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      An diesem Tag war ich einkaufen gegangen. In der Zeit, die sich ›zwischen den Jahren‹ nennt, gab es viele Sonderangebote in den Geschäften und es fiel die Hektik der Vorweihnachtszeit weg. Ich stand in einem Plattenladen mit Kopfhörern auf den Ohren und war gerade vertieft in die Musik von ›Amon Düül‹. Niclas versuchte zu stehen und hielt sich krampfhaft an meinen Beinen fest.

      Er hatte mich wohl schon etwas länger beobachtet, ich bemerkte ihn aber erst jetzt. Henry Wolff, den Sozialarbeiter, den Kollegen von diesem Bernd. Er stand mir direkt gegenüber, auch mit Kopfhörern auf den Ohren. Er starrte auf meine Beine, die wegen der klirrenden Kälte in einer dicken schwarzen Strumpfhose und gefütterten Stiefeln steckten. Den schwarzen Wollrock konnte man unter dem langen schwarzen Pullover nur ahnen. Ich wünschte mir, solche Blicke für immer festhalten zu können.

      Er winkte mir zu, zerzaust wie damals, als er Kaugummi kauend neben Bernd Schuster gestanden hatte, und ich musste innerlich schmunzeln. So eine altrosa Cordhose, wie er sie trug, hatte Mick Jagger auf einem Poster angehabt, das mal vor Jahren an der Wand in meinem Zimmer hing. Wir nahmen zeitgleich die Kopfhörer ab.

      »Hallo, ich bin Henry!«

      »Emi, und das ist Niclas!«

      »Hallo Niclas.«

      Er kniete sich hin. Niclas beachtete ihn aber kaum.

      »Was hast du denn gerade gehört, du warst ja völlig weggetreten.«

      Seine dunklen, samtbraunen Augen. Diese raue Stimme. Der volle Mund.

      »Amon Düül.«

      »Finde ich auch gut.«

      Wir hörten die Platte abwechselnd. Niclas durfte auch mal. Ich nahm ihm schnell die Kopfhörer wieder ab, weil er das Gesicht verzog.

      »Hast du Silvester schon was vor?«, fragte Henry.

      »Nein«, log ich und dachte: Helga und Paul werden es verkraften, wenn ich nicht komme.

      Er schrieb seine Adresse mit Edding auf meinen Arm. Starke, kräftige Hände. Autoschrauberhände. Etwas verarbeitet.

      »Ich werde Niclas mitbringen«, sagte ich.

      »Natürlich, kein Problem. Er wird nicht das einzige Kind sein. Übrigens wohne ich in einer WG.«

      Ein Wunder war passiert. Ich war total aufgeregt und fand, dass ich zu Silvester besonders gut aussehen musste, deshalb kaufte ich mir an demselben Tag noch schnell ein wadenlanges Strickkleid mit ganz großem, halsfernem Rollkragen. Schwarz, aus einer sauteuren Boutique.

      Die WG in Holtensen, einem Ort unweit von Hameln, in der Henry zusammen mit Bernd, einer Frau namens Gabi und einem Pärchen wohnte, war wohl das Kramigste, was ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Unterschiedlich gemusterte Teppiche bedeckten den Boden. Entlang der Wände lagen Matratzen, darauf Decken und Kissen. Aus Schalbrettern gebaute Tische und Regale boten Platz für Bücher, Platten und jede Menge Hausrat. Die Atmosphäre war wirklich gut, in der Luft lag der süßliche Geruch von gutem Gras. Aus den Boxen der Anlage tönte die Musik von Bob Dylan. Meine gute Laune war schlagartig verflogen, als ich die Frau sah, die mit einem kleinen rothaarigen Jungen auf dem Arm neben Henry saß. Das Kind sagte Papa zu ihm. Ich fragte mich, warum er mich überhaupt eingeladen hatte und für welchen Freund ich wohl vorgesehen war. Er war ein Arschloch der besonderen Sorte. Er mit seinen Blicken und das, obwohl er Frau und Kind hatte. So ein blöder Wichser! Auch an diesem Abend sah er mich ständig an. Was dachte er sich eigentlich? Sah er nicht, dass ich Niclas umhertrug? Spielt man mit einer Mutter? Ausgerechnet jetzt musste auch noch dieser blöde Psychologe Bernd Schuster auf mich zukommen. Daher wehte also der Wind. Vielleicht war er es ja, der mich in dieser Silvesternacht abschleppen sollte. Mal was anderes. Eine, die schon mal was aufs Maul bekommen hatte. Das abgelegte Stück von Söhnchen Robert Hagedorn. Bestimmt interessant!

      »Komm, ich glaube, ich muss mal mit dir reden«, sagte Bernd. Wir setzten uns auf eine Matratze. Das heißt, ich krachte mich hin, weil ich stinksauer war.

      »Henrys Sohn heißt Daniel, und Gabi, die sich sehr viel um die beiden kümmert, ist das Beste was Henry passieren konnte.«

      »Wie schön für ihn«, sagte ich und dachte, was quatscht mich dieser Idiot eigentlich zu.

      »Nachdem Daniels Mutter kurz nach der Geburt mit ihrem Tutor durchgebrannt war und Henry mit dem Kind alleine dasaß, war Gabi die erste Hilfe. Verstehst du? Sie sind Freunde. Sie ist übrigens lesbisch. Also überleg dir, an wem du interessiert bist. An ihr oder an ihm.«

      Ich lächelte Bernd an, der lächelte zurück. Vielleicht war er ja gar nicht der Verkehrteste.

      Daniel war ein Jahr älter als Niclas und sagte ›Baby‹ zu ihm. Er war ein süßer kleiner Kerl mit dem Gesicht seines Vaters und den roten Haaren seiner Mutter, die irgendwo in Nepal rumtobte und nur ab und zu mal was von sich hören ließ. Aber nun schon länger nicht mehr. Da erging es ihm immer noch besser als Niclas, dessen Erzeuger vom Erdboden verschluckt blieb. Zum Glück, wie ich inzwischen fand.

      »Sie wollte immer nur diskutieren«, sagte Henry.

      »Was hast du gegen Diskussionen?«, fragte ich.

      »Schade um die Zeit, die kann man auch verficken«, meinte er. Wenn er grinste, sah man seine schiefen Zähne und die Zahnlücke in der Ecke.

      »Stimmt, gute Idee!«, prustete ich los.

      Wir verstanden uns auf Anhieb. Auch gegen Morgen, als der angehende Tag das neue Jahr begrüßte. Unsere Söhne waren uns irgendwann, während der Unterhaltung, auf dem Arm eingeschlafen und wir hatten sie behutsam in Daniels Bett gelegt. Wir lagen längst eng umschlungen auf Henrys Matratze.

      Er war nicht der Leidenschaftlichste. Und mit Sicherheit der größte Egoist, der mir jemals begegnet war. Als ich ihm beichtete, beim Sex gern passiv sein zu dürfen, wusste er damit nichts anzufangen und sagte: »Kommt gar nicht in Frage, beweg deinen Arsch!« Für ihn wäre Sexualität die normalste Sache der Welt und nichts anderes als eine intensive Art des Gesprächs.

      Erst als wir uns zur Seite gedreht hatten, um zu schlafen, sah ich im Kerzenlicht sein Tattoo. Es stellte einen Wolfskopf dar und saß genau an derselben Stelle zwischen den Schulterblättern, wo sich bei mir das Muttermal befand, das er gar nicht bemerkt hatte. Ich streichelte und küsste ihn dort und war beeindruckt von seinen breiten Schultern.

      »So eine blöde Jugendsünde. Wenn es woanders wäre, hätte ich es schon wegmachen lassen«, sagte er.

      »Es stört mich überhaupt nicht«, meinte ich, »im Gegenteil, ich mag es, wenn Menschen sich mit ihrem Körper beschäftigen.«

      Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich musste es ja auch nicht. Ich war verliebt in ihn, nach so kurzer Zeit. Es war, als wäre ein Mensch in mein Leben getreten, den ich schon seit einer Ewigkeit kannte und den ich schon lange vermisst hatte. Wir frühstückten auf dem durchgesessenen Sofa in der Küche der Wohngemeinschaft und passten auf, dass die Kinder keinen Alkohol aus den halbvollen Gläsern tranken, die überall herumstanden. Im Hintergrund sang schon wieder oder immer noch Bob Dylan. Auf den Matratzen lagen Schnapsleichen oder schmusende Pärchen verstreut herum, bloß Gabi räumte laut fluchend auf.

      Als wir auf die Straße traten, flockte Schnee vom Himmel und bedeckte die Silvesterknaller, die ausgebrannt und zahlreich auf der Erde lagen. Mein Käfer sprang mal wieder nicht an, besonders bei Kälte litt er unter dieser Krankheit. Bestimmt hätte Henry ihn zum Laufen bringen können, aber er bestand darauf, Niclas und mich zu fahren. Henrys Mercedesbus war noch geräumiger als der Bus von Helga und Paul und mindestens genauso perfekt ausgebaut. Obwohl er das Kramigste war, was ich…! Aber warum wunderte ich mich, nachdem ich diese WG gesehen hatte.

      Noch an diesem Neujahrstag lernten meine Eltern ihren angehenden Schwiegersohn und ihren neuen Enkel kennen. Zwischen Henry und Konstantin entwickelte sich eine echte Freundschaft. Henry bewies sich als absoluter Praktiker, der die noch anstehenden Renovierungsarbeiten an dem alten Haus in der Fischpfortenstraße innerhalb von drei Monaten erledigte.

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