf. Er hatte den Ruf eines Prominenten-Zahnarztes. Viele reiche Russen ließen sich zu ihm einfliegen. Im Service inbegriffen: Shuttle-Service in einer schwarzen Limousine, Unterbringung im Fünf-Sterne-Hotel und natürlich ein Dolmetscher.

      Er wohnte in der ersten Etage. Der Flur hatte weiße Wände, schwarze Fliesen und Lampen im Art déco-Stil. Vor seiner Wohnung stand eine hellgrüne Bonsaizucht in einem Terrakottagefäß, so schüchtern wie ein Balletttänzer vor seinem ersten Boxtraining.

      Cosima dachte über den Namen ihres Gesprächspartners nach. Wie konnten die Eltern ihr Kind nur Max – bei dem Nachnahmen Moritz – nennen? Wie konnte aus Liebe ein Witz werden? Dachten sie etwa an die Geschichten von Wilhelm Busch über Max und Moritz? Eine Freundin von Cosima wollte ihre Tochter Amelie nennen. Den Namen fand auch sie so richtig süß, aber ein Bekannter, ein Pathologe meinte, dass in der Medizin »Amelie« bedeute, dass Arme und Beine fehlen. Damit war es um diesen Namen geschehen.

      In der Wohnung von Dr. Moritz fielen ihr sofort die Vasen, Kissen und Kerzenständer in unterschiedlichen Größen und Materialien auf. Er verfolgte einen erkennbaren Stil, eben kein geschmackliches Durcheinander. Die Bilder hingen so, dass sie sich nicht gegenseitig die Schau stahlen. Er hatte Sinn für eine klare Struktur und inszenierte die Wohnung ohne jede Überanstrengung für das Auge. Das Ambiente hatte etwas Selbstverständliches, weil der Bewohner sich in dieser Wohnung nicht verlor. Was Cosima sah und verinnerlichte, war nicht ihr Geschmack, aber sie mochte es doch irgendwie. Sie hatte keine Chance, diesen Widerspruch aufzulösen. Vielleicht ging sie innerlich auch nur deshalb auf Distanz, um ihre Ikea-Möbel schönzureden.

      Sie begrüßte ihren Gesprächspartner mit einem kräftigen Händedruck.

      »Schön, Herr Moritz, dass Sie Zeit für mich haben«, sagte sie brav. Denn dass er sich Zeit nehmen musste, war tatsächlich ein Muss.

      »Der Doktor gehört eigentlich zu meinem Namen«, entgegnete er mit einem schmalen Lächeln.

      Sie ließ sich nichts anmerken.

      »Herr Dr. Moritz, Sie wissen, warum ich bei Ihnen bin. Es geht um den Tod von Frau Walldorf. Es ist sehr wichtig, dass Sie alles sagen, was Sie wissen. Wenn Ihnen später etwas einfällt, rufen Sie mich einfach an, okay?«

      »Ja, ja, klar«, nuschelte er hektisch. Er wirkte dabei abwesend. Bilder und Worte flogen durch seinen Kopf wie vernarrte Vögel. Nachbarin / Tod / noch so jung / so schön / wie schrecklich / hoffentlich passiert mir so etwas nicht / hoffentlich ist die Tante von der Polente bald wieder weg.

      Er berührte mit seinen Mittelfingern die linke und rechte Stirn, massierte sie und ging so durch den Raum. Cosima dachte wieder an Wilhelm Busch, und Dr. Moritz regte sich noch immer nicht, als müsste er sein Leben durchdenken oder einen einzigartigen Gedanken aufspüren. Dann kam doch der Moment. Er sagte fast entschuldigend: »Frau Walldorf sah ich kaum. Der Rhythmus unseres Lebens oder unserer Arbeitszeiten war total unterschiedlich. Aber glauben Sie mir, ich hätte mich gerne um Ihre Zähne gekümmert. Sie hätte zu meinem Profil als international angesehener Zahnarzt gepasst. Aber ich glaube, sie war bei einem Kollegen in Monte Carlo. Da wohnte sie zeitweise, oder wo auch immer.«

      Er schaute die Kommissarin an, oder besser gesagt, er taxierte sie von unten nach oben und von oben nach unten. Es schien, als suchte

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