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Das Schweigen der Aare. André Schmutz
Читать онлайн.Название Das Schweigen der Aare
Год выпуска 0
isbn 9783839267103
Автор произведения André Schmutz
Жанр Триллеры
Издательство Автор
Lisa schöpfte neue Hoffnung.
Kapitel 16
Berner Oberland, Balisalp, 23. November 2019, 08:25
Alva fror. Bitterlich.
Die eisige Kälte hatte ihr den Schlaf geraubt. Kälte war der perfekte Folterknecht. Zuverlässig, hartnäckig, grausam.
Alva zitterte am ganzen Körper. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Die Stiche an Fingern und Zehen waren in einen permanenten dumpfen Schmerz übergegangen. Alva vermutete, dass sie sich in einem Stall irgendwo auf einer Alp in den Bergen befand. Sie schätzte, dass die Fahrt im Kofferraum etwas mehr als eine Stunde gedauert hatte. Vielleicht auch eineinhalb Stunden. Das bedeutete, dass sie sich bereits über sieben Stunden in ihrem ungemütlichen Gefängnis befand.
Gegen Ende war die Fahrt immer kurvenreicher geworden. Die Straße musste stark angestiegen sein, da Alva im Kofferraum schmerzhaft nach unten gerollt war. Plötzlich hatte das Fahrzeug angehalten. Der Fremde hatte sie wortlos, dafür unsanft, aus dem Kofferraum in eine Almhütte, welche wahrscheinlich früher als Heuspeicher gedient hatte, geschleppt.
Alva war noch immer an Händen und Füßen gefesselt. Der Knebel verhinderte nach wie vor sehr wirksam, dass Alva um Hilfe rufen konnte. Lediglich die Augenbinde hatte ihr der Peiniger abgenommen. Mit der Morgendämmerung konnte sich Alva ein klareres Bild ihres Gefängnisses machen. Die Hütte war fensterlos. Sie besaß nur ein großes Tor, welches ursprünglich dazu diente, die großen Heuballen in die Hütte zu transportieren. Der Boden bestand aus festgetretener eiskalter Erde. Alva schätze die Temperatur in ihrem Verlies auf nur knapp über null Grad Celsius. Der Fremde hatte sie zwar mit einer alten fleckigen Matratze und zwei verlausten, stinkenden Wolldecken versorgt. Im Kampf gegen die boshafte allgegenwärtige Kälte hatten sich diese als völlig unzureichend herausgestellt. Ein weiterer Grund, weshalb die Kälte leichtes Spiel mit der bemitleidenswerten Alva hatte, war der Hunger. Alva hatte am vergangenen Abend nur wenig gegessen. Es fiel ihr immer schwerer, an ihrem Vorsatz, »nicht aufgeben und kämpfen«, festzuhalten. Sie spürte, wie die Kälte ihrem Mut den Garaus zu machen drohte.
Dennoch gelang es ihr, sich ein bisschen Hoffnung zuzusprechen. Einerseits wusste sie einiges über den Fremden. Andererseits musste es sich bei ihrem Versteck nicht um einen völlig abgelegenen Ort handeln, da der Entführer mit dem Auto direkt bis zur Hütte gefahren war. Es gab also Hoffnung, dass sich andere Personen in der Nähe befanden. Aufgrund der Fahrzeit vermutete Alva, dass sie sich irgendwo im Berner Oberland befanden. Und schließlich lebte sie, ja, sie war sogar unverletzt. Alva spürte, wie ihr Mut, der eben noch gedroht hatte, einfach aufzugeben, sich anders entschlossen hatte. Er gab ihr neue Energie.
Alva versuchte, trotz der Fesseln aufzustehen. Unmöglich. Auch die Handfesseln ließen keine Bewegungen zu. Es gab keine Möglichkeit, an ihr Handy zu kommen, welches immer noch in ihrer Gesäßtasche steckte. Sie war perfekt verschnürt – das musste man ihrem Entführer lassen.
Als sich ihr kurzer Euphorieanfall in triste Niedergeschlagenheit zu verwandeln begann, wurde das Hüttentor geöffnet. Unter großer Anstrengung schob der Fremde eine komische Apparatur in den Raum. Auch bei Tageslicht war es in der fensterlosen Hütte unangenehm dunkel. Ein Akku-Baustrahler tauchte das Innere auf einen Schlag in gleißendes Licht. Alva erinnerte die Lampe an eine Operationsleuchte beim Zahnarzt. Die Apparatur hingegen glich keinem Zahnarztbohrer. Sie sah aus wie eine altmodische Sägemaschine. Das Sägeblatt war allerdings nicht senkrecht, sondern horizontal montiert. Offensichtlich eine Eigenkonstruktion. Ein Prototyp.
Als sich das Gerät in der Mitte der Hütte befand, schien der Fremde zufrieden zu sein. Er näherte sich Alva und riss sie grob in die Höhe, sodass sie, wenn auch wacklig, auf ihren eigenen Beinen stehen konnte.
Anschließend tastete er sie am ganzen Körper ab. Der naheliegende Gedanke, dass ihr der Entführer Gewalt antun könnte, schoss Alva augenblicklich in den Kopf. Nackte Angst überfiel sie. An der Art und Weise, wie der Fremde sie berührte, merkte Alva, dass ihn keine sexuellen Motive leiteten. Zumindest hoffte sie dies. Als er an ihren Hintern griff, bemerkte sie ein Lächeln auf seinem Gesicht. Alva ergriff Panik. Das Lächeln wurde zu einem Grinsen, als er ihr Handy aus der Gesäßtasche zog und es bei sich einsteckte. Während der ganzen Prozedur hatte er kein Wort von sich gegeben. Überhaupt hatte er sich, seit er Alva vor dem Stufenbau angesprochen hatte, völlig stumm verhalten.
Wozu soll das Ding mit dem Sägeblatt gut sein?, fragte sich Alva. Der Unbekannte schien ihre Gedanken zu erraten. Ein kurzes boshaftes Zucken um seine Mundwinkel ließ Alva erschaudern. Das Rätsel würde sich sehr bald lösen.
Kapitel 17
Bern, Waisenhausplatz, 23. November 2019, 13:35
Obermaier war noch keine zwei Minuten aus seiner Mittagspause zurück, als Lisa und Zigerli bereits in sein Büro platzten. Ein fünfliber-großer Fettfleck zierte auf Brusthöhe das Diensthemd von Obermaier und legte Zeugnis vom gemeinsamen Mittagessen mit Trachsel ab. Die beiden hatten sich wahrscheinlich, wie mindestens zweimal pro Monat, eine Zytglogge-Röschti mit Bauernwurst, Speck und Spiegelei in ihrem Lieblingsrestaurant Anker gegönnt. Für das Vorhaben von Lisa war dies äußerst positiv, weil anzunehmen war, dass Obermaier nach dem feinen Mahl bester Laune sein würde. Tatsächlich begrüßte er die beiden Ermittler überschwänglich.
»Ah, Frau Kollegin Manaresi und der Herr Kollege … ähm …« Den Namen von Zigerli konnte sich Obermaier nie merken. Er interessierte ihn schlicht nicht.
»Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich Obermaier.
»Herr Obermaier, einmal mehr brauchen wir Ihren Rat, das heißt Ihre Unterstützung«, umgarnte Lisa den bayrischen Pfau.
»Na, dann schießen Sie mal los. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Es geht um eine vermisste Person. Genauer gesagt um meine jüngste Schwester Alva. Sie ist seit drei Tagen nicht von einem Besuch bei einer Kollegin zurückgekehrt.« Lisa hatte absichtlich die Abwesenheitsdauer von Alva verlängert, weil sie befürchtete, dass Obermaier ansonsten versuchen würde, auf simples Abwarten zu plädieren. »Kürzlich haben Sie persönlich mit einer sehr erfolgreichen Handyortung einem Bergsteiger in Grindelwald das Leben gerettet. Ich bin immer noch tief beeindruckt, wie Sie dies hingekriegt haben. Könnten Sie netterweise auch eine Ortung von Alvas Handy veranlassen?«
»Nun ja, grundsätzlich liegt dies in meinem Kompetenzbereich. Allerdings scheint mir, dass im vorliegenden Fall keine Bedrohung von Leib und Leben vorliegt. Das wäre eine zwingende Voraussetzung. Jede Handyortung wird nämlich registriert, und im Rahmen von Qualitätskontrollen wird periodisch überprüft, ob die durchgeführten Ortungen auch tatsächlich angebracht waren. Es tut mir leid, aber in Ihrem Fall kann ich leider nicht helfen.«
Lisa hatte damit gerechnet, dass der deutsche Wichtigtuer widerspenstig sein würde. Auf eine Anmachnummer wie vor Kurzem bei Trachsel hatte sie keine Lust. Sie musste Obermaier auf eine andere Art überzeugen. Ihre Antwort hatte sie sich deshalb im Voraus sorgfältig überlegt.
»Herr Obermaier, Sie sind unsere letzte Hoffnung. Wir sind total verzweifelt. Aber ich verstehe Sie. Dienstvorschriften sind Dienstvorschriften. Die muss man penibel einhalten.«
»Da bin ich absolut Ihrer Meinung, junges Fräulein«, betonte Obermaier.
»Sagen die Dienstvorschriften nicht auch, dass während dem Dienst über Mittag kein Alkohol getrunken werden darf? Mir ist vorhin die Quittung des Restaurants Anker von heute Mittag auf Ihrem Pult aufgefallen. Dort werden sechs Halbe Bier ausgewiesen. Das wären drei für Sie und drei für Trachsel.«
»Rechnen kann ich selber! Worauf wollen Sie hinaus, Frau Manaresi?«, fauchte Obermaier. Seine gute Laune hatte sich in Sekundenbruchteilen in Ärger verwandelt. Feindselig blinzelte er Lisa an. Es kostete sie Mühe, weiter die Rolle der gestrengen, pflichtbewussten Polizistin zu spielen.
»Wenn man die Dienstvorschriften beim Essen großzügig auslegen kann, sollte dies beim Handyorten auch möglich sein«, kombinierte Lisa.