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östlich der Elbe Kolonialland lag, Ostelbien eben. War das Hohenzollernreich evangelisch geprägt, so war die alte Bundesrepublik konfessionell ausgeglichen. Doch da die Stätten deutscher Innerlichkeit – Wittenberg und Naumburg, Eisleben und die Wartburg – aus dem Blickfeld verschwunden waren, prägte das katholische Deutschland den Weststaat stärker als sein evangelisches Element. Es fiel der alten Bundesrepublik folglich auch nicht schwer, sich in die angelsächsische Weltzivilisation einzufügen; denn der Rhein hatte schon immer Teil an der westeuropäischen Entwicklung, an römischem Institutionendenken, an Renaissance, Aufklärung und den Idealen von 1789. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte zu Berlin, Warschau oder Budapest. Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Rußland, nicht nach Westen, ganz anders der Düsseldorfer Jude Heine und der rheinische Katholik Adenauer. Trotz Kant und Humboldt war das Gesicht Preußens gen Osten gewandt, schließlich war Preußen im Siebenjährigen Krieg und in den Befreiungskriegen von Rußland gerettet worden und auch Bismarcks Einigungswerk nur durch den Seitenwechsel Rußlands nach dem Krimkrieg möglich gewesen. Unsere westlichen Nachbarn haben diese Veränderung Deutschlands sehr viel schärfer gesehen als wir selbst. Graf Krockow zitiert in seinem Buch Die Deutschen in ihrem Jahrhundert einen Holländer mit den Worten: »Ihr Deutschen klagt immer darüber, daß 1945 der Osten so weit vorgedrungen ist bis an die Elbe und die Werra. Für uns sieht es anders aus: Die Grenze Westeuropas ist um ein paar hundert Kilometer von Aachen bis Helmstedt nach Osten vorverlegt worden.«22

      Der Fortfall der Provinzen, aus denen die Führungsschichten des Hohenzollernreiches kamen, hatte aber auch eine personale Folge, die zugleich Verlust und Gewinn bedeutete. Diejenigen, die die deutsche Großmachtpolitik getragen und den deutschen Weg zwischen West und Ost verkörpert hatten, waren ihrer materiellen Basis beraubt. Was der Nationalsozialismus begonnen hatte, vollendete seine Niederlage. Zum letzten Male waren die großen preußischen Namen am 20. Juli 1944 in Erscheinung getreten. Im Aufbäumen gegen Hitler verblutete sich der preußischdeutsche Konservativismus. Nach dem Kriege gab es jenes Deutschland nicht mehr, das sich von der politischen Kultur Westeuropas dadurch zu unterscheiden suchte, daß es die »volkhafte Lebensordnung« über den bürgerlichen Staat stellte.23 Eine Neuauflage der Politik der Brockdorff-Rantzau und Schulenburg war weder machtpolitisch noch räumlich, noch geistig möglich.

      Die nachwachsende Generation, in jüngster Zeit abwertend als »Jalta-Generation« tituliert24, wandte sich deshalb entschlossen nach Westen. Die einen suchten der irrationalistischen deutschen Tradition durch die Hinwendung zum linken Hegel und einem »westlich gelegenen Marx« zu entkommen25, die anderen entdeckten in Burke und Tocqueville jenen demokratischen Konservativismus, den Heidegger und Carl Schmitt in Deutschland zuerst verdrängt und schließlich zerstört hatten. Sosehr die 68er-Revolte auch »Linke« und »Rechte« trennen sollte, einig blieben sie sich in der Überzeugung, daß es einen gesonderten deutschen Weg nicht mehr geben konnte. Fast spurlos verschwanden die letzten Vertreter einer nationalen Tradition aus dem literarischen und öffentlichen Leben. Reinhold Schneider, Hans-Joachim Schoeps und Ludwig Dehio wecken heute nur noch vage Erinnerungen an eine kulturelle Traditionslinie zwischen Weimar und Potsdam, die im Niemandsland endete. Allein Gerhard Ritters Versuch, das Recht des von der Exekutive geprägten kontinentalen Machtstaates gegen die von der Legislative beherrschten insularen Mächte England und Amerika zu behaupten, gewann in der »Fischer-Kontroverse« noch einmal eine gewisse Dynamik. Doch obwohl Ritter in der Kriegszieldiskussion eher recht und Fischer eher unrecht hatte, waren es gerade die Ritterschen Grundprinzipien einer machtstaatlichen, vom Westen getrennten preußischdeutschen Tradition, die seinem Standpunkt die Wirkung raubten. Während die »Rechten« das westliche Deutschland konsequent in die transatlantischen Institutionen einfügten, bekämpften die »Linken« diese Institutionalisierung ihrer mentalen Westbindung als Restauration des Kapitalismus. Entlang dieser Scheidelinie verlief auch der 68er-Konflikt. Was für die einen ein Gewinn an Homogenität und Weltoffenheit war, erscheint den anderen als ein Verlust an Urbanität und geistiger Tiefe.

      Karl Heinz Bohrer hat in seinen bitteren Marginalien zum Provinzialismus26 das Versagen der bundesrepublikanischen »classe politique« im Golfkrieg gegeißelt und ihr ihre Flucht aus dem Politischen vorgeworfen. Dabei hat er den Verlust der alten politischen Führungsschichten für die »intellektuelle Begrenzung und die kulturelle Niveaulosigkeit« der neuen kleinbürgerlichen Politikergeneration verantwortlich gemacht, die er in Kohl und Lafontaine repräsentiert sieht. Nicht erst der Betroffenheitskult in der Nachfolge der 68er, sondern bereits das Aufgeben der existentiellen metaphysischen Dimension in den 68er und 70er Jahren habe Deutschland als eine geistige Möglichkeit ausgelöscht. Doch die Bindung an den Westen setze eine eigene akzeptierte Identität voraus, die das Erbe nicht schematisch in rational und irrational unterteile, da ebendiese Selbstverstümmelung der tiefere Grund für den Mangel an Existenzwillen und Handlungsbereitschaft in der alten Bundesrepublik sei.

      Diese Kritik, die jüngst Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« wiederaufgenommen hat27, zielt zugleich auf jene »political correctness», die schon die Frühromantik in den deutschen Sonderweg einbiegen sieht und mit Ernst Jüngers Arbeiter auch seine Marmorklippen verwirft. Die alte Bundesrepublik, so ihre Kritiker, habe ein Milieu hervorgebracht, das »betont kommunikativ, aber evasiv, liebenswürdig, aber ängstlich, programmatisch-ideologisch, aber undeutlich und unkonkret« sei.28 »Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.«29 Diesen nicht unberechtigten Einwänden gegen unsere »alltägliche Vernünftigkeit« kann man nur mit einem Rückgriff auf Edmund Burke begegnen, der das »bundesrepublikanische Sittengesetz« bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Extremismus der Französischen Revolution formuliert hat: »Alle Regungen, ja alle menschlichen Freuden und Genüsse, jede Tugend und jede kluge Handlung ist auf einen Kompromiß, eine Balance, gegründet, wir wägen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, wir nehmen und geben, wir nehmen einige Rechte nicht in Anspruch, damit wir uns anderer erfreuen können, und wir wollen lieber glückliche Bürger als spitzfindige Disputanten sein.«30 Nachdem die Deutschen lernen mußten, daß die Freund-Feind-Unterscheidung Schmittscher Observanz zur Krisenbewältigung nicht geeignet ist, entschieden sie sich für die Konsenssuche als ein Gegenmodell. Nicht Ausgrenzung, sondern Einhegung wurde die Zauberformel der alten Bundesrepublik. Es war der Abschied von dem tragischen Versuch, »mit welch geistigen und moralischen Mitteln auch immer – uns selbst als besondere Kategorie, die Metaphysik des Ichs gegen eine internationale Regel ins Feld zu führen».31

      Kurzschlüsse, die in Verurteilungen münden, sind immer gefährlich – dennoch gab es natürlich eine Verbindungslinie von Fichtes nationaler Metaphysik über die Verwerfung der Modernität und der rationalistischen Tradition durch den »Rembrandt-Deutschen« hin zu »Bruder Hitler». Diese Verbindungslinie, die das Scheitern des deutschen Weges nach Europa symbolisiert und an deren Ende die Ersetzung des »Ich« durch das »Es« in der Heideggerschen Philosophie stand, brach 1945 ab. Daß dabei auch kulturelle Verluste zu beklagen sind, steht außer Frage. Doch die Gewinne überwiegen. Zum ersten Mal ist die parlamentarische Demokratie westeuropäischer Prägung fest in Deutschland verankert. Zum ersten Mal ist es den Deutschen gelungen, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, deren Fehlen die Republik von Weimar zerstört hat, zum ersten Mal hat sich in Deutschland eine zivile bürgerliche Gesellschaft gebildet, hat Deutschland Abschied genommen vom lutherischen Gemeinschaftsideal. Das erste Mal haben die Deutschen ein gesellschaftliches Mindestmaß an Toleranz ausgebildet, zum ersten Mal hat auch eine politische Klasse in Deutschland pragmatischen Realismus als Tugend begriffen. Die Staatsräson der Bundesrepublik stützt sich nicht wie die des Kaiserreiches auf zwei Augen, deren Erlöschen den Staat zum Schiff ohne Steuermann werden ließ.

      Vor diesem Hintergrund ist die Welt, in der wir noch leben, leicht zu skizzieren. Die Bundesrepublik ist eine demokratische Industriegesellschaft, deren Klassenstruktur weit schwächer ausgebildet ist als die der klassischen Demokratien. Dies bedeutete von Anfang an die Suche nach dem Kompromiß als einer Strategie zur zivilisierten Beilegung von Konflikten, wenn nicht gar zu ihrer Vermeidung. Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft sind Stabilität und Konsens. Schon am Beginn der zweiten deutschen Demokratie

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