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      Deine Stirn ist glatt.

      Du bist entspannt.

      Erfasse deinen Geist.

      Spüre deinen Glauben.

      Öffne dich.

      Rosenkränze hingen sanft zwischen den Fingern, als bräuchten die 59 Perlen der Gebetskette mütterliche Fürsorge.

      Andacht und Hingabe verbündeten sich zur Askese. Sprechende, schweigende, singende Gebete – dann wieder eine Stille, die ein Stadtmensch nicht einmal erahnen könnte. Eine Stille, die keine nervöse Ruhe entfachte, weil sich nichts tut, sondern eine heilende Unruhe, weil sie neue Gedanken freisetzte, um das Leben für Gott weiter zu entwickeln.

      Stille.

      Lass dich fallen.

      Und auffangen.

      Der Sinn dieses Raumes hat sich in eine spröde Weltlichkeit verwandelt. Puristischer Schick statt Kerzen und Kreuze. Nichts lag dort herum. Eine Ordnung, die fast schon anstrengend wirkte, weil sie für das Auge nichts hergab. Vielleicht hatte diese aufgeräumte Sturheit auch nur den einen Sinn, ihr aufreibendes und üppiges Leben mit Kargheit und Klarheit einzufangen. Oder es war alles ganz anders. Die Putzfrau fühlte sich wie ein strenger Sheriff für Sauberkeit und Ordnung.

      Verhaftet: Die Blumenvase ohne Blumen.

      Verhaftet: Das Kleid auf dem Stuhl.

      Verhaftet: Einige Bücher auf dem Parkettboden.

      Ein Buch hatte sie vergessen: »Jahrmarkt der Eitelkeiten«.

      Wer eitel ist, sollte seine Eitelkeit verstehen – das feine Gerippe aus Dominanz und Anmaßung, aus Selbstachtung und Lebenslust. Eine Eitelkeit ohne Sendungsbewusstsein ist nutzlos. Sie braucht eine Botschaft, die anmacht, provoziert und lenkt. Eine Nonne darf nicht eitel sein. Das Gebet kennt keine Eitelkeit. Demut als Lebensaufgabe. Gott dienen und preisen. Nur darum geht es im Kloster. Ein Model muss eitel sein, um all den Sehnsüchten ein Bildnis zu geben. Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte. Ein Blick reicht, um die Sprache des Gesichtes zu verstehen. Triumph, Trauer, Offenheit, Stolz, Leidenschaft, Herz oder Herzlosigkeit, Liebe oder Abwehr. Mit dem Gesicht fängt alles an.

      Die Dekokissen auf der schmalen Couch an der Schlafzimmerwand hatten augenscheinlich alle den gleichen Abstand und in der Mitte einen Knick. In dieser adretten Spießigkeit konterkarierten sie den Lebensstil der Bewohnerin, die Weltbürgerin und Zigarillo-Raucherin, die Entfesselte und Mutige, die Spielerin zwischen Hochmut und Gleichmut, zwischen Arroganz und Bescheidenheit.

      Aber es sind ihre Kissen.

      Die Seite mit ihrem Tagebucheintrag von gestern war noch aufgeschlagen.

      »Die Leute verstehen nicht, dass ich doch nur Ich bin, sie glauben, dass ich Wir bin, für alle da, immer nett und offen, aber ich gehöre nur Gott, auch wenn es mir keiner glaubt.«

      Vor den Fenstern ihres Schlafzimmers hingen weiche, fast durchsichtige weiße Vorhänge – zugezogen. Die Sonne offenbarte die feinen Strukturen des Stoffes. Auf der Wand tänzelten einzelne Punkte, Striche, Figuren. Schattenspiele im aufhellenden Hintergrund.

      Eine heitere Frische durchzog die Frühlingsluft. Draußen schallte das Gelächter einer Jugendgruppe ins obere Stockwerk. Es waren Tage, die zur Verwegenheit herausforderten und sich triumphierend über das Notwendige und Angemessene hinwegsetzten. Das Leben erschien in seinen schönsten Farben, als hätte es nie ein Grau gegeben.

      Chira Walldorf lag auf dem Bett.

      Ihre langen Haare fielen nach links und rechts, als müssten sie nach dem Gerechtigkeitsprinzip jede Gesichtshälfte gleichmäßig berücksichtigen.

      Auf ihrem leblosen Körper lag eine Karte.

      ICH HABE MIR DEINE SCHÖNHEIT GELIEHEN.

      DU LEBST WEITER.

      IN EINER ANDEREN WELT.

      DU MUSST DAS VERSTEHEN.

      ICH WEISS, DASS DU JETZT GLÜCKLICH BIST.

      DAS IST MEIN TROST.

      3.

      Auf dem Flur der Mordkommission roch es nach Bohnerwachs. Man hörte das leise Zischen der Röhrenleuchten an der Decke, einige flackerten nur kurz auf. Vor jeder Tür standen vier graue Plastikstühle, darauf Menschen mit abweisenden, gleichgültigen, nervösen oder verweinten Augen. Die Tristesse des Abgrunds – die Schuld – verortete sich genau hier. Was einmal war, Glück, Aufbruch, Leben, verkehrte sich nun in eine bohrende und bedrückende Finsternis. Mord ist schwarz, dunkel, schrecklich. Die Moral hat versagt.

      Wer auf diesem Flur Zeuge oder Beschuldigter war, verriet kein Gesicht. Das Böse ist weder schön noch hässlich, die Spuren liegen allein im Motiv. »Jeder Engel kann zum Teufel werden.« Davon war Kilian Stockberger, der seit zwei Jahren als Kriminalhauptkommissar das Dezernat für Tötungsdelikte leitete, restlos überzeugt. »Das kann ganz schnell gehen. Wenn aus Liebe Hass wird, brennen schon mal die Sicherungen durch.« Für ihn war die Vernehmung eines Beschuldigten »großes Theater«. Dramaturgie, Gefühle, Ergriffenheit, Ausdruck, all das entwickelte sich bis zum Finale – bis zur Aufklärung eines Falles. Darin mischten sich Erfahrung und Routine, aber auch Anspannung und Neugierde. Fest stand allein, dass zwei Menschen aufeinandertrafen, von dem keiner etwas von dem anderen wusste, wie er dachte und sich fühlte, welchen Charakter er verbergen oder zeigen würde. Der erste Akt der Vernehmung: Kilian und der mutmaßliche Täter nahmen sich gegenseitig wahr, sie glucksten, steuerten und bremsten, der Kampf um die Deutungshoheit von Worten und Gesten begann. Welche Rolle nahm Kilian ein, welche der Beschuldigte? War der Vernehmer in der Lage, Emotionen und Geduld zielgenau einzusetzen? Er wusste, dass er sich mit einer »blöden Frage« oder einer Unbeherrschtheit die ganze Vernehmung kaputt machen konnte. Wenn der Beschuldigte bockig war und dichtmachte, war das Spiel erst einmal aus. Der zweite Akt der Vernehmung: Kilian kreiste den mutmaßlichen Täter vorsichtig ein, ließ ihm aber Luft zum Nachdenken. Er stellte analytische, bohrende, feinsinnige, geschickte, raffinierte, spitzfindige Fragen, aber nie Fragen, die den Beschuldigten bloßstellten. Die Kunst bestand für ihn darin, so zu fragen, dass der Beschuldigte sich mehr und mehr öffnete und schließlich alles erzählte. Selbst ausgebuffte Profi-Lügner hatte Kilian mit seiner beharrlich freundlichen Fragerei aus der Reserve gelockt. Außerdem achtete er penibel darauf, Ruhe mit Worten und Gesten auszustrahlen. Denn wer ruhig ist, vermittelt Vertrauen, als spreche der Vater zu seinem Sohn oder der Arzt zu seinem Patienten. Der dritte Akt: Das bedrückende Geheimnis des Beschuldigten fand seinen Weg über Selbstmitleid und Verzweiflung, Hingabe und Offenheit. Dann fiel der Satz, der sich wie erfrischendes Gewitter über den schwülen Tag legte: »Ich war es.« Dafür verteilte Kilian Streicheleinheiten. »Es ist gut, dass Sie sich freigemacht haben, jetzt atmen Sie erst einmal kräftig durch. Wie wäre es mit einem Kaffee oder einer Zigarette?« Er hatte das Geständnis, aber das reichte ihm nicht. Er wollte den Hintergrund des Abgrunds wissen, warum, wieso, allein, wo und wie? Erst wenn er alles wusste, war er seiner Rolle als Vernehmer gerecht geworden.

      Finale.

      Der Vorhang fällt, Applaus.

      Das Licht geht aus,

      die Masken sind gefallen,

      leer die Bühne,

      und all die Müdigkeit wabert durch die Luft.

      Ein anonymer Hinweis brachte ihn und seine Kollegen zum Opfer. Irgendjemand hatte einen Brief in den Briefkasten der Polizei geworfen:

      BITTE KÜMMERN SIE SICH

      UM CHIRA WALLDORF.

      SIE HAT ES VERDIENT.

      Zuerst dachte Kilian, einen Notarzt dorthin zu schicken oder einen psychologischen Dienst. Denn da war ein Mensch in Sorge um einen anderen Menschen. Er fragte sich, was das mit ihm zu tun hatte? »Wir sind für tote Menschen zuständig, die irgendein Mistkerl getötet hat.« Es war ohnehin ein Zufall, dass der Brief auf seinem Schreibtisch landete, weil ihn die Poststelle falsch einsortiert hatte. Er schaute auf den Brief wie auf die Anzeige eines Sportwagens,

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