Скачать книгу

und grinst still vor sich hin. Kerschkamp platzt fast vor Neugierde. Aber er wird ihm nicht den Gefallen tun und irgendwas erzählen. Noch nicht. Vielleicht später. Wenn sie von diesem idiotischen Klassentreffen zurückkommen, zu dem er eigentlich immer weniger Lust hat.

      Oberstudienrat Löffler unterrichtete sie in Mathe. Da er in der Oberstufe auch als Chemielehrer eingesetzt war, trug er den immer gleichen weißen Kittel, der sich über seinem gewaltigen Bauch spannte und mit jedem Tag bis zum Beginn der nächsten Ferien mehr Säureflecken auf wies. Nach den Ferien erschien Löffler dann in einem neuen Kittel, und Appaz und seine Mitschüler schlossen Wetten ab, wie lange der mittlere Knopf wohl diesmal halten würde. Löffler fuhr einen grauen NSU-Prinz, der stets auf Hochglanz poliert war. Eine Plakette neben dem hinteren Nummerschild wies Löffler als »Kavalier der Straße« aus. Appaz fand es irgendwie ungerecht, dass sein Vater keine solche Plakette an ihrem Käfer hatte.

      Die erste Arbeit, die Appaz bei Löffler schrieb, war auch seine erste Fünf. Klaus-Dieter bekam eine Zwei und bot großzügig an, Appaz beim nächsten Mal abschreiben zu lassen. Was sich aber als schwierig erwies, da Klaus-Dieter Linkshänder war, und Appaz beim besten Willen nichts anderes sehen konnte als seine blutig gebissenen Fingerkuppen. Nach der nächsten Fünf setzte sich Appaz’ Mutter jeden Nachmittag mit ihm an den Schreibtisch, um das große Einmaleins zu pauken. Appaz’ Vater war deutlich irritiert, dass sein Sohn in Mathe versagte, schließlich hatte er selber doch jeden Tag mit endlosen Zahlenkolonnen zu tun und konnte nicht verstehen, wieso Appaz damit irgendwelche Schwierigkeiten haben sollte.

      Dennoch hatte Appaz vor Löffler weniger Angst als vor den meisten anderen Lehrern, tatsächlich war Löffler der Einzige, der sie nicht mit verbaler oder körperlicher Gewalt bedrohte.

      Der Erdkundelehrer schlich sich gern von hinten heran, während sie bemüht waren, in ihrem Diercke-Weltatlas die Bodenschätze in Mitteldeutschland aufzuspüren, und rammte ihnen dann mit einem kurzen Schlag auf den Hinterkopf das Gesicht auf die Tischplatte.

      »Hättest du gerade gesessen, wäre das nicht passiert«, war sein einziger Kommentar, als Kerschkamp sich die blutende Nase hielt. Und natürlich bekam Kerschkamp dann auch noch einen Eintrag ins Klassenbuch, »wegen unachtsamen Umgangs mit Unterrichtsmaterialien«, waren doch die mitteldeutschen Bodenschätze auf Kerschkamps Karte jetzt flächendeckend mit getrocknetem Blut gesprenkelt.

      Tietemann, der Englischlehrer, neigte dazu, wahllos und unerwartet Backpfeifen zu verteilen, wenn sie nicht schnell genug die richtige Vokabel ausspuckten. Im Übrigen hatte er einigen von ihnen gleich in der ersten Stunde neue Namen gegeben, an denen er für die nächsten zwei Jahre unbeirrbar festhielt. Appaz war »Rindvieh«, Kerschkamp »Kamel« und Nurminski »Hornochse«.

      Außerdem gab es noch »Dumpfbacke«,«Blödmann« und »Maulesel«, der »Menschenaffe« war für einen kleinen Dicken reserviert, der mit Nachnamen Nölle hieß. Klaus-Dieter hatte keinen Namen abbekommen und wurde, ebenso wie die anderen Namenlosen, auch gar nicht erst aufgerufen. Es war also besser, ein »Rindvieh« zu sein und damit wenigstens die Chance auf eine richtige Antwort und ein Pluszeichen im Zensurenbuch zu haben. Appaz und Nurminski konkurrierten dabei schon nach kurzer Zeit um die Führungsrolle, beide konnten noch vor den ersten Herbstferien Sätze wie »This is a hat. Is it Jack’s hat?« korrekt mit »Yes, it is« beantworten. Und wenn Appaz abends stolz auf seine neu erworbenen Kenntnisse zu seinen Eltern sagte: »Good night«, antwortete sein Vater kaum weniger stolz mit »Sleep very well in your Bettgestell.«

      Appaz’ Vater nahm Appaz die Fünf in Musik übrigens nicht übel.

      »Ich konnte auch nie singen«, sagte er nur, und damit war der Fall für ihn erledigt. Während diesmal Appaz’ Mutter irritiert war, sie selber sang gerne und viel. Vor allem wenn sie im Herbst nach Baltrum fuhren und lange Strandwanderungen machten, griff sie nach Appaz’ Hand und versuchte ihn jedes Mal zum Mitsingen zu animieren: »Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht…«

      Aber bei Musiklehrer Kunze wurde nicht gesungen, sondern sie mussten der Reihe nach ans Klavier treten und die verschiedenen Handzeichen für die einzelnen Noten vorführen. Oder die Noten zu den Handzeichen benennen. Machte einer von ihnen einen Fehler, zeigte Kunze die Faust mit dem nach unten gestreckten Daumen: »Kennst du dieses Handzeichen? Das heißt, du gehst moralisch zu Boden, mein Junge!« Danach musste der Schüler die Hände ausstrecken und bekam den Taktstock über die offenen Handflächen gezogen.

      Vor allem aber sollten sie alle Blockflöte spielen. Appaz weigerte sich. Er wusste selber nicht, warum oder woher er überhaupt den Mut dazu nahm. Selbst seine Mutter konnte flehen und betteln, Appaz blieb bei seiner einmal getroffenen Entscheidung. Auch die Alternative, die Kunze ihm unerwartet anbot, mit einer »Melodica« am gemeinsamen Blockflötenspiel teilzunehmen, lehnte er rundweg ab.

      Klaus-Dieter und auch Nölle hatten eine solche Melodica, und das Instrument mit seinen klavierähnlichen Tasten erschien Appaz nicht nur äußerst schwierig zu spielen, sondern auch absolut lächerlich. Was vor allem an dem olivgrünen Plastikkasten lag, den Klaus-Dieter in seinem Schulranzen mit sich herumschleppte und der Appaz noch schlimmer vorkam als die schottenkarierten Stoffhüllen für die Blockflöten.

      Damit war allerdings endgültig jede Chance bei Kunze vertan, und für die nächsten zwei Jahre musste Appaz in jeder Musikstunde in der Ecke stehen. »Appaz, du guckst schon wieder frech. In die Ecke!«, war Kunzes regelmäßige Einleitung für diese Strafmaßnahme.

      Mehr als nur einmal musste auch Kerschkamp in die Ecke, der trotz der getönten Brille offenbar ebenfalls etwas in seinem Blick hatte, was Kunze nicht gefiel. Dann grinsten sie sich heimlich zu und schnitten Grimassen, während Kunze seine Noten an die Tafel malte. Nur irgendwelche Liedtexte mit frei erfundenen Reimen zu verballhornen, trauten sie sich bei Kunze nicht.

      Zu Hause kaufte Appaz’ Mutter dem wohl gänzlich unmusikalischen Sohn in ihrer Not eine teure Hohner-Mundharmonika. »Unsere Lieblinge« war auf derbraunroten Pappschachtel zu lesen, links und rechts des Schriftzuges waren in einem Oval die glücklichen Gesichter zweier Frauen zu sehen, die durchaus Ähnlichkeit mit Appaz’ Mutter hatten. Die Rückseite zeigte das Foto eines Mundharmonika-Orchesters. Eine der Mundharmonikas war gut einen Meter lang und auf einem Stativ angebracht, der Spieler bewegte sich freihändig vor der Riesenharmonika hin und her. Auch Appaz’ Mutter hatte früher beim »Bund Deutscher Mädel« Mundharmonika in einem Orchester gespielt. In einem Kriegslazarett, in dem schwer verwundete Wehrmachts-Soldaten für den nächsten Einsatz an der Front zusammengeflickt wurden und ein wenig Freude in all dem Elend bitter nötig hatten, wie Appaz’ Mutter gerne erzählte.

      Seiner Mutter zuliebe versuchte sich Appaz mehrere Nachmittage lang an »Hänschen klein«, bis ihnen beiden klar wurde, dass die Mühe vergeblich war.

      Kaum besser erging es Appaz im Sportunterricht. Zu Beginn war Appaz noch stolz gewesen auf sein neues Turnzeug, blau und mit dem silbern glänzenden Emblem des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums, das seine Mutter ihm sorgfältig aufs Hemd genäht hatte. Aber schon in der ersten Stunde stellte sich heraus, dass die Hosenbeine zu weit geschnitten waren und kaum Halt für die Pennäler-Pimmel boten, so dass bei jeder unachtsamen Bewegung alles zu sehen war. Entgegen der eindeutigen Anweisung von Sportlehrer Zint trugen die meisten von ihnen ihr Turnzeug fortan mit einer Unterhose darunter, nur Klaus-Dieter schien das völlig egal zu sein, er zog seine blaue Turnhose sogar nachmittags zum Spielen an, ohne sich darum zu kümmern, dass sein kleiner Sack deutlich sichtbar aus dem Hosenbein baumelte.

      Die Sportstunden liefen alle nach dem gleichen Schema ab. Zunächst mussten sie zehn Minuten im Kreis hintereinander her durch die Halle rennen, danach wurde Sitzfußball gespielt. Appaz fand Sitzfußball von Anfang an einfach nur albern. Er versuchte, möglichst unauffällig auf der einmal eingenommenen Position zu bleiben und darauf zu warten, dass der Ball zufällig in seine Richtung rollte. Aber Zint erkannte solche »Drückeberger« sofort und benutzte sein Schlüsselbund, um mit einem gezielten Wurf Appaz und andere »Weicheier« zu mehr sportlicher Leistung anzustacheln.

      Der eindeutige Held des Sportlehrers war Buchmann, der begeistert mit seinem Hintern den Hallenboden

Скачать книгу