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neue Timex-Uhr zeigte, und Onkel und Tante nicht nur angeblich noch nie zuvor eine Uhr mit Leuchtziffern gesehen hatten, sondern auch noch erzählten, dass ihnen die eigenen Uhren von den Russen weggenommen worden waren.

      »Hab ich extra so gemacht«, hatte Klaus-Dieter dazu erklärt, »du weißt doch, dass Opa Strotzeck was gegen die Russen hat, also muss er meine Geschichte gut finden, ist doch klar!«

      Ganz abgesehen davon, dass Klaus-Dieter in Wirklichkeit gar keine Timex-Uhr hatte, war sich Appaz auch nicht sicher, ob sein Plan wirklich funktionieren würde. Aber vor der nächsten Deutschstunde wünschte er sich, dass auch er etwas geschrieben hätte, was gegen die Russen ging.

      Und dann kam Dr. Strotzeck mit den korrigierten Aufsätzen in den Klassenraum und erklärte mit offenbar echter Enttäuschung: »Was ihr da verbrochen habt, ist durch die Bank Mist. Nur eine einzige Geschichte hat es verdient, dass sie überhaupt vorgelesen wird …«

      Er zog die ersten Seiten von dem Stapel auf seinem Tisch.

      Klaus-Dieter nahm die Fingerkuppen aus dem Mund und flüsterte Appaz zu: »Habe ich dir doch gesagt. Das fand der gut, dass ich die Russen schlecht gemacht habe!«

      Dr. Strotzeck fing an zu lesen.

      Appaz brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es die Sätze waren, die er selber geschrieben hatte.

      »Der Turm ist hoch. Die Leiter ist rot. Ich habe Angst. Der Bademeister beobachtet mich. Ich höre meine Freunde lachen. Ich gucke nicht nach unten. Ich bin alleine. Ich klettere weiter. Ich hasse die rote Leiter …«

      Erst kicherten noch ein paar seiner Mitschüler. Aber als der Ich-Erzähler in Appaz’ Geschichte dann auf dem Zehn-Meter-Brett stand, herrschte atemlose Stille. Und auch als er nicht sprang, sondern über die Leiter wieder nach unten kletterte, lachte niemand.

      »Der Turm ist immer noch hoch«, las Dr. Strotzeck die letzten Sätze. »Die Leiter ist immer noch rot. - Sehr gut, Kurt. Schreib weiter!«

      Dr. Strotzeck gab ihm seinen Aufsatz zurück. Appaz’ Kopf glühte. Nicht nur, dass seine Geschichte wider Erwarten für »sehr gut« befunden worden war, es war auch das erste Mal, dass ein Lehrer am Gottfried-Wilhelm-Gymnasium ihn mit Vornamen angeredet hatte! Und es machte ihm auch kaum etwas aus, dass Nölle in der Pause zischte: »Streber!« Oder dass Klaus-Dieter sich mit seiner Kakaotüte beleidigt in die hinterste Ecke des Pausenhofs verzog und nicht mehr mit ihm reden wollte.

      »Mach dir nichts draus«, sagte Kerschkamp, der wie üblich neben ihm stand. »Die sind nur neidisch. Ich fand deine Geschichte gut. Ich finde nur, du hättest ruhig auch schreiben können, dass da im Nichtschwimmer vom Lister Bad echt fiese Kackwürste rumschwimmen. Das hätte gut gepasst, wenn du das noch geschrieben hättest.«

      Appaz’ Hochstimmung hielt nicht an. Schon am nächsten Tag kassierte er eine Ohrfeige von Biologielehrer Gnuschke, weil er die Rampe zum Fahrradkeller hinuntergefahren war und sein Rad nicht, wie es die Schulordnung verlangte, geschoben hatte. Und damit war alles wieder beim Alten. Jeder Schultag war geprägt von der Angst, irgendetwas falsch zu machen, unbeabsichtigt gegen eines der zahllosen Ordnungsgebote zu verstoßen oder auch nur durch »unpassendes Verhalten« wie zu lautes Lachen, zu schnelles Rennen oder zu freches Gucken die Aufmerksamkeit eines Lehrers auf sich zu ziehen: »Ihr seid nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um etwas für euer zukünftiges Leben zu lernen«, stellte Dr. Siegfried anlässlich der Weihnachtsfeier in der Aula noch einmal unmissverständlich klar. Wobei sie nicht so recht wussten, was genau das nun war, was sie da für ihre Zukunft lernen sollten. Vielleicht hatte Kerschkamp recht, als er morgens in der Straßenbahn zu Appaz sagte: »Die wollen nur, dass wir keine Scheiß-Hippies werden. Davor haben die echt Angst!«

      Zu Hause erzählte Appaz nichts von den diversen Strafmaßnahmen, denen er und die anderen ausgesetzt waren. Unbewusst ging er davon aus, dass seine Eltern, und insbesondere seine Mutter, die Ohrfeigen und Schläge zwar zweifellos empörend finden, es aber gleichzeitig doch niemals wagen würden, sich einzumischen und eine Konfrontation mit den Lehrern zu riskieren. Und irgendwie war sich Appaz auch nicht sicher, ob er nicht manchmal tatsächlich etwas machte, was man nun halt mal nicht tat. Womöglich waren die Lehrer tatsächlich im Recht, wenn sie solches Fehlverhalten mit Strafen belegten - wenn auch die Strafen häufig in keinem Verhältnis zu den Vergehen standen und Appaz sie oft ungerecht fand.

      Aber seine Mutter würde wahrscheinlich nur sagen: »Du musst da durch« und einmal mehr darauf hinweisen, dass es nie gut sei, aufzufallen und »aus der Reihe zu tanzen«. Dieses Grundprinzip hatte sie sich zu eigen gemacht, nachdem sie als ehemalige BDM-Führerin mit aller Konsequenz hatte lernen müssen, dass das, was sie über Jahre für gut und erstrebenswert gehalten hatte, mit einem Male nichtig und falsch gewesen sein sollte.

      Bei Appaz’ Vater war es anders, ihm ging es vor allem darum, gegenüber den Nachbarn und Arbeitskollegen nicht aufzufallen, um bloß beim freitäglichen Kegeln keine hämischen Kommentare zu ernten. Die er im Übrigen selber gelegentlich von sich gab. Appaz sollte sich noch lange daran erinnern, wie seine Eltern ihn eines Nachmittags aufgeregt auf den Balkon riefen, um dann in einträchtigem Entsetzen den ältesten Sohn eines Nachbarn zu beobachten, wie er am Straßenrand mit einem Freund seine BMW Isetta reparierte.

      »Furchtbar«, stellte Appaz’ Vater fest und zündete sich eine neue Lord Extra an, »so läuft man doch nicht rum!«

      »Was muss das vor allem für seine Eltern bedeuten?«, fügte Appaz’ Mutter kopfschüttelnd hinzu und legte schützend den Arm um Appaz. »Guck dir das an, Kurt! Das wird aus jemand, der die Schule nicht zu Ende macht!«

      Der Nachbarssohn hatte tatsächlich die Schule abgebrochen. Und seine Eltern wurden jetzt »nicht mehr fertig« mit ihm, wie Appaz’ Vater erzählte. Nicht nur, dass der Junge eine ausgefranste Jeans und ein bunt bedrucktes Batikhemd trug, sondern er lief auch barfuß und hatte Haare, die ihm weit über den Rücken fielen.

      »Wie ein Mädchen«, sagte Appaz’ Vater. »Schlimm!«

      Später erfuhr Appaz, dass dieser erste Hippie ihrer Siedlung mit dem Freund und der Isetta über Nacht verschwunden war und nie wieder auf tauchte. Von dem Freund - ebenfalls ein Nachbarssohn, aber zumindest mit adrettem Haarschnitt und vernünftigem Schuhwerk - erhielten die Eltern Wochen danach eine Postkarte aus Südfrankreich. Ihr Sohn hatte in Hannover ein Mädchen geschwängert und sich deshalb freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet. Er bat seine Eltern, ihn nicht zu suchen. Von dem Hippie hörte nie wieder jemand ein Wort. Sein kleiner Bruder, der in die Oberstufe des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums ging, brachte sich kurz vor dem Abitur um.

      »Das musste ja so kommen«, war der einzige Kommentar von Appaz’ Vater, der zunehmend Schwierigkeiten hatte mit einer Welt, die offensichtlich alle bislang gültigen Werte und Normen auf den Kopf stellte.

      »Das musste ja so kommen«, war dann auch sein Kommentar, als kurz hintereinander Martin Luther King ermordet und Rudi Dutschke angeschossen wurden. Und auch die Studentenunruhen in Berlin und Paris, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den »Krawallmachern« und die daraus resultierende Verabschiedung der Notstandsgesetze durch Bundeskanzler Kiesinger folgten nach Meinung von Appaz’ Vater nur zwangsläufig einer vorhersehbaren Entwicklung. Worum es eigentlich ging, wurde nicht besprochen, weder zu Hause noch in der Schule, und blieb für Appaz nahezu vollständig im Dunkeln.

      Da sie, wie die meisten von Appaz’ Mitschülern, noch keinen Fernsehapparat hatten, waren die einzigen Informationen, die er aufschnappen konnte, die Fotos und Schlagzeilen aus der Tageszeitung. Und da erschien es ihm allemal interessanter, die Meldungen über die erste Herzverpflanzung des südafrikanischen Arztes Barnard zu verfolgen, und jeden Tag zu zählen, den der Patient überlebte. Diese medizinische Pioniertat begeisterte auch Appaz’ Mutter, sie war vor allem weit weg von jeder Politik, aus der man sich besser raushielt.

      Die Kuba-Krise war ebenso wenig vergessen wie der Einsatz der Rosinenbomber in Berlin, und die Angst vor dem, was die Sowjetunion der freien Welt noch alles antun könnte, reichte vollkommen, um jetzt auch die Warnungen vor allen umstürzlerischen Ideen ernst zu nehmen - der Einmarsch russischer Panzer in Prag bestätigte das erneut, und auch die Fotos der nackten Mitglieder der Kommune

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