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Der Schuh. Gabriela Bock
Читать онлайн.Название Der Schuh
Год выпуска 0
isbn 9783947167913
Автор произведения Gabriela Bock
Жанр Триллеры
Издательство Автор
»Der Raum ist voll mit Sachen von Mutti. Interessant ist die Korrespondenz zwischen den beiden. Wusstest du, dass er sie auf niederträchtige Weise verachtet hat, bloß weil sie in russischer Gefangenschaft vergewaltigt worden war? Er ekelte sich vor ihr, und ich bin nur entstanden, weil sie ihm ein Kind versprochen hatte. Begreifst du das? Er hat sie mehrmals verprügelt, einmal brach er ihr sogar den Arm dabei. Emi, weißt du, was das bedeutet? Sie hat ihn nicht verlassen und ist ausgezogen, weil er ihre Sucht nicht mehr bezahlen wollte, so wie er es uns allen weismachte, sondern weil sie Angst vor ihm hatte.«
Es wunderte mich nicht, mein Gespür verließ mich selten. Onkel Ernst-Walter war mir schon immer unheimlich gewesen. Ich wusste, dass zwei Seelen in seiner Brust schlummerten.
»Emi, am besten, du kommst sofort!« Evas Stimme zitterte.
»Bitte Eva, begib dich nicht in Gefahr. Bekommst du denn die Tür des Raumes wieder so zu, ohne dass er es merkt? Ich kann hier leider nicht weg. Du weißt, die Kinder ... und ich bin ohne Auto.«
Eva stöhnte. »Ich werde das Schloss wieder so hinbekommen, sodass es nicht sofort auffällt, und die Briefe werde ich wieder in die Kisten legen, nachdem ich sie in der Bibliothek in Pyrmont fotokopiert habe. In dem Raum sind auch noch verschlossene Koffer und eine Metallbox. Bitte Emi, erzähl deiner Mutter nichts davon. Ich schätze Tante Franziska sehr, aber sie muss es nicht erfahren.«
Um Himmels willen, ich war entsetzt. Eva brauchte mich. Die Sache war spannend und gefährlich und mir waren die Hände gebunden.
Abends fragte ich Henry, ob er eine Frau noch genauso lieben könnte, wenn er wüsste, dass sie mal vergewaltigt worden wäre. Er wüsste nicht, was die Frage sollte, aber warum sollte er eine Frau nicht mehr lieben, bloß weil sie mal das Opfer einer Straftat geworden war? Damit war für ihn die Sache erledigt. Er fragte nicht viel, so war er eben. Wer nicht fragt, bekommt auch keine Antwort, dachte ich.
Am nächsten Tag kam Eva vorbei. Sie hatte die Fotokopien der Briefe bei sich. Kriege hatten dort in dem alten Landhaus stattgefunden, Dramen sich abgespielt. Was hatte ich als Kind davon mitbekommen außer den zahlreichen Selbstmordversuchen meiner Tante? Und Eva, immer dazwischen. Es war schwer zu begreifen, aber es wurde in den Briefen immer wieder erwähnt: Onkel Ernst-Walter war ein brutaler Schläger, der seiner Frau eine Vergangenheit vorwarf, für die sie nichts konnte. In einem der Briefe war auch noch von einem Bruder meines Onkels die Rede, von dessen Existenz weder Eva noch ich vorher etwas gewusst hatten.
»Ich werde mir eine Wohnung in Berlin nehmen und dort Lehramt studieren. Dann bin ich weit genug weg von Papa und seiner Sybille, aber leider auch von Morgenstern und euch«, sagte Eva. Sie fragte Henry, ob der ihr den Umzug machen könnte.
»Du wirst doch wohl nicht ernsthaft nach Berlin ziehen wollen?«, fragte Henry, der die Zwillinge auf dem Arm umhertrug. Aber Eva war es ernst. Henry versprach ihr, sich um Morgenstern zu kümmern. Er, der Pferdenarr. Er wollte sich ohnehin ein Motorrad kaufen, um mobiler zu sein. Sie schraubten die Maschine gerade auf dem Platz zusammen. Ich war zuerst hocherfreut, als ich hörte, dass ich dann ja immer den Bus für mich und die Kinder zur Verfügung hätte. Der Käfer hatte inzwischen ganz den Geist aufgegeben. Meine gute Laune legte sich, als ich mir vorstellte, mit den Kindern und den Hunden im Bus hinter seinem Motorrad her zu fahren oder mit allen zuhause zu sitzen, während er locker mal einfach so durch die Gegend brauste.
Ich stillte gerade ab und um Henry eins auszuwischen, entschied ich mich, gleich morgen zu Eva und Morgenstern zu fahren. Sollte er doch mit den Kindern zu Hause sitzen.
»Das ist ein Deal, ich bin froh, dass du mal hier rauskommst«, meinte Henry.
»Und du lernst gleich Frau von Grosche kennen.«
Eva freute sich.
Kapitel 14
So ganz allein im Bus über die Landstraße knattern, ich genoss es in vollen Zügen. Ich war eine vierundzwanzigjährige Mutter von vier Kindern, die mal eine Auszeit brauchte. Kaum zu fassen, dieses schöne Gefühl von Freiheit. Ich legte die Kassette mit der Musik von Jimi Hendrix ein. ›The wind cries Mary!‹
Im Wald angekommen, ließ ich die Zündung an und die Bustür geöffnet, sodass die Musik nach draußen drang und schmiss mich auf den Boden. Tränen verbanden sich mit dem lockeren Waldboden. Ich schrie ganz leise. Wie gern wäre ich nackt gewesen und mit Henry oder Robert. Oh Gott, ich musste den Gedanken aus meinem Kopf vertreiben. Warum hatte Henry nicht dieselben Wünsche wie ich? Vielleicht sollte ich ihn einfach mal in einen Wald entführen. Kannte er das unbeschreibliche Gefühl, nackt und zu zweit auf einem Waldboden dasselbe zu wollen? Was wusste ich von Henry, was seine Gefühlswelt in der Vergangenheit anbelangte? Eigentlich kannte sich ihn so gut wie gar nicht. Doch war ich mir sicher, dass es noch ganz viel mit Henry zu entdecken gab. Wir hatten ein gemeinsames, spannendes Leben vor uns. Er liebte die Kinder, sodass ich nie vor der Entscheidung stehen müsste: die Kinder oder er. Denn das würde schlecht für ihn ausfallen. Und wenn es mal so kommen würde, dass wir uns nicht mehr liebten? Es machte mir Spaß, solche Gedanken zu haben. Dann würde ich mir Robert fürs Bett nehmen und eine gute Mutter für die Kinder sein. Ich war frei, kein Stück abhängig von Henry. Ich brauchte diese Gedanken, denn Ehe hatte auch etwas Bedrückendes für mich.
Die Auffahrt zum Landhaus. Das erste Tor. Kopfsteinpflaster. Das zweite Tor. Mein Parkplatz, direkt neben dem Holzstall. Ich habe so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort. Überhaupt erinnere ich mich bis heute gern an meine Kindheit. Geborgenheit und Liebe haben diesen Lebensabschnitt geprägt. Dafür bin ich meinen Eltern für immer dankbar. Später wollte ich meinen Kindern diesen Ort genauer zeigen. Irgendwie war es auch mein Haus. Evas Haus. Eva und ich, dachte ich, als ich auf den schwarzen Klingelknopf in der runden Messingscheibe drückte. Frau Müller öffnete. Sie machte immer sonntags hier sauber.
»Emilia du! Mädchen, wie gut du aussiehst als Mutter von drei Kindern. Das sieht man dir wirklich nicht an.«
»Von vier Kindern«, verbesserte ich sie.
»Na ja«, sagte Frau Müller.
Onkel Ernst-Walter und Frau von Grosche gab es als Paar erst seit wenigen Jahren, aber sie traten auf wie ein Ehepaar, das die goldene Hochzeit längst hinter sich hatte. Man sagt ja immer, dass gewisse Eigenschaften mit den Jahren auf den Partner abfärben. Bei meinem Onkel und dieser Sybille von Grosche war es das irritierende Dauerlächeln, was ihrem Auftritt in meinen Augen etwas Groteskes verlieh. Ich stand wie angewurzelt da, als die beiden wie eine Wand auf mich zukamen. Ihr Verhalten hatte Kalkül, das war mir schon klar, und dennoch vergaß ich augenblicklich meine Fragen. Warum er meine Eltern nicht mehr besuchte und anrief und was er denn eigentlich gegen mich hätte.
»Emilchen! Ich darf Sie doch so nennen? Kommen Sie Kindchen, setzen Sie sich doch hier in den Sessel. Abends ist das ja immer Walterchens Sessel, aber wir wollen ja keine strenge Platzordnung. Wie geht es Ihren Kindern?«
Frau von Grosche sprach den ostpreußischen Dialekt, wie ich ihn noch von meiner Oma kannte. Diese Sybille und mein Onkel setzten ihre Freundlichkeit wie scharfe Waffen ein und schafften es, ihr Gegenüber damit in Schach zu halten. Sie sah harmlos und nett aus, als sie mich in den großen, hellen Ohrensessel verfrachtete. Eva lag in einem hellbraunen, hautengen Minikleid ausgestreckt auf dem Sofa. Sie sah so aus, als wollte sie sagen: Das ist meine Wohnung und mein Sofa, und ich war schon da, bevor diese Schabracke in Vaters Leben getreten ist.
»Nimm dir Tee!«, sagte Eva, bevor Sybille von Grosche nur auf die Idee kam. Ich war gut erzogen, stand auf, stellte die zarten Tässchen