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bin die Schönste im ganzen Land«, sang sie heiter zu ihrem Ebenbild im Spiegel.

      In Augenhöhe des Spiegels stand ein roter Samtplüschhocker wie in einem Hollywood-Filmstudio, als würde sich gerade Cate Blanchett oder Julia Roberts für die nächste Szene die Lippen nachziehen. Aber hier saß nicht Hollywood, sondern das Ruhrgebiet. Auf der schmalen Ablage unter dem Spiegel und dem Beistelltischchen neben der Toilette befanden sich all die Instrumente für die Vollendung ihres Gesichtes. Puderdöschen, Rouge, Pinselset mit breiten und schmalen Bürsten aus Echthaar, sechs Lippenstifte in Kirschrot, Rosé, Beerentönen, Pink und Orange. Lipgloss, Lidschatten mit matten und schimmernden Nuancen, Augenbrauenzupfer, Abdeckcreme, Kajalstifte, Glätteeisen, Lockenmaschine, Wimperntusche, Abdeckfarben, Nagellack, Scheren, Haarbürsten wiederum in Echthaar, Anspitzer für die Kosmetikstifte, Schwämmchen, Seifen, Haargummis in verschiedenen Farben.

      Sie saß mit geradem Rücken auf ihrem Samtplüschhocker und betrachtete ihr Gesicht. Sie versuchte, sich an einem großen Gedanken zu orientieren, um ihren Gefühlen eine Stoßrichtung zu geben. Daraus wurde eine Kette aus Impulsen, Fiktionen und Offenbarungen: Die Menschen mussten sie einfach mögen, dachte sie.

      Sie träumte. Ein Künstler malte ihr ins Gesicht das Bild einer Versonnenen, die Liebreiz und Begierde in verlockender Ausstrahlung auslebte. Er folgte damit all den Fügungen seiner Kreativität, um seinem Schöpfungsauftrag für sie gerecht zu werden. Aufbegehren, Wille, Struktur. Dafür überwand er Grenzen, um seine Idee von einem magischen Gesicht zu einem großartigen Erlebnis werden zu lassen.

      Sie lächelte unterschiedlich in den Spiegel hinein, um zu sehen, welches Lächeln anmutend klar wirkte. Lachen ist das schönste Kompliment an das Leben. Lachen ist wie ein Vulkan, der statt vernichtender Lava eine sinnliche Fröhlichkeit in die Herzen der Menschen fließen lässt. Sie variierte dafür verschiedene Gesichtsausdrücke, bis sie ihre Form mit der passenden Botschaft gefunden hatte: keck, herausfordernd mit gütiger Weiblichkeit.

      Sie war getauft worden. Sie war ein Geschenk Gottes. Sie bedeckte ihr Gesicht behutsam mit ihren Händen, als wollte sie es liebkosen, weil sich ihre Haut über Nase, Ohren und Wangenknochen zu einer idealtypischen Schönheitsfassade spannte. Was die Geburt hervorbrachte und über Kindheit und Pubertät bis heute formte, verbarg sich allerdings hinter einer Maske. Wer darauf schaute, konnte nicht ahnen, was sich dahinter verbarg.

      Ihre Wahrheit.

      10.

      »Okay, kommt mal alle zusammen!« Dabei klatschte Kilian wie ein Trainer in die Hände, als müsste er sein Team anstacheln, alles aus sich herauszuholen. Kraft, Energie und Willensstärke, um den Mörder zu finden.

      »Ich brauche keine Motivation, ich bin motiviert«, bemerkte Miko trocken.

      »Wer ist das nicht?«, fragte Cosima herausfordernd.

      Kilian schaute ernst. »Denkt dran, wir sind die Jäger, der Mörder ist der Gejagte. Er weiß nicht, welchen Vorsprung er hat. Ein Vorsprung, der jede Minute, jede Stunde und jeden Tag weg sein kann, und dann läuft alles auf das Finale zu. Die Angst sitzt ihm im Nacken. Wenn wir wissen, wer dieser Mensch sein könnte, ist, finden wir ihn auch. Dann gibt es kein Entkommen mehr.« Dabei ballte er seine Faust.

      »Bist du unter die Wikinger gegangen?«, warf Miko belustigt ein.

      Kilian verkniff sich einen Kommentar.

      Cosima wollte gerade etwas sagen, bevorzugte aber dann doch einen Schluck aus dem Kaffeebecher.

      Kilian schaute Cosima und Miko an. »Ich komme auf den Brief zurück, der uns zum Opfer geführt hat. Eine erste fototechnische Analyse und die Kameraaufzeichnungen haben ergeben, dass ein Mädchen diesen Brief in unseren Briefkasten geworfen hat. Das heißt wiederum, der Mörder oder – ganz allgemein gesprochen – ein schuldfähiger Erwachsener war es nicht.«

      »Aber das ist ja unglaublich«, ereiferte sich Cosima, »dass eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind zum Komplizen machen.«

      »Moment, nicht so schnell«, grätschte Miko in die steile These seiner Kollegin. »Wir wissen viel zu wenig, um dies oder das zu behaupten.«

      Cosima stöhnte den Einspruch weg.

      Kurzes Schweigen.

      Kilian nippte an seinem Kaffeebecher, schaute in die Runde und animierte: »Lasst doch die Fotos von diesem Mädchen einfach mal auf euch wirken. Schaut euch alles genau an, als müsstet ihr die ›Mona Lisa‹ begutachten. Wie häufig schauen wir zum Beispiel auf ein Urlaubsfoto, aber wir schauen nicht mehr richtig hin, weil Urlaubsfotos immer gleich sind. Also: Pupillen scharf stellen, Gehirn anmachen.«

      Kurzes Schweigen.

      Cosima ergriff das Wort. »Also, das ist ein Mädchen mit weißen Söckchen und schwarzen Lackschuhen. Es trägt einen übergroßen Mantel, der Schal ist so lang, dass sie ihn mehrmals um Hals und Mund gewickelt hat, und sie trägt eine schwarze Kappe mit der Aufschrift ›Be nice‹. Sie sitzt aber so tief im Gesicht, dass man tatsächlich rein gar nichts sieht.«

      »Wenn dieses Mädchen kein Kind ist, sondern ein verkleideter Liliputaner«, fragte Miko unsicher in die Runde.

      »Dagegen spreche doch die foto- und videotechnische Analyse der Körpermaße«, entgegnete Cosima eine Spur zu lehrerhaft.

      »Nee«, erwiderte Miko nunmehr kraftvoll, »die fototechnische Analyse kann nicht zwischen Kind und Liliputaner entscheiden.«

      Cosima runzelte die Stirn. »Doch! Schau auf das gesamte Erscheinungsbild. Es ist völlig klar, dass es sich um ein Kind und nicht um einen kleinwüchsigen Menschen handelt. Schau auf den Gang. So geht doch kein Erwachsener.«

      Kilian zog die Lippen breit, knetete mit den Fingern und ließ die Schneidezähne des Oberkiefers kurz hintereinander mehrmals auf die Schneidezähne des Unterkiefers fallen.

      Seine Sinne, Gefühle und Gedanken haderten mit diesen komischen Aufnahmen von diesem komischen Kind, weil das Gesamtbild absurd wirkte.

      »Das Kind trägt sogar Handschuhe, im Frühling, na klar, damit es keine Fingerabdrücke gibt«, fügte Cosima hinzu.

      »Tja, an alles gedacht«, ergänzte Miko und fasste seinen Eindruck zusammen. »Das Kind, wenn es denn ein Kind war, schaut ständig auf den Boden, selbst, als es den Brief in den Briefkasten wirft. Die Anweisung war wohl: Da hängen Kameras, schau nicht in die Kameras! Das Kind ertastet ziemlich umständlich die Klappe des Briefkastens. Na ja, wie ein Blinder oder so ähnlich. Dann geht das Kind langsam zurück. Sehr langsam. Ich habe noch nie so ein langsames Kind gesehen. Es musste wahrscheinlich so langsam gehen, damit die vermummende Kleidung nicht verrutscht. Es kann natürlich auch sein, dass ein hastiges Weglaufen so aussieht, als hätte man etwas zu verbergen. Ah, das Kind trägt eine rosafarbene Tasche mit der Aufschrift ›Grizzly love‹. Ich weiß von meiner Nichte, dass junge Mädchen total auf diese Tasche stehen. Der Renner sind allerdings die Grizzly-love-Sneakers mit den knallbunten Schnürsenkeln und der gummiartigen Bärenkralle, die so cool locker vom Schuh abfällt.«

      Kilian schaute sich ein weiteres Mal die Video-Aufzeichnungen an.

      Der Gang.

      Die gekrümmte Haltung.

      Der Briefeinwurf.

      Der Rückzug.

      Er sah nichts, was ihn weiterbrachte.

      Er fragte sich, was er übersehen haben könnte. Wie müsste er den Film anschauen, um neue Gesichtspunkte zu erkennen? Er versuchte, seine Sehgewohnheiten auszublenden. »Aber wie blendet man so etwas aus?«, fragte er sich ratlos. »Ich sehe doch, was ich sehe. Mit den gleichen Augen und dem gleichen Sinn und dem gleichen Kopf. Ich schaue ja genau hin, aber bin ich in der Lage, nicht nur das zu sehen, was ich sehe, sondern auch dahinter zu schauen wie bei einem Kinofilm, um den Regisseur zu verstehen, was er sich bei den Szenen und Dialogen, der Hintergrundmusik und der Kameraeinstellung gedacht hat?«

      Kilian verstaute seine Hände in den Hosentaschen und entspannte sich mit Grimassen, verformte seinen Mund zu einem Kuss, zog die Stirn nach oben und wieder nach

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