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der Hamburger die höchsten Einschaltquoten. Nun kommt ihm zugute, dass er von Beginn an täglich lange, authentische Videos von Bord geschickt hat, dass er sich keinem Interview-Wunsch verweigert. Seine Teammanagerin Holly Cova, eine unermüdliche Gute-Laune-Anwältin, die ihr iPhone wegen des enormen Nachfragedrucks nur noch mit einer Powerbank betreibt, mit der sie auch einen Kleinwagen starten könnte, orchestriert den beständig wachsenden Medienrummel von Hamburg aus. Virtuos staffelt sie für ihren Skipper, den jetzt alle sehen wollen, Videokonferenzen mit Sponsoren, Journalisten und Klimaforschern hintereinander weg. Während sich andere in der Endphase der Vendée Globe mehr und mehr abschotten, spricht Boris Herrmann vier Tage vor dem Ziel noch über Zoom mit 7.200 Fans.

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      Einmal wird er gefragt, ob ihn das nicht unnötig Energie koste. »Ich empfinde ja manchmal Einsamkeit«, erklärt er. Da tue es gut, mit anderen zu reden. Im Rennen sammele sich »eine ganze Menge Stress und Druck und innere Not. Und die loszuwerden, da hilft es, in die Kamera zu sprechen. Für mich ist die Kamera wie ein Freund, dem ich was erzähle.« Wenn man das als Pflicht sähe und versuche, immer gut auszusehen, würde er es wohl nicht machen. Aber er habe da eine grundsätzlich andere Haltung. »Ich denke nicht darüber nach, wie ich wahrgenommen werde. Ich erzähle einfach drauflos.«

      Es gibt wenige Solosegler, die das so gut können wie der Deutsche. Alex Thomson zählt dazu, ein geborener Entertainer, auch seine Landsfrau Pip Hare. Die meisten anderen aber wirken weitaus uninspirierter, weniger eloquent, verschlossener – als erfüllten sie lediglich ein Pflicht.

      »Er ist mit sich selbst im Reinen«, beobachtet Sidney Gavignet, ein namhafter Hochseesegler aus Frankreich, dem Land der Segel-Philosophen. Es ist wie ein Ritterschlag. Boris, sagt er bewundernd, spreche »wie ein Prinz des Meeres«.

      Ein Paketangebot der Veranstalter für nahezu unbegrenzte Internet-Nutzung über Satellit kommt ihm dabei zugute. Herrmann ist auf dieser Vendée Globe »always on«. Er hat vor dem Start eine WhatsApp-Gruppe initiiert, in der die 33 Skipper untereinander kommunizieren können. Und er ist im eigenen Umfeld in einer Handvoll weiterer Gruppen aktiv, mit denen er ständig im Austausch steht. Nie hat sich ein Vendée-Skipper so umfassend über die Schulter und in die Seele schauen lassen.

      Die Nähe, die Unmittelbarkeit findet in den Sozialen Medien enorme Verstärkung. Schon vor dem Start war Herrmann der Segler mit den meisten Instagram-, Twitter- und Facebook-Followern in Deutschland. Jetzt, wo er auf dem Meer und allein ist, vervielfacht er durch seine ungeschminkten Videoclips und Audio-Nachrichten die Reichweite noch. Weil daheim Lockdown herrscht, können sich auch segel-unkundige Fans in seine Isolation hineinversetzen. Und jeder, der segelt, bekommt plötzlich Anrufe aus dem Freundeskreis, die sich nur noch um die Vendée Globe drehen. Boris Herrmann wird zum Superstar, zum Sympathieträger.

      BORIS, FLIEG!

      Weil er sich im Rahmen seiner Kampagne auch für den Klimaschutz engagiert und mit seiner Frau Birte ein Schulprojekt entwickelt hat, das während des Rennens mehr als 20.000 Kindern weltweit die Bedeutung der Meere vermittelt, bietet er eine breite Projektionsfläche. Er ist dieser gutaussehende, allürenfreie Typ im rot-weißen Norwegerpulli, der in seinen Videos auch noch nach dem größten Schlamassel irgendwie Zuversicht verbreitet. Getragen von einer Welle der Zuneigung, hat er am Ende doch noch einen Lauf. Er, der Außenseiter, der Skipper mit einem der kleinsten Teams, mit einem knappen, allenfalls mittleren Budget, segelt in die Biskaya und kann das Ding noch gewinnen. Daheim in Hamburg textet Frank Schönfeld, der Segel- und Liedermacher, eigens einen Song um, der zur Hymne wird: Boris, flieg!. Am Abend vor der geplanten Zielankunft verheißt die letzte von wohl hundert Hochrechnungen: Platz eins ist theoretisch möglich, Platz zwei wahrscheinlich.

      »Die letzten Meilen«, sagt Boris Herrmann in einer Sprachnachricht an seine Freunde. »Die Würfel sind gefallen, die Karten liegen auf dem Tisch. Es ist der aufregendste Moment, den ich mir vorstellen konnte, aufregender, als ich mir gewünscht hätte.« Er dämpft die Erwartungen, wohl auch die eigenen. Der fünfte Platz sei immer noch die realistischste Option, sagt er, und dass er hinterher von niemandem die Frage hören wolle, »warum wir nicht gewonnen haben«.

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      28. Januar 2021: Nach dem Schock der Kollision auf eigenem Kiel über die Ziellinie.

      Er prüft mehrfach seine Systeme, sein Radar. Achtet wie schon das gesamte Rennen über peinlich genau darauf, die Lastgrenzen seiner Foils und des Riggs nicht zu überschreiten. Es ist neblig, windig. Die Seaexplorer – Yacht Club de Monaco prescht mit um die 17 Knoten durch die Nacht, als er sich ein letztes Mal kurz in die Koje legt, um fit zu bleiben. Dann kracht er, ohne einen Annäherungsalarm zu hören, in einen baskischen Hochsee-Trawler. Muss mit anhören, wie sich sein Kohlefaser-Rumpf an der stählernen Bordwand des Fischers aufreibt, wie das zerfetzte Vorsegel im Wind knattert, und sieht die Bilder, die ihn fortan begleiten. Szenen wie in einem Horrorfilm für einen, der fünf Stunden entfernt ist von der Erfüllung seines Lebenstraums.

      SELBST DAS TEILT ER NOCH MIT DER WELT

      Sie liegen so eng zusammen bei diesem Rennen – Glück und Unglück, überschäumender Jubel und existenzielle Sorge, Ausgelassenheit und Anspannung, Erfolg und Bruch. Ein Seeheld zu sein, gefeiert, verehrt, oder ein Draufgänger.

      Vielleicht, wer weiß, ist es sogar ganz gut, dass er das Podium verpasst hat. So bleibt noch Luft nach oben. Am Samstagmorgen im Landhaus von Longeville-sur-Mer, mit dem Abstand von zwei Tagen, mag sich der Hamburger noch nicht auf ein Comeback festlegen. Aber so viel zumindest räumt er ein: »Lust hätte ich, glaube ich, schon.«

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      Go for it! Birte Lorenzen-Herrmann hält ihrem Mann die Daumen.

      »ICH HABE KEINE SORGEN, WENN BORIS AUF DEM BOOT IST«

      VON TATJANA POKORNY

      BIRTE LORENZENHERRMANN

      Vor dem Rennen seines Lebens trennen Boris Herrmann und seine Frau 1.150 Kilometer. In Herz und Handeln aber sind sie eins. Birte Lorenzen-Herrmann im Interview.

      Wenn Boris Herrmann am Sonntag, den 8. November 2020 um 13:02 Uhr vor Les Sables-d‘Olonne in die Vendée Globe startet, dann fiebert Ehefrau Birte Lorenzen-Herrmann im 1.150 Kilometer entfernten Hamburg mit. Sie ist mit der gemeinsamen, viereinhalb Monate alten Tochter Marie-Louise entgegen ursprünglicher Planungen aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie daheimgeblieben. Vor allem zum Schutz ihres Mannes, den sie im März in Hamburg geheiratet hat. Beide hatten sich diese Vorstartphase ursprünglich einmal ganz anders vorgestellt, wollten zusammen mit Familie, Freunden und Partnern in Frankreich sein. Doch sind sie wie so viele Menschen längst in der Realität von Covid-19 angekommen – und handeln danach.

      Während sich Boris Herrmann in den letzten Tagen vor dem Start mit Familienhund Lilli in Les Sablesd-’Olonne direkt am Meer in einer kleinen Wohnung mehr als regelkonform isoliert hat, kümmert sich seine 36-jährige Frau um den Nachwuchs. Einst als Mathematik- und Kunstlehrerin tätig, startete sie 2018 in Vollzeit das Programm »My Ocean Challenge«, um Segeln, Wissenschaft und Bildung zu verknüpfen. Momentan in Elternzeit, treibt sie das Programm aus der gemeinsamen Wohnung in der Hamburger HafenCity oder bei den Eltern in Kiel ehrenamtlich voran.

      Gekoppelt an die weltumspannenden Regattaeinsätze von Boris Herrmann und seinem Team Malizia, ist das von Birte Lorenzen-Herrmann initiierte Kinder- und Jugend-Bildungsprogramm eine so intensives wie renommiertes Herzensprojekt des Paares und des Teams Malizia. Ziel des Bildungsprogramms »My Ocean Challenge« ist es, für den Klimawandel und insbesondere den Meeresschutz einzutreten und in diesem Zusammenhang die Bildung und Sensibilisierung von nachfolgenden Generationen zu fördern sowie sie gleichzeitig mit Segelabenteuern zu inspirieren. Ozeanthemen werden weltweit in die Schulen gebracht und ein Bewusstsein für den Klimawandel geschaffen. Das bislang größte aller Abenteuer liegt nun direkt voraus.

       Frau Lorenzen-Herrmann, Ihr Mann startet

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