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Das Schweigen der Aare. André Schmutz
Читать онлайн.Название Das Schweigen der Aare
Год выпуска 0
isbn 9783839267103
Автор произведения André Schmutz
Жанр Триллеры
Издательство Автор
Da Lisa alleine im Büro war, hatte sich Zigerli in der Zwischenzeit neben sie gesetzt. Er genoss die Situation in vollen Zügen. Mit breiter Brust legte Zeremonienmeister Zigerli Lisa die Analyseergebnisse auf den Schreibtisch. In wenigen Sekunden überflog Lisa den Inhalt des Dokuments. Mit pochendem Herzen landete sie bei den Ergebnissen.
Schlussfolgerungen: Es handelt sich beim Inhalt der Proben AX23pK und BZ45qR mit an 100 Prozent grenzender Sicherheit um ein und dieselbe Süsswasseralge: Hydrurus foetidus. Die ursprüngliche Herkunft der Proben kann ebenfalls als identisch bezeichnet werden: Schwarzwasser, Kanton Bern, Koordinaten: 46° 51′ 47’ N, 7° 21′ 35’ O; CH1903: 593983 / 190217.
Damit war für Lisa klar, dass Siri an praktisch derselben Stelle wie Zigerli im Schwarzwasser gelegen hatte. Aufgrund der Spuren im Fluss war anzunehmen, dass Siri von der Schwarzwasserbrücke heruntergestürzt war. Der Tod von Siri warf immer bedrohlichere Fragen auf. Obwohl sie es noch nicht abschließend beweisen konnte, stand für Lisa fest, dass Siri ermordet worden war. Höchstwahrscheinlich durch einen Sturz von der Schwarzwasserbrücke.
Kapitel 10
Laupen, Wührenweg, drei Tage zuvor, 16. November 2019, 10:00
Die Kaffeetassen stapelten sich im Spülbecken. Als er den kleinen Küchenschrank öffnete, um sich eine saubere Tasse zu schnappen, fluchte er. Der Schrank war leer. Missmutig säuberte er eine Tasse aus der Deponie im Spültrog. Kurz darauf saß er am quadratischen speckigen Küchentisch und grübelte.
Sein rechtes Ohrläppchen, beziehungsweise die Überbleibsel davon, hatte wieder zu jucken begonnen. Bei einem Unfall vor einigen Jahren wurde ihm fast das gesamte rechte Ohr abgetrennt. Bei Nervosität, Angst, Frustsituationen oder auch bei schlechter Laune plagte ihn seither ein starker Juckreiz in seinem Ohrstumpf. Vor einem Jahr hatte er sich dabei dermaßen an seinem verkrüppelten Ohrläppchen zu schaffen gemacht, dass er aufgrund einer nicht zu stillenden Blutung ins Spital eingewiesen werden musste.
»Weshalb konnte diese hochnäsige Italo-Zicke nicht einfach die Ermittlungsergebnisse der Polizei akzeptieren? Die Ermittlungen waren offensichtlich abgeschlossen: Suizid. Perfekt. Er hatte alles meisterhaft inszeniert. Sich minutiös an seinen Plan gehalten. Suizid wie aus dem Lehrbuch, die Polizei hat applaudiert.«
Gestern Abend überfiel ihn plötzlich dieses dumpfe Gefühl. Zweifel.
Hatte er nicht doch vielleicht Spuren hinterlassen? Spuren am Fangnetz bei der Kirchenfeldbrücke? Nein, das war unmöglich. Er machte keine Fehler. Nie. Oder doch?
Kurz nach 21.30 Uhr hatte er den Kampf gegen seine Selbstzweifel verloren. Im strömenden Novemberregen hat er sich aufgemacht. Auf zur Kirchenfeldbrücke. Dort war er auf dieses arrogante Weibsbild gestoßen. Er beobachtete sie, wie sie mitten auf der Brücke mit einer kleinen Taschenlampe die dortigen Fangnetze ausleuchtete. Trotz der Dunkelheit konnte er zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei der Frau um ein Mitglied dieser elenden Manaresi-Sippe handelte. Als die Zicke kurz darauf die Übung abbrach und Richtung Innenstadt davonging, war er ihr gefolgt. So hatte er herausgefunden, dass es sich um Lisa Manaresi handelte und dass sie in einer Studiowohnung im Länggassquartier wohnte. Der Rest war ein Kinderspiel. Dank seinen Beziehungen zu einschlägigen Hackerkreisen wusste er in der Zwischenzeit beinahe mehr über Lisa als ihre Eltern. Die geilste Information lieferte ihm Branko Dangvac. Branko gehörte zum innersten Kreis der kroatischen Dark Cyber Community. Er hatte die IP-Adresse von Lisas iPhone herausgefunden. An die Handynummer von Lisa zu kommen, war noch einfacher gewesen – lächerlich einfach. Mit diesen Informationen konnte er, GPS-gesteuert, zu jeder Zeit wissen, wo sich Lisa aufhielt. Genial.
Deshalb war er ihr auch gefolgt, als sie zum zweiten Mal ans Schwarzwasser ging. Von der Brücke aus hatte er beobachtet, wie sie unten in der Dunkelheit das Gewässer absuchte. Hatte die oberschlaue Möchtegernpolizistin etwas entdeckt?, fragte er sich. Es ärgerte ihn, dass er sich tatsächlich Sorgen machte. Natürlich hat sie nichts gefunden!, versuchte er, sich einzureden. Es blieb ein Zweifel, der ihn wie ein Dornenstachel quälte.
Zum richtigen Zeitpunkt würde diese Tusse ihre Strafe bekommen. Er spürte, wie sich bei dem Gedanken in seinem Schritt etwas regte. Er stand auf, schüttete den kalt gewordenen Kaffee in die Spüle und gönnte sich einen kräftigen Schluck aus der Jack-Daniels-Flasche. Diese stand immer irgendwo in Griffnähe. Zur Feier des Tages.
Der Whiskey brannte ihm in der Kehle, löste aber kurz darauf ein wohliges, wärmendes Gefühl im ganzen Körper aus. Er entspannte sich und begann zu überlegen. Je mehr er nachdachte, desto mehr hellte sich sein Gesicht auf. Er war schon fast wieder in Hochstimmung. Kein Grund zur Beunruhigung. Alles war perfekt.
Fast alles.
Kapitel 11
Bern, Waisenhausplatz, 21. November 2019, 10:15
Lisa saß mit Zigerli im Pausenraum des Dezernats Leib und Leben. Seit ihrem Ermittlungserfolg mit den Algenproben waren sie keinen Schritt weitergekommen. Keinen Millimeter. Es waren seither fast zwei Tage vergangen. Die Gedanken drehten sich bei Lisa im Kreis. Zig Mal war sie mit Zigerli die bisherigen Ereignisse nochmals durchgegangen. Verzweifelt hatten sie versucht, irgendwo einen Hinweis zu finden, der ihnen half, den Ermittlungsfaden wieder aufzunehmen. Der Faden war gerissen. Gerissen und verschwunden. Noch schlimmer, als an die Suizidthese von Trachsel zu glauben, war ein unaufgeklärter Mord. Lisa spürte, wie ihre Unzufriedenheit und Frustration wuchsen; von Stunde zu Stunde. Sie konnte nicht wissen, dass der Faden bald wieder auftauchen würde.
Und mit dem Faden eine Katastrophe. Eine schreckliche Katastrophe.
Kapitel 12
Murten, Hauptgasse, 22. November 2019, 09:10
Alva Manaresi saß in einem behaglichen Café in der Innenstadt von Murten und hoffte, in gemütlicher Kaffeehausatmosphäre leichter Zugang zu Franz Kafkas Die Verwandlung zu finden. Bisher Fehlanzeige. Sie hasste Kafka. Seine grotesken und absurden Erzählungen waren nicht ihr Ding. Überhaupt nicht.
Die jüngste Tochter von Elin und Luca Manaresi unterschied sich grundlegend von ihren älteren Schwestern Lisa und Siri. Alva hatte weder die Schönheit und Ausstrahlung ihrer Mutter Elin noch viel von der Italianità ihres Vaters Luca geerbt. Alva war ein 19-jähriges Mädchen, welches gerne seinen Tagträumen nachhing. Sie war eine Einzelgängerin, im Grunde sehr liebenswürdig, konnte Leute aber gehörig vor den Kopf stoßen, da sie oft einfach drauflos plapperte und erst dann überlegte. Sie hasste Sport, egal in welcher Ausprägung. Dennoch machte Alva einen durchaus sportlichen Eindruck, was ihre Einstellung, keinen Sport zu treiben, weiter bestärkte.
Zurzeit befand sich Alva im Abschlussjahr am Gymnasium Kirchenfeld. Und damit auch bei Kafka und seiner idiotischen Erzählung Die Verwandlung. Es ging dort um den Geschäftsreisenden Gregor Samsa. Dieser war von seiner Arbeit ausgelaugt. Eines Morgens erwachte Samsa aus seinen unruhigen Träumen und machte eine schockierende Feststellung: Geprägt von Leid und Schmerz hatte er die Gestalt eines Käfers angenommen. Die Erzählung drehte sich langfädig und surreal um das Leben dieses doofen Käfers. Zäh.
Das waren zumindest die Einschätzungen aus der Perspektive von Alva Manaresi.
Ein leises Surren ihres Smartphones holte Alva in die viel spannendere Gegenwart zurück.
»Hallo, Sophia. Du bist meine Rettung. Ich werde gerade von einem Käfer zermürbt.«
Sophia, eine Klassenkameradin von Alva, war es gewohnt, dass Alva manchmal komisches Zeug daherredete. Die Geschichte mit dem Käfer hatte sie deshalb nicht groß aufgeschreckt.
»Alva, hast du Lust, heute Abend mit mir zum Stufenbau zur Felsenau-Biernacht zu kommen?«
Der Stufenbau war ein Eventlokal am Stadtrand von Bern und Felsenau der Name einer alteingesessenen Bierbrauerei, unweit des Stufenbaus direkt an der Aare.
»Ich … ich weiß nicht«, stotterte die überrumpelte Alva. Bierfeste standen in Alvas Gunst gleich neben Kafka. Nicht ihr Ding. Sie konnte nicht verstehen, dass sich viele ihrer Freundinnen und