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nicht einmal zwei Tagen, am 28. Januar, hat er um 11:19 Uhr die Vendée Globe beendet, die härteste Regatta der Welt: einhand, nonstop um die Erde. Es war das Ziel, auf das er viele Jahre hingearbeitet, für das er alles gegeben hat, auch seine letzten Ersparnisse. Ein Jugendtraum, nach 80 Tagen, 14 Stunden, 59 Minuten und 45 Sekunden endlich in Erfüllung gegangen.

      Und viel mehr noch: Hermann hat Segelgeschichte geschrieben.

      Er ist der erste deutsche Teilnehmer des Hochsee-Klassikers, bei dem in der Regel kaum mehr als die Hälfte des Feldes ins Ziel kommt. Gleich bei der Premiere packt er das Finish, kann im Kanal von Les Sables die schwarz-rot-goldene Fahne in den diesigen Januar-Himmel recken.

      Mit Platz 5 im bisher engsten Zielsprint der Vendée Globe zählt der Hamburger jetzt endgültig zu den besten Soloskippern überhaupt. Eine Platzierung, auf die er vor dem Start gehofft, die er aber bis kurz vor Kap Hoorn nie öffentlich kundgetan hatte. Ankommen wolle er, hatte er der Yacht in einem Interview gesagt, das stehe über allem, und dass das Ergebnis »sehr von der Fortüne abhängen wird«.

      NUN IST ES GESCHAFFT

      Boris Herrmann, schon lange zuvor der mit Abstand erfolgreichste deutsche Hochseesegler, hat alle Erwartungen erfüllt und übertroffen. Selbst die Bundeskanzlerin gratuliert ihm zur »fantastischen Leistung«. In Deutschland, lässt Angela Merkel ausrichten, »haben wir mitgefiebert«. Und das ist noch eine Untertreibung; die halbe Nation war wie elektrisiert.

      Noch am selben Tag wird Herrmann von Niels Annen, dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. In Analogie zum »Sommermärchen« während der Fußball-WM 2006 sprechen manche Beobachter vom Wintermärchen, das die Republik in Atem gehalten hat. Tageszeitungen, Wochenmagazine, TV-Nachrichten, Sportsendungen und Talk-Shows werden die Ankunft noch Wochen später wie einen Sieg feiern. Fast 20 Jahre nach dem Triumph von Team Illbruck im Volvo Ocean Race erlebt der Segelsport endlich wieder einen großen, einen Boris-Moment, größer als fast alle bisherigen Erfolge – vielleicht auch deshalb, weil es lange nicht danach aussah, weil diese neunte Vendée Globe den Teilnehmern so viel abverlangte, weil Herrmann lange brauchte, um im Rennen anzukommen und weil die glimpflich verlaufene Kollision mit einem Fischtrawler in der Nacht vor der Zielankunft alles hätte zunichte machen können.

      Die Ambivalenz ist ihm anzumerken an diesem Morgen, als der orangerote Dunst der Rauchtöpfe und der Phosphordampf der Handfackeln von seiner Einfahrt in den Kanal von Les Sables nur noch Erinnerung sind. Zwei Nächte lang hat sein Team ihn gefeiert, auch als er schon im Sitzen eingenickt war und sich wenig später ins Bett verzogen hatte. Die jähe Landung im neuen, alten Leben muss ihm wie ein Film vorkommen, der im schnellen Vorlauf schemenhaft an seinen Augen vorbeizieht. Oder wie eine Vollbremsung.

      BLICK ZURÜCK NACH VORN

      Das Rennen, sein Rennen, ist vorbei. Der Kampf um die bestmögliche Platzierung, die Sorge ums Schiff, das Alleinsein, die Erschöpfung nach dem wochenlangen Schlaf in Halb-Stunden-Einheiten, die Interpretation der meist schwierigen Wetterlagen, die schiere Summe aller Entbehrungen, die kaum jemand ermessen kann – all das liegt jetzt achteraus. Aber natürlich wirkt es nach. Noch ist es nicht sortiert, bewertet, verarbeitet, egalisiert. Es wird dauern, bis Kopf, Körper und Seele die ganzen Strapazen hinter sich lassen.

      »Ein paar Wochen«, glaubt Herrmann. Es gibt ehemalige Teilnehmer, die von Monaten sprechen. Conrad Coleman brauchte vor vier Jahren »mehr als ein halbes Jahr«. Vor Boris Herrmann liegt jetzt ein Neuanfang, ein Zwischendrin. Weniger Adrenalin, kaum Endorphine, keine existenziellen Grenzerfahrungen mehr. Aber auch kein Urlaub, keine Auszeit. Das Ende der Vendée Globe bedeutet für ihn, den Berufsseemann, auch das Ende seiner Heuer, das Auslaufen seiner Sponsorenverträge, die Notwendigkeit, wieder eine Perspektive für sich und seine Mitarbeiter zu entwickeln.

      Die Welt hat ihm zugejubelt, bis vorgestern. Seine Popularität, schon durch den Transatlantiktörn mit Greta Thunberg enorm gestiegen, hat einen neuen Gipfel erreicht; sie wird ihm vieles erleichtern. Er gilt als Vorzeigeathlet in einer medial noch unverbrauchten Sportart: smart, sympathisch, ehrlich, telegen.

      Das sind in diesem Moment jedoch nur Potenziale, Möglichkeiten, Chancen – nicht Gehaltsschecks, mit denen er Rechnungen bezahlen und seine Familie über die Runden bringen kann. Auch das eine Realität, in die Boris Herrmann zurückgekehrt ist.

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      Yes! Deshalb machen wir es …

      Marie Louise, von allen nur Malou genannt, robbt derweil in ihrem rosa Strampler über den kalten Parkettboden. Sie hat unruhig geschlafen und ist früh wach geworden. Herrmanns Frau Birte hat die acht Monte alte Tochter mit nach unten in den Salon des Hauses genommen. Als sie ihren Papa entdeckt, lächelt sie.

      Auch der kann mit der neu gewonnenen Ruhe nicht viel anfangen. Zu viele Gedanken drängen sich nach vorn. Sie haben ihn aus dem Bett getrieben. Allen voran die Bilder von der Kollision. Wie seine Seaexplorer – Yacht Club de Monaco, die er so gut um die Welt gebracht hatte, 90 Seemeilen vor dem Ziel neben dem Stahlrumpf eines baskischen Fischtrawlers hängt, der Bugspriet zertrümmert, das Vorsegel am Fanggeschirr zerrissen, das Steuerbord-Foil angebrochen.

      »Wann immer ich nicht anderweitig abgelenkt bin, frage ich mich, was gewesen wäre, wenn das nicht passiert wäre. Was ein Podiumsplatz bedeutet hätte, der ja absolut drin war«, grübelt der 39-Jährige. »Hab ich mir damit jetzt was verbaut?«

      Und da ist ein weiterer Gedanke: Noch als er unmittelbar nach dem Crash auf dem Vorschiff das in Fetzen hängende Vorsegel barg, bei drei Meter Welle, und den Schaden am Bugspriet klarierte, sei ihm durch den Kopf geschossen: »Das war’s. Das kostet jetzt die kleine finanzielle Reserve, die ich als Startkapital für die nächsten Monate nach dem Rennen beiseite legen wollte.«

      Dann schüttelt er sich, spannt die Schultern, lächelt ein wenig, obwohl es die Bedrückung nicht verschwinden lässt, und guckt aus dem Fenster, als ob da draußen die Zuversicht wohnte, die er jetzt braucht: »Ich weiß noch nicht, wie wir das hinkriegen«, sagt er. »Aber irgendwie wird’s schon weitergehen.«

      Es ist diese Anpassungsfähigkeit, diese Resilienz, das, was er selbst mitunter »meine Sturheit« nennt, die Boris Herrmann über die gesamte Vendée Globe getragen hat. Manchmal war es sogar eher ein Geschlepptwerden, so ungewöhnlich hart, so unnachgiebig war das Rennen.

      Der gebürtige Oldenburger hat das fast von Beginn an so beschrieben, fast ungefiltert. Er hat seine Zweifel und sein Hadern nie für sich behalten, auch nicht die Sorge ums Material.

      Schon in der ersten Nacht nach dem Start, in der ersten Kaltfront der Vendée, auf die noch viele folgen werden, schreibt er von Bord: »Es ist holprig, und ich halte die Geschwindigkeit zur Sicherheit bei 20 Konten. Sehe Thomas (Ruyant) auf LinkedOut, der manchmal 27 Knoten loggt. Das scheint mir nicht durchhaltbar zu sein. Welle von vorn. Fast unmöglich zu tippen.«

      Zwei Tage später, nach der Front, erzählt er in einem Video: »Eine Zeitlang bin ich mit drei Reffs (im Groß) und ohne Vorsegel unterwegs gewesen, in Winden um 40 Knoten. Das ist die Vendée Globe. Die Zweifel haben mich ein wenig aufgefressen. Ich habe gar nicht geschlafen. Ich konnte nicht schlafen.«

      An diesem 11. November meldet Jérémie Beyou, der große Favorit des Rennens, seine Umkehr. Eines der beiden Ruderblätter seiner Charal ist beschädigt, dazu sind Beschläge aus dem Deck gerissen. Unverantwortlich, so weiter zu segeln. Beyou geht auf Kurs Les Sables d’Olonne, lässt reparieren, startet erneut, bleibt fortan aber chancenlos.

      Sein Rückschlag ist ein frühes Fanal für die Schwere dieser Vendée. Und für Herrmann, der vor allem auf Ankommen segelt, eine Warnung: »Bloß kein unüberlegtes Risiko gehen!«

      ALLES ANDERE ALS IDEAL

      Auf Höhe der Kapverden legt sich ein aus der Karibik ostwärts gewanderter Hurrikan den Skippern in die Ideallinie. Schon der zweite Sturm im Nordatlantik. Der Brite Alex Thomson, Herrmanns Freund, segelt in einem kühnen

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